Tichys Einblick
VERFALL EINER HAUPTSTADT

Wird Berlin zum neuen alten Moskau?

Verfallende Infrastruktur, mürrische Beamte, Schulen, in denen Kinder nichts lernen. Russen, die nach Berlin kommen, fühlen sich an das Moskau vergangener Tage erinnert. Die Politik kümmert sich um Unisex-Toiletten und spricht vom „besten Deutschland aller Zeiten“. Bericht eines Rückkehrers.

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Wenn man früher nach Moskau flog, fühlte man sich nach der Ankunft in die Vergangenheit versetzt. Heruntergekommene Flughäfen, Warteschlangen an der Passkontrolle, mürrische Beamte, Verzögerungen bei der Gepäckausgabe, holprige Straßen, Probleme beim Telefonieren, beim Zugfahren, schlechter Service. Heute ist es umgekehrt. Jetzt fühlt man sich nach der Ankunft in Berlin so wie seinerzeit in Moskau.

Die russische Hauptstadt boomt. Sie hat jetzt vier Flughäfen, gepflegt und hochmodern. Sie werden rasant erweitert. Abfertigung und Gepäckausgabe gehen schnell. Selbst die Grenzbeamten lächeln oft. Der neueste Airport, Schukowski, entstand aus einem alten Militärflughafen – nach zwei Jahren (Um-)Bau. Die drei großen Flughäfen sind mit Expresszügen ohne Umsteigen und günstig mit dem Stadtzentrum verbunden. Russische Züge sind meistens pünktlich. Das Internet ist schnell und überall verfügbar. Die Metro fährt zur Stoßzeit fast im Minutentakt, Ausfälle oder Sperrungen sind so gut wie unbekannt. In den vergangenen zehn Jahren wurden 50 neue Metro-Stationen eröffnet und ein neuer Eisenbahnring.

Der Service in Cafés, Restaurants, Hotels und Läden ist meistens freundlich. Viele Dienstleister, von Fitnessklubs über Friseure bis hin zu Schönheitssalons, haben rund um die Uhr geöffnet. Bargeldloses Bezahlen ist Standard. Die Innenstadt lädt zum Flanieren ein, mit schicken Fußgängerzonen und Straßencafés. Auch nach Mitternacht hat kaum jemand Angst, wenn er allein unterwegs ist, selbst in der U-Bahn.

Im privaten Gespräch sagen die meisten Russen offen ihre Meinung. Sie neigen bei Meinungsverschiedenheiten zur Toleranz. Als ich in einem Restaurant mit einer glühenden Putin-Verehrerin aus dem Staatsapparat essen war und ein bekannter Kreml-Kritiker anrief, weil auch er mich treffen wollte, meinten beide spontan, wir könnten doch zu dritt zusammensitzen. Das taten wir bis zum Morgengrauen. Wir sprachen auch über Politik. Friedlich, entspannt, mit viel Lachen.

Was für ein Kontrast zu Berlin. Seit ich 2012 nach 16 Jahren in Moskau an die Spree zog, sehne ich mich zurück. Manchmal nur, aber immer öfter. Klar, die negativen Seiten vergisst man mit den Jahren. Und nein, Wladimir Putins autokratisches System ist keine Alternative. Im Gegenteil. Moskau ist eine gigantische Potemkin’sche Fassade.

Nur wer genügend Geld hat, kann die Vorzüge genießen. Eine Kleptokraten-Clique aus KGB-Leuten hat im Schulterschluss mit der Mafia den Staat gekidnappt, beutet Land und Leute aus, lenkt die Milliarden in den Westen – und schürt Kriegsängste, um davon abzulenken. Die Provinz verfällt. Regimegegner kommen ums Leben oder werden eingesperrt. Die Liste der Probleme ließe sich fast endlos fortsetzen. Die Menschen stimmen mit den Füßen ab: Anderthalb bis zwei Millionen kehrten seit Putins Amtsantritt ihrer Heimat schon den Rücken.

Doch so gefährlich es ist, Putins Mafia/KGB-Regime zu verharmlosen, so unzulässig wäre es, über die Missstände bei uns zu schweigen. Berlin ist dabei, Moskau zu werden. Das alte Moskau. In vielerlei Hinsicht. Die Rückkehr von der Moskwa an die Spree ist ein kleiner Kulturschock. Der Flughafen Tegel wirkt wie ein real existierendes 70er-Jahre-Museum. Die Gepäckausgabe kann länger dauern als ein Inlandsflug. Auch Gangways und Zubringerbusse lassen oft auf sich warten. Selbst Stewardessen aus der leidgeplagten Ukraine reißt der Geduldsfaden, wenn ihr Flugzeug ewig nicht abgefertigt und das Gepäck nicht verladen wird: „Das ist Berlin, da wundert einen nichts mehr!“ Viele Berliner selbst legen indes eine gleichmütige Leidensfähigkeit an den Tag, die ich früher nur aus Moskau kannte. Wie dort werden im Zweifelsfall eher diejenigen angeschnauzt, die auf Missstände hinweisen, als diejenigen, die sie zu verantworten haben.

Höchststrafe Pensionierung

Noch perfekter ist das Moskau-Gefühl am Flughafen Schönefeld. Der DDR-Veteran der sozialistischen Luftfahrt hat den Charme eines Busbahnhofs an der Moskauer Peripherie. Als ich vor einiger Zeit spätnachts aus Bukarest kommend in Schönefeld landete, fühlte ich mich, als hätte ich die zivilisierte Welt verlassen. Nur zwei Grenzpolizisten, muffig und langsam, als hätten sie seit Monaten keinen Sold erhalten. Draußen weder Busse noch Taxis. Als endlich ein Bus vorfuhr, war der so überfüllt wie die Moskauer Metro zur Rushhour. Nur dass es dort kein Handgemenge um die letzten Plätze gibt.

Abhilfe soll kommen. Seit zwölf Jahren wird daran gearbeitet. Am neuen Hauptstadtflughafen „Willy Brandt“. Vielleicht wird der BER 2020 eröffnet, vielleicht auch nicht. Der Bau der sogenannten „Kanzler-U-Bahn“ zwischen Alexanderplatz und Kanzleramt begann 1995. Die erste Stufe mit drei Stationen wurde statt wie geplant 2006 zur Fußball-WM schließlich 2009 fertiggestellt. Die vier weiteren Stationen sollen bis Ende 2020 folgen. So langsam bauten nicht mal die Sowjets. In Moskau würden die Verantwortlichen für solche Desaster zur Verantwortung gezogen, damals wie heute. In Berlin droht ihnen im schlimmsten Fall die Pensionierung – mit stattlichen Bezügen.

Nicht so gut versorgt wird man vom Staat dagegen als Normalbürger. Wer
einen Umzug zu melden hat oder neue Papiere braucht, muss meist wochenlang auf einen Termin warten. Es gibt inzwischen sogar einen Schwarzhandel für solche Termine. Fühlt sich ein bisschen an wie Moskau früher. Doch nicht ganz. Die Strenge der russischen Gesetze wird dadurch kompensiert, dass man sich nicht an sie halten muss, besagt eine alte Redensart. Unter Putin mussten sich Ausländer nach jeder Einreise wieder umständlich registrieren lassen. Ich habe das nie gemacht. Und hatte nie ein Problem. In Berlin versucht ein Freund von mir seit fast einem Jahr verzweifelt, eine Alkohollizenz für sein Café zu erhalten. Vergeblich. „Ich komme mir vor wie in Moskau“, sagt er.

Willkommen im Sozialismus

Mein Kollege Kostja übersiedelt gerade mit seiner Familie aus Moskau nach Berlin. Ich bin jetzt sein Rundumbetreuer im Behörden- und Alltagswahnsinn. Einer der Gründe, warum Kostja nach Deutschland wollte, war das Bildungssystem. Er wusste nicht, dass 75 Prozent der 24 000 Berliner Drittklässler nicht mal den Regelstandard bei der Rechtschreibung schaffen und die Hälfte sogar an den Mindestanforderungen scheitert. Als ich Kostja erzählte, dass selbst Schuldirektoren Eltern diskret zu Privatschulen raten, wenn sie es sich leisten können, war er bitter enttäuscht: „Wie zu Hause“, meinte er. Auch in Moskau gab und gibt es Schulen für Gleiche – und Gleichere.

Kostja schwärmte in Moskau von der „deutschen Ordnung“. Jetzt liest er Schlagzeilen wie diese: „SOS Paketdienst: DHL Express stoppt Zustellung in Gewalt-Kieze.“ Oder diese Warnung eines Oberstaatsanwalts: „Der Rechtsstaat ist nicht mehr funktionsfähig!“ Wenn Russen so etwas lesen, müssen sie an die wilden 1990er-Jahre zu Hause denken, als ihre staatliche Ordnung und ihre Gesellschaft aus den Fugen gerieten, Chaos und Anarchie Regeln und Gesetze ersetzten. Die Nerven lagen blank, der Umgangston war sehr rau, Gewalt Alltag. Zivilisationsverlust, diagnostizierten Soziologen.

So weit ist es noch nicht in Berlin. Aber wer so einen Zusammenbruch einmal erlebt hat, hat einen Seismografen für schleichende Anfänge. Etwa wenn Polizei und Justiz Gewalttäter und kriminelle Clans allzu zaghaft anfassen. Oder wenn allein 2017 mehr als 55 000 Ermittlungsverfahren im Landeskriminalamt liegen blieben. Oder wenn nach der filmreifen Knastflucht von mehreren Gewalttätern 2017 die Polizei keine Fahndungsfotos veröffentlicht – um die Persönlichkeitsrechte der Täter zu schützen. Russische Freunde hielten das zuerst für einen Witz. Ebenso wie die Debatten um Frauenpissoirs oder die Forderung der Jusos nach Unisex-Duschen in Schwimmbädern.

Erinnerung an die „silberne Ära“

Geschichtsbeflissene Russen sehen Parallelen zur „silbernen Ära“ in ihrem Land um das Jahr 1900. Sie galt als Zeit kultureller Blüte, aber auch der Dekadenz, Ausschweifung und Trivialisierung. Traditionelle Moral und Werte wurden damals infrage gestellt. Viele begrüßten das als Befreiung. Andere sahen es als Weg in eine Katastrophe. Und sie behielten recht. Nur wenig spä- ter folgten Oktoberrevolution, Bürgerkrieg und Terror.

Lenins Maxime war die Schaffung eines neuen Menschen, einer neuen Gesellschaft, von oben her, mit Gewalt und Umerziehung, aus der festen Überzeugung heraus, Moral und Erkenntnis auf der eigenen Seite zu haben. Für solche Ideen hegen auch heute in Berlin noch viele Sympathien. Die Aufarbeitung der linken Diktatur war nie erfolgreich. Ein russischer Freund wäre fast umgekippt, als er auf Lenin-Plakate stieß – mitten in Berlin. Viele Russen wollen auch nicht glauben, dass die in „Linke“ umbenannte SED heute mitregiert. Oder dass der Weltfrauentag, der 8. März, Feiertag wird. So progressiv sind neben Russland Länder wie Angola, Kirgisistan, Kuba, die Mongolei, Nordkorea und Turkmenistan.

Zwei Monate vor dem Feiertagsbeschluss hatte die „Zeit“ einen „lässigeren Blick“ auf die DDR-Vergangenheit angeregt. Die Autorin bekam wenige Wochen später einen Interviewtermin bei der Kanzlerin. Hubertus Knabe, bekannter Kritiker der DDR-Diktatur, wurde als Direktor der Stasi-Gedenk- stätte Hohenschönhausen entlassen – nach Intrigen, die wirkten wie aus dem Lehrbuch des KGB.

Ein ideologischer Schleier hat sich langsam, aber schwer wie Mehltau über das politische Leben in Berlin gelegt: linksgrüner Biedermeier. Dessen Gralshüter glauben sich im Besitz von Wahrheit und Moral. Viele Themen machten sie zu Glaubensfragen, etwa Migration, Islam, Energie und Klima. „Bist du verrückt? Dazu darfst du in Deutschland nichts schreiben“, ermahnte mich ein russischer Kollege, der seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland lebt.

Aus Kritik an der Regierung wird schnell „Hetze“, ein DDR-Begriff, der erst vor einigen Jahren reanimiert wurde. Wer es wagt, „Wahrheiten“ anzuzweifeln, dem droht weniger eine Widerlegung mit Argumenten als die Ausgrenzung. Als „Klimaleugner“, „islamophob“, „Rassist“ oder gleich „Nazi“. All das erinnert an Moskau: Die Regierenden sind die Guten, Andersdenkende sind die Bösen. Oder gleich Faschisten.

Gleichmachen statt gleich behandeln

Eine große linke Haltungskoalition aus Politikern, Journalisten und „Kulturschaffenden“ versucht, eine neue Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen. Der neue Mensch soll multikulturell sein, gegendert, divers, „bunt“ und für alles offen. Für alles Richtige natürlich nur. Die politische Formung beginnt im Idealfall noch vor dem Abstillen in der Kinderkrippe. Kommt einem aus Moskau bekannt vor. Aus der westlichen Norm, dass der Staat allen Menschen gleiche Rechte und gleiche Chancen zu garantieren hat, wurde zunehmend die Maxime, alle Menschen gleich zu machen. Im Hintergrund, kaum bemerkbar, flackert bei diesem Politikansatz Lenins Maxime auf.

Unsere Infrastruktur bröselt, Pleiten, Pech und Pannen überall, die „Welt“ titelte gar: „Wie Deutschland verfällt“. Doch das hindert die Vorkämpfer des Guten nicht, vom „besten Deutschland aller Zeiten“ zu sprechen. Wie einst Lenin und seine Enkel wissen sie genau, was richtig und falsch ist. Und retten deshalb lieber die Welt als die Infrastruktur.

Als widerborstig gegen die Erkenntnis erwiesen sich ausgerechnet jene Menschen und Länder, die sich einst schon Moskaus „richtigem Weg“ widersetzten. Etwa viele Ostdeutsche. Oder Polen und Ungarn. Die wagten es, in freien Wahlen für einen anderen Weg zu stimmen. Ein Beweis, dass sie böse sind. Und die Briten mit ihrem Brexit-Votum – Verrückte. Denn es gilt das Dogma: Wer vom deutschen Europa-Weg abweicht, stürzt sich und andere ins Chaos. Punkt. Schielte man in Warschau, Prag und Budapest einst ängstlich nach Moskau, so sagen dort heute böse Stimmen, jetzt sei der Nachbar im Westen der neue Osten.

Das ist polemisch. Und falsch. Denn das alte Moskau antwortete auf solche Ketzerei mit Panzern – oder Gulag, Berlin nur mit moralischer Empörung und politischer Exkommunizierung. Es ist also noch ein weiter Weg für die deutsche Hauptstadt bis zum neuen Moskau. Das ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.