Tichys Einblick
Zweifel an der Fairness des Verfahrens gegen Zschäpe sind erlaubt

NSU-Prozess: Kommt der Rechtsstaat ins Straucheln?

Paukenschlag im NSU-Prozess: Das Pflichtverteidiger-Trio Sturm, Heer und Stahl beantragte gestern geschlossen die Verteidigung der Angeklagten Zschäpe niederlegen zu wollen. Damit wären 219 Verhandlungstage obsolet geworden. Der Prozess wäre geplatzt. Die richterliche Notentscheidung, dass die Verteidiger verpflichtet bleiben, rettete vorerst den Prozess. Aber auch den Rechtsstaat?

Am Montag wurde bekannt, dass die drei Pflichtverteidiger der Angeklagten Beate Zschäpe, die diese von Beginn an vertreten haben, ihr Mandat loswerden wollen.
Das Verhältnis sei zerrüttet, eine Verteidigung nicht mehr möglich. Bis jetzt weiß Niemand genau, warum eine ordentliche Verteidigung nicht mehr gewährleistet ist. Die Verteidiger berufen sich zu Recht auf ihre anwaltliche Schweigepflicht. Das Gericht entschied jedoch Stunden später: egal, der Prozess soll nicht unterbrochen werden. Die Verteidigung bleibt. Wie das funktionieren soll, bleibt offen.

Dieser Streit zwischen Angeklagter und Verteidigung ist jedoch symptomatisch für ein politisch und ideologisch überladenes Ausnahmeverfahren, in dem von Beginn an ein unangemessener Druck auf dem Gericht, der Anklage und der Verteidigung lag, beinahe um jeden Preis eine wegen rassistischer Mordtaten verurteilte Täterin zu liefern.

Die verfassungsrangige Unschuldsvermutung zu Gunsten des Angeklagten ist eins der wesentlichen Essentials des Rechtsstaates. Die Verfahrensgarantien, wie die Tat, wie die Rechtswidrigkeit und wie die Schuld dem individuellen Täter ganz individuell nachgewiesen werden dürfen oder müssen, um aus einem Menschen einen Täter, gegen den hoheitliche Sanktionen verhängt werden dürfen, zu machen, gehören zu den Säulen des verfassungsbasierten Rechtsstaates. Die Strafprozessordnung ist die Konkretisierung der Verfassungsgarantien zu Gunsten des Täters. Soweit, so gut, und so bekannt. Aber wird sie auch immer beachtet?

Die Strafprozessordnung stellt kein unterschiedliches Schutzniveau für unterschiedliche Deliktskategorien für unterschiedliche Tätertypen, für unterschiedliche Motivationslagen, für unterschiedliche politische Ausrichtungen des Täters, für männliche Täter, weibliche Täter, christliche Täter, muslimische Täter, jüdische Täter, verblendete Täter, fanatische Täter, ideologische Täter, rassistische Täter, perverse Täter usw. usw. zur Verfügung.

Diese Selbstverständlichkeit muss angesichts des NSU-Prozesses offenbar ins Gedächtnis zurück gerufen werden. Auch der monströseste Täter ist vor dem Mob durch die Unschuldsvermutung und ebenso vor der Willkür der Strafverfolgungsorgane geschützt. Die Staatsanwaltschaft ist dazu da, dem Täter kühlen Kopfes die Tat, die Rechtswidrigkeit und die Schuldhaftigkeit der Tat zu der lauteren Überzeugung des Gerichtes nachzuweisen und dies in einem Verfahren, in dem eine funktionierende Verteidigung alle legalen Mittel und legitimen Mittel ausschöpft, um den Tatnachweis zu stören.

Billiger wäre ein Galgen und ein Scharfrichter

Billiger wäre es neben dem Galgen eine Bude für einen Scharfrichter einzurichten, der in seiner Person auch die Funktion der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung übernimmt. So ein Scharfrichter könnte einen Täter, der diese oder jene Tat begangen haben soll, nach bestem Wissen, Gewissen und Gefühl aburteilen.

Dieser Scharfrichter könnte auch die Befindlichkeiten der Volksseelen, die Seelenlagen der Medienmacher, der Meinungsmacher, der Politiker, der Parteifürsten, aber auch der Religionsführer perfekt bei seiner Urteilsfindung berücksichtigen und so, mindestens gefühlt, das befriedigende Urteil fällen. Was soll die klare Trennung der Aufgaben zwischen Anklagebehörde, Verteidigung und Gericht? Zumal in der Praxis bei jahrelangen Mammutverfahren dem Führer der sogenannten Verhandlung des Prozesses kraft seiner Lenkungskompetenz fast unvermeidlich faktisch auch eine nicht unerhebliche Ermittlerposition zuwächst?

Ein beinharter, kompetenter Strafverteidiger kann zwar das Gericht ein bisschen piesacken, aber der Strafprozess ist historisch gewachsen und so ausgestaltet, dass dem Richter, sowohl bei der sehr entscheidenden Verhandlungsführung wie auch bei der Rechtsfindung und Sanktionierung, eine nicht immer positiv zu bewertende Übermacht eingeräumt wird.

Die Justiz hat sich selber bei der Sanktionierung der Tat, expressis verbis so benannt, einen Spielraum genehmigt (Spielraumtheorie) und die speziellen Rechte des „Tatrichters“, der allein die Sachlage in den vorgegebenen Bahnen entscheiden könnte, sind eins der vielen weiteren Beispiele, in denen Justitia zwar nicht willkürlich, aber doch recht eigenständig, um nicht zu sagen: mächtig, agiert. Zumindestens in der Praxis.

Irgendwie muss ein Strafverfahren auch praktikabel bleiben. Deswegen braucht es eine gewisse richterliche Freiheit. Aber Justitia muss nach allen Regeln der Kunst nicht nur innerhalb des konkreten Strafverfahrens, sondern auch von außen, zum Beispiel durch die Presse, nach allen Regeln der Kunst knallhart kontrolliert werden. Das Grundgesetz bindet alle Organe des gewaltengeteilten Staates, übrigens inklusive des Bundesverfassungsgerichtes, an die Regeln eben dieser besten Verfassung, die es in Deutschland je gab.

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Ist im Fall Zschäpe das Verbot der Vorverurteilung durch staatliche Organe eingehalten worden?

Sind im Fall der angeklagten Zschäpe das Verbot der Vorverurteilung durch die staatlichen Organe, das Verbot der Vorverurteilung durch die Presse, die sich eigene Regeln, speziell auch zur Unschuldsvermutung mit großem Gestus gegeben hat, eingehalten worden? Ist das Prinzip der Gewaltenteilung, ist das Prinzip der Unschuldsvermutung, ist das Prinzip der Gleichbehandlung der Täterin, ist das Prinzip der Gleichbehandlung ihrer Verteidiger, ist das Prinzip des unpolitischen Strafprozesses, ist das Prinzip des Verbotes von Sondergerichten strikt beachtet worden?

Oder ist das Verfahren eventuell gar in einer Mob-Situation, von der große Teile der Gesellschaft zu Prozessbeginn betroffen waren, angelaufen? Ich habe im Mai 2013, am Tag der Prozesseröffnung und dessen Vorwehen, entsetzt von den strotzenden Selbstgewissheiten und den blindwütigen moralischen Überlegenheitsüberzeugungen, die den veröffentlichten Raum damals beherrschten, diesen Text „Der Rechtsstaat im Rausch“ veröffentlicht.

Die Gesellschaft und die Nomenklatura steigerten sich im Fall der sogenannten NSU, die durch diesen allgemeinen Willen erst zu dem wurde, was sie heute ist, förmlich in eine Art Rausch. Eine Zschäpe wurde als bereits ausgemachte Täterin an acht türkischstämmigen Bürgern, einem griechisch stämmigen Bürger und einer deutschstämmigen Polizistin gesehen, als kaum noch der Gesellschaft zuzurechnendes Wesen, das verurteilt sie sehen wollten – als sei sie bereits aller Vorwürfe überführt.

Man erinnert sich an die Medienshow auf Big Brother-Niveau, als es um das Gerangel der Medien um die besten Plätze im Gerichtssaal ging, die den Blick in Echtzeit auf die sofortige Aburteilung der angeklagten Zschäpe garantierten. Eine gewisse Blutrünstigkeit gepaart mit diffusen, sehr dumpfen Ideen von Rassismus und Neonazitum, die durch eine möglichst sofortige Ächtung und Aburteilung Zschäpes zugleich auch entsorgt werden könnten, wird man in dem damaligen öffentlichen Geschehen erblicken müssen.

Rassistische, politisch rechte Mordtaten – das war das gefundene Fressen einer unerträglichen Selbstgerechtigkeit. Die Rechtsfigur des Verteidigers, der gar ein Organ der Rechtspflege ist, wurde und wird im NSU-Prozess bis heute anhaltend öffentlich malträtiert. Die drei ursprünglichen Zschäpe-Pflichtverteidiger, Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl wurden öffentlich bemakelt und vor allem die Pflichtverteidigerin Anja Sturm wurde wiederholt öffentlich psychologisiert. Dies wurde auf eine furchtbare Art und Weise sichtbar, als die sogenannten seriösen Medien reflexartig bei den Verteidigern eigene rechte Kontaminationen suchten und recherchierten und dabei nicht einmal davor zurückschreckten immer wieder auf die Namen der drei Verteidiger Sturm, Heer und Stahl insinuierend und noch mal insinuierend zuzugreifen. Damit wurde das verfassungsrangige Recht auf eine eigene Verteidigung der Angeklagten nach einer sehr primitiven Gleichung in Frage gestellt.

Die Juristen und speziell die Anwaltszunft hat sich kein Ruhmesblatt verdient, angesichts ihres Wegschauens gegenüber den Anfeindungen, die den Verteidiger teils sogar aus den eigenen Reihen entgegenschlug. Mehr als zwei Jahre Verfahrensdauer, ewige Prozessvorbereitungen, 219 Verhandlungstage haben bis jetzt kein befriedigendes Ergebnis gebracht.

Das deutsche Strafrecht ist kein Racherecht

Die Angeklagte selber darf sich, ob es ihr am Ende schadet oder nützt, unkonstruktiv, um nicht zu sagen, destruktiv verhalten, so sie nicht gelegentlich dieses Tuns neue Straftaten begeht, wie etwa eine falsche Verdächtigung zu äußern, jemanden zu beleidigen ecetera. Sie darf taktieren, sie darf sich mit ihren Pflichtverteidigern überwerfen, die Beweislast liegt ganz und ausschließlich bei den zuständigen staatlichen Behörden. Der Angeklagte darf im deutschen Strafprozess schweigen, sich so unsympathisch benehmen, wie die ihm vorgeworfene Tat ist. Das mag alles öffentlich beschrieben werden, aber die unterschwellig intendierte Verböserung der Täterin Zschäpe mit irgendeinem diffusen Ziel um so den Tatnachweis irgendwie zu ersetzen oder überflüssig zu machen, ist mit dem Grundgesetz absolut unvereinbar.

Das deutsche Strafrecht – und darauf sind auch Forschung und Lehre ebenfalls ganz speziell abonniert – ist kein Racherecht, kein Genugtuungsrecht, kein Sühnerecht, sondern Gerechtigkeitsrecht mit dem Impetus der Resozialisierung des Täters. Das Institut der Nebenklage ist nicht dazu da die Zielrichtung des Strafrechtes in ihr Gegenteil zu verkehren. Das Strafrecht ist auch keine nationale, historische Aufgabe. Das Strafrecht ist kein politisches Aufarbeitungsrecht je nach Gusto der herrschenden Mainstreams. Und das Strafrecht ist auch kein Instrumentarium, das für den politischen Lagerkampf taugt. Eine gewaltige Abrüstung und eine noch gewaltigere, möglichst fachkundige Läuterung der selbsternannten Rassismusfighter ist dringend angesagt. Einen Strafprozess zu missbrauchen ist rechtsstaatswidrig.

Die Angehörigen der Mordopfer verdienen ihren Respekt. Die offenkundig rassistisch motivierten Mordtaten verdienen jede Abscheu. Der Rechtsstaat darf sich nicht von Emotionen hinreißen lassen. Und er muss strikt darauf bedacht sein Rechtsstaat zu sein und zu bleiben.

Die Bemakelung der Gesellschaft insgesamt und des Staates Bundesrepublik und einzelner Organe durch ein obsiegendes Besserwissertum waren zu Beginn des NSU-Prozesses und seither eine Belastung des Strafprozesses, der unabhängig von allem und unbedingt nur und ausschließlich rechtsstaatlich abzulaufen hat.

Dass sich die Staatsspitze eingeschaltet hat, dass sich türkische Stellen von außen eingeschaltet haben, kann in der geschehenen Form nicht wirklich zielführend sein. Es lastet ein unverhältnismäßiger Druck auf dem Gericht aus der Angeklagten Zschäpe eine abgeurteilte Täterin zu machen und dies koste es, was es wolle. Zschäpe mag Täterin oder Tatbeteiligte gewesen sein und bejahendenfalls ist die Überführung der Täterin das Ziel. Doch solange diese Überführung nicht stattgefunden hat und die Unschuldsvermutung gilt, ist auch jemand, der der NSU-Taten angeklagt ist, bis zur Rechtskraft eines möglichen Urteils unschuldig.

Es gibt zu viele Emotionsschürereien und unmoralische Moralpostulate, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen haben. Klar, jeder möchte jede Straftat und erst recht jeden Mord aufgeklärt und sanktioniert sehen. Das Rechtsstaatsverfahren ist nicht diesem allgemeinem verständlichen Volkswillen verpflichtet, sondern dem Regelwerk, das für die Wahrheitsfindung festgeschrieben ist.

Von dem gigantischen Kuchen, dem profitablen Kampf gegen Rechts, will jeder ein möglichst großes Stück abbekommen. Und jeder will seinen Anteil weithin sichtbar vorzeigen. So entsteht ein grundfalsches, gesellschaftliches Klima, in dem Recht und Vernunft kaum noch eine Chance haben.