Tichys Einblick
Benehmen Sie sich!

Ohne Anstand: Und wo bleibe ich dabei?

Selten lässt sich mangelnder demokratischer Anstand so gehäuft betrachten wie in diesen Tagen.

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Das Erfreuliche zuerst: vielleicht ist ja doch noch Hoffnung, vielleicht werden wir aus dem Alpennachbarland mit einer ordentlichen Nachhilfe in Sachen gutem Benehmen und demokratischem Anstand versorgt. Wer den Auftritt des österreichischen Bundeskanzlers Kurz in Deutschland und mehreren Fernsehsendungen verfolgt hat, den beschlich das wohlige Gefühl, wenn sich Stil und Anstand einstellt: gerade Haltung, Augenkontakt, Anzugjacke zu, fröhliche Gesichtszüge, geschliffene Rhetorik; tu felix Austria! So was fordert eine direkte Reaktion der deutschen Medienschaffenden: der Knabe ist ein Anfänger und außerdem mit dem falschen Regierungspartner verbandelt, so weit kommt das noch!

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Der Auftritt war auch deswegen eine Wohltat, weil Deutschland sich in diesen Tagen nachgerade suhlt im mangelnden politischen Benehmen. Der Kolumnist hatte an dieser Stelle versprochen, gute (s.o.) wie schlechte Beispiele zu benennen. Die Reaktionen waren ermutigend, einige störte die entsprechende Kopfnote für die AfD, die meisten aber setzten sich mit der „Vorbild-Funktion“ der Politiker für Anstand und Stil auseinander. Eben davon soll hier die Rede gehen.

Er war ebenso legendär wie abstoßend: der Auftritt der Urmutter des unverhüllten politischen Egoismus, Heide Simonis. Die SPD-Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein rief angesichts einer möglichen Großen Koalition, die sie das Amt gekostet hätte: „…und wo bleibe ich dabei?“ Die bekannte (brutale) Strafe dafür war der lange Dolch aus dem Hinterhalt einer geheimen Abstimmung. Dieser Halbsatz war der Grundstein zur Legitimation politischen Egoismus‘, von da an war nichts mehr wie bisher.

Wenn wir unsere Politikschaffenden in diesen Tagen beobachten, kommt uns die Dame und Ihr unsägliches „Testament“ unwillkürlich in den Sinn. Es geht mal wieder ganz platt um Personen, um deren Versorgung, um Posten und Pöstchen. Und damit um politisches Benehmen. Was für ein Geschrei, als FDP-Chef Lindner die von den üblichen Verdächtigen so herbei gesehnten Jamaica-Gespräche abbrach. Mag er sich auch taktisch verzockt haben („wir werden als Letzter vom Verhandlungstisch aufstehen“): es war und bleibt ein Beispiel für gutes politisches Benehmen. Hier hat einer gehalten, was er vor der Wahl versprochen hatte. Hier hatte einer aus inhaltlichen Gründen auf die schicken Insignien der Macht verzichtet, um sich und seinen Wählern politisch treu bleiben zu können. Hier hatte einer den von ungezählten Koalitionsverhandlungen abgenudelten Spruch „erst Inhalte, dann Personen“ ernst genommen. Auch heute noch Chapeau dafür!

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Daran gemessen waren die letzten Tage ein herber Rückschritt in Sachen politischem Anstand! Es ist ja nur noch mit blanker Satire zu verarbeiten, wie die abermaligen Großkoalitionäre auf offener Bühne ihre dritte Notgemeinschaft zimmern. Martin Schulz, der Meister-Taktiker der Sozialdemokraten, tourt als Gröuaz (größter Umfaller aller Zeiten) durch die Sozen-Hochburgen und trommelt für sein Sondierungspapier, lobt und preist die vermeintlich fette Beute. Es ist nicht nur unsäglich, es ist politisch wahrlich unanständig, erst seine Partei und dann die Bevölkerung für so dämlich zu halten. Da nagelt sich einer seine Anschlussverwendung als Außenminister zusammen, um dem wenig verlockendem Altenteil in Würselen zu entgehen und erzählt seit Tagen von „hervorragenden Ergebnissen“ im Sondierungspapier. Dabei hat der Mann in eben diesem eine Bestandsaufnahme „der Zusammenarbeit in der Koalition“ nach zwei Jahren vereinbart und nennt das hochtrabend „Mid-Term-Evaluierung“. Vulgo: eingebaute Sollbruchstelle! Meister Schulz will sich nach zwei Jahren vom Acker machen. Das ist erbärmlicher politischer Stil!

Es geht aber immer noch dreister, dafür ist dann der Meister der hängenden Mundwinkel und des politischen Stumpfsinns zuständig, Ralf Stegner (das ist der, der immer mitspielen will im Sandkasten der Großen, aber keiner gibt ihm das Förmchen). Kaum waren die Sondierungen beendet, schollen schon die ersten Rufe nach „Nachbesserungen“ durch die sozialdemokratischen Flure.

„Nachbesserungen“? Das Wort sei irreführend, fällt nun dem Vize-Chef Stegner auf. Man habe sich ja noch gar nicht inhaltlich festgelegt. Nur sondiert habe man, ob weitere Verhandlungen in Frage kommen. Dass dies so viele durcheinander brächten, sei wohl dem „Jamaika-Theater“ geschuldet.

Heilige Einfalt, Ralle Stegner: erst wacker mitverhandeln und dann flugs das Ganze wieder in Frage stellen. Wahrscheinlich hält der gute Mann das für eine ganz ausgefeilte Taktik. Lieber Herr Stegner: das ist politische Desertation und nichts anderes als hundserbärmliches Benehmen! Zu Stil und Anstand gehört auch, dass man zu etwas steht, allzumal, wenn man es selbst mitverhandelt hat. Kopf hoch, Brust raus und ab in die Schlacht.

„…und wo bleibe ich dabei?“ Ein sehr eindringlicher Wunsch an die Großkopferten der Notgemeinschaft GroKo: benehmen Sie sich und verschonen Sie uns bitte mit der Endlosschleife „Sachfragen vor Personenfragen“. Wir glauben es nicht und Sie wissen das. Wenn das Handelsblatt Recht hat, ist eh längst in trockenen Tüchern, wer was wird. Es ist einfach schlechter Stil, so zu tun, als wenn Sie sich erst mit unseren Anliegen beschäftigen und dann mit den Ihren. Wenn sich denn die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen nicht verhindern lässt, so hier der Text für das Eröffnungsstatement: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, selbstverständlich haben wir uns bereits über Personalien verständigt, wir wissen sehr genau, wer was wird. In den jetzt anstehenden Verhandlungen müssen wir nur noch die Inhalte den jeweiligen Personen zuordnen.“