Tichys Einblick
Majestätsbeleidigung

Merkel will nicht „Nazi“ genannt werden

Ach, Sie wollen nicht Nazi genannt werden? Das beliebte Gesellschaftsspiel in Deutschland und dieses Gesellschaftsspiel ist wirklich nicht neu, ist primitiv, von jedermann auch im wenig nüchternen Zustand leicht spielbar und geht so: Du bist ein Nazi!

Dieses Spiel wird mal im kleinen Kreise, häufig auch privat, gespielt, mal gerät es auch in Vergessenheit, aktuell hat es Hochkonjunktur. Sie wissen ja, die berühmt-berüchtigte Mitte der deutschen Gesellschaft ist „Nazi“, ist „Alltagsrassist“ o. Ä. Und nun „ist“ auch die Bundeskanzlerin „Nazi“, nachdem ein gewisser Erdogan an dem deutsche Gesellschaftsspiel Gefallen gefunden hat. Und Merkel echauffiert sich. Sie will nicht „Nazi“ genannt werden. Verständlich, verständlich. Selbstverständlich, verständlich.

Eine Kanzlerin, die dem Gesellschaftsspiel, dem hässlichsten aller denkbaren Gesellschaftsspiele, dem ungutesten, dem gefährlichsten jahrelang seelenruhig zuschaut, regt sich auf, um es zu wiederholen. Ja, klar, es ist ein Unterschied, ob ein Dritter „Nazi“ genannt wird oder ob jemand persönlich, wie jetzt die Kanzlerin „Nazi“ genannt wird, das findet sie zu Recht not amusing.

Ulrike Meinhof sagte: „Hitler in Euch“

Wenn ich einmal aus dem Nähkästchen plaudern darf: Die heiß geliebte Terroristin und frühere Journalistin Ulrike Meinhof schrieb 1961 eine Kolumne in der damaligen Avantgardepostille Konkret mit freundlicher Unterstützung aus Ostberlin und die hieß: „Hitler in Euch“. In meinem Buch „So macht Kommunismus Spaß“, das 2006 erschien, habe ich mich dieser Kolumne angenommen: In Euch, in euch und Dir und dir. Die Ostberliner Propagandistin war ihrer Zeit in vielem tatsächlich voraus. Sie hat das Gesellschaftsspiel nicht erfunden und nicht eröffnet, aber sie war gewiss eine derjenigen, die im damals schon kulturell obsiegenden „linken Lager“ dieses Gesellschaftsspiel wesentlich mitinitiiert und befördert hat.

Und: sie besaß die Feistigkeit, die Deutschen zu „selektieren“, nämlich in diejenigen, die Hitler in sich hätten und in diejenigen, die sich anmaßen, konkludent zweierlei zu behaupten: nämlich a) dass sie selber Hitler nicht in sich hätten, und b), dass sie die geborenen Richter, oder sollte man sagen, Scharfrichter seien: Du bist „Nazi“, du bist „rechts“, du bist „Rassist“ und all die vielen leckeren zu Vernichtungsvokabeln verkommenen Schimpfwörter mehr.

Ich habe in meinem Buch damals ausgeführt, dass Deutschland und damit erst einmal alle Deutschen den Krieg des Naziregimes verloren haben und erst einmal alle Deutschen für diesen Krieg und die Naziverbrechen verantwortlich sind: ob als Täter, als Mitläufer oder als Nachgeborene. Es geht um unterschiedliche Verantwortungen, aber um Verantwortung. Und hier soll nicht verkannt werden, dass es mutige Oppositionelle gab und natürlich auch viele deutsche Opfer des deutschen Naziwahns. Das Gesellschaftsspiel namens „Du bist Nazi“, namens „Antifaschismus“, ist von Anfang so konzipiert gewesen:

Ich bin links, die Linken und die Kommunisten wurden von den Nazis verfolgt, also bin ich ein moralisch überlegener Guter. Diese Gedankenfigur haben die nachgeborenen 68er und deren Nachfahren besonders für sich reklamiert. Also, das Gesellschaftsspiel geht so: Ich bin links und deswegen kann ich Dich und Euch beurteilen und natürlich auch verurteilen und wenn ich sage, ihr seid Nazi, dann seid ihr Nazi.

Ulrike Meinhof hat, und das ist symptomatisch geworden für das gesamte sogenannte linke Lager, eben gerade nicht geschrieben: Hitler in uns. Nein, sie hat geschrieben: Hitler in Euch. Und da sie mit ihren 26 Jahren Avantgarde war und Einfluss im „linken Lager“ nahm und von den Kommunisten dieserhalb clandestin finanziert und unterstützt wurde, wie übrigens etliche Journalisten in den Leitmedien stern, Spiegel, ARD o. Ä. auch, brannte sich diese Selektion der guten Deutschen, die Hitler nicht in sich hätten und der bösen Deutschen, die Hitler, bewusst oder unterbewusst, in sich trügen, in das „linke“ Selbstverständnis ein.

Das Du-Nazi-Spiel war schon immer ein Spiel der sogenannten Eliten

Auch heute noch profilieren sich in den quotenabhängigen Leitmedien Journalisten, die dort einen Posten ergattert haben und manchmal sehr berühmt sind, mit dem genannten Gesellschaftsspiel. Sie geißeln mit in Sorgenfalten gelegten Gesichtern genüsslich alle und jeden, der ihnen nicht passt, und eben zunehmend die gesellschaftliche „Mitte“ als „Nazi“ und sie tun das mitnichten, weil sie irgendeinen „Nazi“ entdeckt haben, Ausnahmen bestätigen die Regel, sondern sie tun das ausschließlich, weil Gewinner des Gesellschaftsspiels derjenige ist, der den anderen, „Du Nazi“ schilt. Es ist also egomanische Gewinnsucht, die den durchschnittlichen „Nazijäger“ antreibt.

Nicht nur beim „Mensch ärgere dich nicht“ oder beim Skat oder beim Schach wollen die Leute gewinnen, sondern noch viel mehr im realen Leben. Und das ist ja auch nicht schwer erklärlich. Solange der Spruch „du Nazi“ eine Trumpfkarte ist, die sich jeder jederzeit selber zurecht schnitzen oder malen oder drucken kann, solange also ein persönlicher Sieg des Nazivergleichers so einfach zu erzielen ist, wird dieses Nazigesellschaftsspiel, bei dem die Täter die Sieger sind, weitergehen.

Das Fatale hinter der heutigen Variante des immer noch selben Gesellschaftsspiels ist, dass die heutigen Spieler den Ursprung des Spiels nicht mehr kennen. So brüsten sie sich ganz locker und geschmeidig und prahlerisch damit, mutige Widerstandskämpfer gegen Adolf Hitler zu sein und angesichts dessen Todes vor über 70 Jahren eben ersatzweise Widerstandskämpfer gegen die neu ausgemachten „Nazis“, insbesondere in der Mitte der Gesellschaft, zu sein.

Der heutige massenhaft auftretende Widerstandskämpfer-Typus in Gestalt der „Kämpfer gegen Rechts“, gegen die „Mitte“ der Gesellschaft, gegen den „Alltagsrassismus“ und was es sonst noch gibt, hat mit den wenigen realen Widerstandskämpfern, die es gegen Hitler gab, Null zu tun. Die Attitüde der neuen Kämpfer gegen „Hitler in Euch“ macht die Anti-Moral und den neuen Wahn auf makabere Weise deutlich.

Meinhof hatte ihren Text „Hitler in Euch“ zum Zwecke des Klassenkampfes gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft aus Anlass des Eichmannprozesses, der gerade in Israel lief, geschrieben. Als neuen „Nazi“ hatte sie in ihrem Text das Hassobjekt Franz Josef Strauß auserkoren. Sie schrieb: „Wie wir unsere Eltern nach Hitler fragen, so werden wir eines Tages nach Herrn Strauß gefragt werden.“

Dieses Gesellschaftsspiel zeigte schon damals in seiner Initialphase, was heute noch zu beobachten ist, dass es auch ein Society-Spiel, ein Spiel der sogenannten Eliten ist. Der mächtige und berühmte Franz Josef Strauß klagte gegen die kleine Journalistin Ulrike Meinhof wegen Ehrverletzungen und verlor. Rechtsanwalt von Meinhof war Gustav Heinemann, Ex-Bundesminister, SPD-Parlamentarier und späterer Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

Meinhofs Sieg über Strauß, der auch die politische Linie der damaligen Justiz offenbart, wurde auch im Spiegel und anderen Leitmedien damals groß aufgemacht. Der Nazi-Vergleich und die Nazi-Vergleicherin hatten gewonnen. Die Motivlage der Anti-Nazikämpferin spielte schon damals keine Rolle und die historischen Fakten ebenso wenig.

Der Nazivergleich verbietet sich

Ich sage ja nicht, dass Merkel bei mir abgeschrieben hat, aber der Gedanke liegt objektiv recht nahe. Die sonst zu dem Gesellschaftsspiel du-Nazi-du wohlwollend schweigende Merkel ist nun, nachdem Erdogan sie wiederholt und penetrant „Nazi“ nennt, ganz fuchtig geworden. Auf der Cebit sagt sie, bevor sie auf Welthandel und Digitalisierung zu sprechen kommt, dass Erdogans Merkel-Nazi-Vergleich die vielen Millionen Menschen, die von den Nazis ermordet wurden, eiskalt außer Acht ließe und verhöhnte. Genau das steckt hinter ihren dürren Worten, in denen sie auf die Geschichte anspielt. Genau dieses Argument habe ich in unzählige Beiträgen in den letzten Jahren als Grund und moralische Entlarvung ins Feld geführt, gegen die selbstherrlichen „Antirechts-Kämpfer“, deren gewisse Lust am geistigen Lynchen nicht übersehen werden kann.

Die realen Nazis haben viele Millionen Mal jeweils ganz konkrete Menschen ermordet und diese Menschen haben ein Recht darauf, nicht von pervertierten „Anti-Rechtskämpfern“ erneut geschunden und missbraucht zu werden. Weder ein Donald Trump noch die AfD noch andere sogenannte „Populisten“ haben einen Menschen ermordet, geschweige denn mehrere Genozide ins Werk gesetzt und es steht auch nicht auf der Agenda von Trump, einen Genozid herbei führen zu wollen.

Der Nazivergleich verbietet sich in der Tat in Ansehung von Merkel, von Trump und Co.  Und zwar verbietet sich dieser Vergleich nicht irgendwie mit Ach und Krach ein bisschen, sondern der Vergleich ist so ausgeschlossen, dass er die Vergleicher selbst moralisch komplett diskreditiert. Das nebenbei ist auch die Crux des neuen Bundespräsidenten Steinmeier mit seinem „Hassprediger“-Vergleich gegen Trump. Real existierende Hassprediger stiften zu Mord an. Der Anstifter wird bestraft wie der Täter und dies zu Recht. Insofern ist Trump alles Mögliche, aber kein „Hassprediger“ und Merkel ist kein „Nazi“.

In einer Umwelt, in der das „Du-Nazi-Spiel“ die Köpfe verkleistert, auf eine ziemlich „braune“ Art übrigens, passieren solche Ausrutscher wie „Hassprediger“, ein Wort, das ja auch inflationär gegen all und jeden verwendet wird, sobald man sich von der Verwendung einen eigenen Vorteil versprechen kann.

Jeder Nazi-Vergleich, wie er heute 100.000fach in den sozialen Netzwerken von den mutigen Kämpfern gegen „Nazi-Hatespeach“ verwendet wird, ist de facto eine verbotene Holocaust-Leugnung, eine Relativierung, eine Verharmlosung ohnehin.

Die Regierung Merkel rennt Erdogan seit Jahren hinterher und tut dies auch jetzt noch. Merkel übersieht den regierungsamtlichen türkischen „Rassismus“ gegen die kurdische Minderheit in der Türkei, gegen deren Volksvertreter. Sie übersieht Erdogans Leugnung des türkischen Völkermordes gegen die Armenier, den die deutsche Politik aus Rücksicht auf Erdogan nur mit einem erbärmlichen Sichwinden anerkennen mochte. Und sie sieht dem eskalierenden Verfassungs- und Rechtsstaatbruch Erdogans bisher ungerührt zu.

Nach wie vor will die Nomenklatura Erdogan auf Biegen und Brechen in die zerbröselnde EU aufnehmen. Das inzwischen massenhafte Leid der Opfer Erdogans in der Türkei spielt für Merkel offenkundig keine besondere Rolle. Aber jetzt, wo Erdogan Merkel „Nazi“ nennt, ist die Kanzlerin plötzlich ernsthaft erbost. So wichtig allerdings ist die Person Merkel für die deutsch-türkische Geschichte nun auch wieder nicht, dass allein die Nazi-Schelte des Herrn Erdogan nun eine neue Qualität in die Weltpolitik gebracht hätte.

Ja, Frau Merkel, Nazi gescholten zu werden, fühlt sich offenbar nicht gut an.

Klar, Merkel ist nicht „Nazi“, das ist ein Selbstgänger. Merkel ist von lauter Beratern umgeben, die ihr einflüstern, dass Erdogans Raserei von der europäischen und deutschen Politik zärtlich beantwortet werden müsste, um Erdogan nicht in die Hände zu spielen, wie es heißt. Aber Merkel will den Nazivergleich trotzdem nicht auf sich sitzen lassen, verständlicherweise. Dieses Verhalten von ihr passt aber nicht mit ihrem beschriebenen sonstigen Verhalten gegenüber Erdogan zusammen.

Ob Erdogan seine Raserei in immer größere Höhen treibt oder nicht, ist weltpolitisch und europapolitisch sowas von irrelevant. Auch ob es Erdogan gelingt, in der Türkei „demokratisch“ eine Diktatur zu errichten oder am Ende noch eine Theokratie, ist, wenn der Westen Weltpolitik vernünftig betreibt, herzlich unwichtig. Dann katapultiert Erdogan die Türkei raus aus Europa, wo sie mit ihrer Erdoganverfassung ohnehin nicht reingehört, so what!

Wenn Merkel sich den Nazi-Schuh anzieht und sich ernsthaft mit Erdogan über Nazi-Vergleiche auseinandersetzen will, Erdogan ansonsten aber durch Nichtstun faktisch unterstützt, begeht sie den größten Fehler. Erdogan versucht die Deutsch-Türken gegen Deutschland aufzuhetzen und spricht von neuen Gaskammern, dagegen müsste die Bundeskanzlerin argumentativ und offensiv an die Deutsch-Türken gewandt vorgehen.

Erdogan ist als Mitspieler des deutschen Gesellschaftsspiels keine Option. Er ist als Mitspieler des deutschen Gesellschaftsspiels auszuschließen. Sich erst jetzt aufzuregen, da Erdogan Merkel als Person angreift (und dies mit der Billigvokabel „Nazi“, die Merkel, wenn andere Leute zu Unrecht betroffen waren, nie gestört hat), ist armselig.

Erdogans Antieuropapolitik kratzt die Kanzlerin offenbar allenfalls peripher. Sie tritt erst auf den Plan, wenn er Ihro Majestät beleidigt.