Tichys Einblick
Das Elend namens Green Deal

Wie Machtkämpfe in der EU die Landwirtschaft vernichten

Der Bauernprotest richtet sich vordergründig gegen die Besteuerung des Diesels – aber europaweit geht es um den „Green Deal“ und um den Machtkampf zwischen Ursula von der Leyen und ihrem erneuten Herausforderer Manfred Weber, schreibt EU-Kenner Johannis Wilhelm Friesinger.

IMAGO

Die industrielle Landwirtschaft muss in die Knie gezwungen werden. Das sagte Diederik Samsom, als er 2019 das Brüsseler Berlaymont-Gebäude als Berater von Frans Timmermanns betrat, erster geschäftsführender Vizepräsident und Kommissar für Klimaschutz in der Kommission von der Leyen. Das ist dem Team Zimmermanns/Samsom fast gelungen. Mittlerweile gehen überall in Europa verzweifelte Landwirte auf die Straße.

Timmermanns Traum, EU-Präsident zu werden, ging nicht auf; auch Samsom ist aus dem Rennen. Weil im Juni Wahlen zum EU-Parlament anstehen, ist auch Kommissionspräsidentin von der Leyen derzeit vorgeblich für die Landwirte. Wendet sich das Blatt zugunsten der Bauern? Weg von der Zerstörung der Landwirtschaft hin zu einem vernünftigen Umgang? In Frankreich jedenfalls kündigt Präsident Emmanuel Macron den Green Deal aus dem Haus Von-der-Leyen auf.

Der Green Deal führt zum Elend der Bauern

Agrarpolitik ist ein Herzstück der EU, und die Bauern Opfer der parteipolitischen Machenschaften im EU-Parlament. Nach den EU-Parlamentswahlen 2019 trafen Manfred Weber (CSU) und Ursula von der Leyen (CDU) in der Brüsseler Politikarena aufeinander. Weber war der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, in der sowohl CSU als auch CDU Mitglied sind, und sollte als Vertreter der stärksten Partei Präsident der EU-Kommission werden. Die Europäische Volkspartei wurde bei den Wahlen zum EU-Parlament 2019 stärkste Kraft. Der französische Präsident Emmanuel Macron (En Marche!) wollte aber auf keinen Fall, dass der Vorsitzende der größten Partei im Parlament Kommissionspräsident wird. Es kam zu einem historischen Deal. Nicht, wie versprochen, das Parlament wählte den Kommissionspräsidenten, sondern die Staats- und Regierungschefs bestimmten ihn.

Macron hatte dabei eine Frau im Sinn, die in Ixelles bei Brüssel als Tochter eines EU-Bürokraten geboren wurde. Eine Deutsche, eine Vertraute der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), um auch die deutsche Politik einzubinden. Im Tausch gegen eine andere Frau, die Französin Christine Lagarde, die als Präsidentin der Europäischen Zentralbank in Frankfurt eine Geldpolitik zugunsten des hochverschuldeten Frankreichs durchsetzen wollte. Merkel konnte ihrer Freundin von der Leyen zuliebe nicht ablehnen und brach das Versprechen, das sie ursprünglich Weber gegeben hatte.

Der enttäuschte Weber kehrte ins Parlament zurück. Erfreut war dagegen der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans (PvdA). Er war der Spitzenkandidat der S&D, der europäischen Sozialdemokraten. Timmermans wurde zum Ersten Vizepräsidenten der Kommission ernannt, damit alle großen europäischen politischen Familien in Spitzenpositionen vertreten sind. So laufen politische Deals in der EU ab – Posten werden verschoben, um Koalitionen zu schmieden, Inhalte kommen erst viel später.

Wie Weber hatte auch Timmermans darauf gehofft, Kommissionspräsident zu werden. Das war zwar nicht vorgesehen, aber er bekam mehr, als er sich erträumt hatte: Er wurde nach von der Leyen der höchste Funktionär in der bizarren Hierarchie der Kommission – eben erster geschäftsführender Vizepräsident und Kommissar für Klimaschutz. In Übereinstimmung mit der Mehrheit der Regierungschefs sollten die Klimapolitik und der Kampf gegen die Bauern die EU zum moralisch-grünen Vorreiter in der Welt machen. Angesichts der guten Wirtschaftslage schien das möglich. Timmermans übernahm die Aufgabe, dies umzusetzen.

Der New Deal der EU als Kampf gegen die Bauern

Als Vollstrecker stellte Timmermans einen bemerkenswerten Mann ein: Diederik Samsom. Der hat Nuklearwissenschaften studiert, um Argumente gegen die Kernkraft zu sammeln. Ein Mann, der also zuerst eine Meinung hat und dann versucht, Fakten zu finden, die dazu passen. Samsom wurde eine Art bezahlter Wahlkämpfer für Greenpeace.

Samsom wurde Timmermans’ Kabinettschef. Und plötzlich konnte Samsom anpacken, was er bei Greenpeace oder in den Niederlanden nie hätte tun können: ganz Europa radikal grün machen. Er verfasste ein Papier mit dem Propaganda-Namen „Green Deal“, in Anlehnung an den New Deal von Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren in Amerika.

Bei der Präsentation des Green Deal in Brüssel positionierte sich von der Leyen als große Steuerfrau. Sie drängte Timmermans fast buchstäblich in den Hintergrund. Selten hat Timmermans so mürrisch geschaut. Doch er blieb nicht lange zwischen den Kulissen.

Denn schon bald wurde von der Leyen durch den Covid-19-Virus und später den russischen Angriff auf die Ukraine abgelenkt. Das Gleiche galt für die Regierungschefs, die den Green Deal bei der Kommission bestellt hatten und nun geliefert bekamen – radikaler als gedacht und unkontrolliert. Timmermans und Samsom hatten freie Hand. Auch weil von der Leyens Europäische Volkspartei, Timmermans S&D und Macrons Liberale im Europäischen Parlament den Green Deal unterstützten.

Und alle anderen Kommissare waren dank eines anderen berühmten EU-Deutschen, Martin Selmayr, zu Abhängigen des Präsidenten und des Ersten Vizepräsidenten geworden: Das Team von der Leyen und Timmermans regierte durch, Selmayr exekutierte. Denn er ist der Mann, der im Hintergrund die Strippen zieht. Selmayr war es, der als Kabinettschef des luxemburgischen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV) zwischen 2014 und 2019 die Macht der Kommission auf das Büro des Kommissionspräsidenten zentralisiert hatte. In der EU geht es um Macht, nicht um die Bürger, die fern von Brüssel die dort in Hinterzimmern geschmiedeten Ränke ausbaden müssen.

Teil des Green Deal ist die sogenannte Farm-to-Fork-Strategie, die den Green Deal umsetzen sollte. Die Strategie zielt darauf ab, das europäische Lebensmittelsystem nachhaltiger zu gestalten und seine Auswirkungen auf Drittländer zu verringern, so die Theorie. Umgesetzt wurde die Strategie durch eine Vielzahl von Einzelgesetzen, die die Bauern in der EU belasten, aus dem Markt und von den Feldern drängen sollten – etwa auch Reduzierung der Anbauflächen, durch exzessive Dünge-Verbote, Reduzierung der gehaltenen Tiere und vielerlei weltfremder Details, die sich nur Brüsseler Bürokraten ausdenken können.

Ab 2022 kamen nach und nach Gesetzesvorschläge der Kommission in Richtung Rat (Mitgliedstaaten) und Parlament. Gleichzeitig begannen die niederländischen Landwirte zu rebellieren. Tausende Höfe sollten enteignet werden für Timmermans Visionen eines Naturparks. Mit ihrer neuen Partei „Boer Burger Beweging“ (Bauer-Bürger-Bewegung BBB) errangen sie schnell Siege bei den niederländischen Provinz- und Oberhauswahlen. Die niederländischen Christdemokraten, Mitglieder von Webers Europäischer Volkspartei, wurden aus dem Rennen geworfen. Seither schwächelt die konservative Mehrheit im EU-Parlament und wird voraussichtlich massiv an Sitzen, Macht und Posten verlieren.

Der Widerstand der Bauern wächst in den Niederlanden

Der Sieg der Boer Burger Beweging fand daher in Brüssel großen Widerhall, insbesondere bei Webers Europäischer Volkspartei geht die Angst um. Die Christdemokraten oder bürgerlichen Konservativen waren bereits in Italien und Frankreich von Liberalen und sogenannten Populisten verdrängt worden. Nun waren auch die niederländischen Christdemokraten weg, die kleine Schwester der deutschen CDU/CSU.

Weber warnte von der Leyen. Sie müsse umschwenken, Zeit gewinnen. Auch der französische Präsident Macron, der von der Leyen zur Kommissionspräsidentin befördert hatte, begann auf die Bremse zu treten. Aber von der Leyen hörte nicht zu. Sie war mit der Ukraine beschäftigt, flog in Privatjets um die Welt, um als Präsidentin Europas empfangen zu werden. Und sie konnte – und wollte vielleicht auch nicht – dem mächtigen und klugen Timmermans und seinem Samsom die Stirn bieten.

Daraufhin traf Weber eine bemerkenswerte Entscheidung. Die EVP sprach sich gegen den Green Deal aus. Die Verordnung über den nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (SUR) musste vom Tisch, oder zumindest abgeschwächt werden. Die von der Kommission vorgeschlagene SUR sah vor, dass die Landwirte bis 2030 50 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel einsetzen sollten. In Brüssel entbrannte ein dramatischer Kampf. Timmermans kollidierte mit der Mehrheit des EU-Parlaments, das ihm vorher applaudiert hatte. Nun gab es plötzlich Widerstand und er musste bei den Abgeordneten Lobbyarbeit leisten. Timmermans hat verloren. Die SUR war vom Tisch.

Im Übrigen ging es der EVP nicht nur um die Bauern. Sie hatte in den Niederlanden gesehen, dass sich zu den Bauern mit weniger als 1 Prozent der Wählerschaft die bürgerliche Mittelschicht in den ländlichen und vorstädtischen Gebieten geschlagen hatte. Die Landwirte waren der Kanarienvogel im Kohlebergwerk, der die drohende Gefahr signalisiert – im Bergbau Gas, in der EU fliehende Wähler.  Denn der Green Deal, der über die Landwirtschaft hinausreicht, würde auch die normalen Leute treffen, die gezwungen wären, ihre Häuser zu isolieren und andere Eingriffe in ihr persönliches Leben vorzunehmen. Die Kernwählerschaft der EVP musste durch eine Schwächung des Green Deal erhalten werden.

Der Protest weitet sich aus

Trotz der Kehrtwende in den nationalen Hauptstädten und in Brüssel gingen zunächst die deutschen, dann die französischen und belgischen Landwirte auf die Straße. Tausende von Traktoren versperrten die Autobahnen, Berlin, Paris und Brüssel wurden blockiert.

Das war paradox. Denn 2019, als die Regierungschefs den Green Deal anordneten, und 2020, als der Green Deal vorgestellt wurde, protestierten die Bauern nicht in den Hauptstädten. Erst jetzt gehen sie auf die Straße.

Aber die deutsche Sonder-Steuer auf Agrardiesel und ein Freihandelsabkommen mit Südamerika, auch für landwirtschaftliche Erzeugnisse, haben die Landwirte aufgerüttelt. Der viel grundlegendere Green Deal tat dies nicht. Die Interessenvertreter der Landwirte in den nationalen Hauptstädten und in Brüssel hatten es versäumt, sich ihm entgegenzustellen. Samsons Aussage, die industrielle Landwirtschaft müsse „in die Knie gezwungen werden“, hätte alle Alarmglocken läuten lassen müssen. Doch die Interessenverbände wagten nicht zu protestieren, weil der politische Nährboden fehlte – sowohl in den nationalen Hauptstädten als auch in Brüssel. Erst die Kehrtwende der EVP nach dem Abgang von Timmermans und nationale Wahlniederlagen, wie die der CDU/CSU in Deutschland, bot einen fruchtbaren Boden.

Ob das die Landwirte zufrieden stellen kann, bleibt abzuwarten. Die über Jahrzehnte aufgebaute Regulierungslast bleibt hoch. Und das „grüne“ Denken ist keineswegs aus dem öffentlichen Dienst und der Politik verschwunden. Den Landwirten werden einige Bonbons zugeworfen. So dürfen die Landwirte im kommenden Jahr 4 Prozent ihrer Flächen, die eigentlich für die Natur reserviert sein sollten, aussäen. Von der Leyen war es, die dies in Gesprächen mit Landwirten in Brüssel ankündigte. Sie versucht, sich zu wehren und Weber in den Hintergrund zu stellen.

Der Green Deal soll trotzdem durchgezogen werden

Doch was von der Leyen anbietet, ist eher dürftig. Timmermans’ Nachfolger, der niederländische Christdemokrat Wopke Hoekstra, erklärt auf Klimagipfeln, dass die EU schon 2040 90 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen soll als 1990. Er will bald aus allen fossilen Brennstoffen aussteigen. Die Landwirtschaft, die für 12 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, ist davon massiv betroffen. Womit Traktoren und Mähdrescher dann betrieben werden sollen, bleibt allerdings ein Rätsel. Alternative Kraftstoffe sind rar. Und eine Elektrifizierung ist bei großen Maschinen nicht möglich. Sie würden zu schwer werden, den Boden verdichten und die Batterien „Made in China“ wären nach einer Stunde leer.

Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Landwirte sind hoch und werden es auch bleiben. Sie sollen für Ernährungssicherheit, gesunde, preiswerte und sichere Lebensmittel sorgen, die Nachhaltigkeit erhöhen, die Landschaft erhalten und möglichst kleine Familienbetriebe bleiben. Da immer mehr EU-Bürger in Städten leben und sich nicht mit dem Land verbunden fühlen, wird das Verständnis für die Landwirte eher ab- als zunehmen. Gleichzeitig haben sich die EU-Agrarsubventionen in Kaufkraft ausgedrückt in 20 Jahren halbiert. Sie betragen jetzt 300 Milliarden Euro für sieben Jahre für die 27 EU-Mitgliedstaaten. Um sie wieder auf das Niveau von vor 20 Jahren zu bringen, müssten 300 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben werden. Und die Gegner der Bauern sind mächtig: Multinationale Lebensmittelkonzerne erzielen durch globale Importe weit höhere Gewinnspannen als Landwirte. Wenn Europa erst ganz aus Südamerika beliefert wird, steigen diese weiter.

Eine politische Lösung, die die sozialen Wünsche und Forderungen an die Landwirte mit einer finanziell vertretbaren Existenz der Landwirte in Einklang bringt, steht noch aus. Viel wird vom Kampf zwischen von der Leyen und Weber abhängen.

Die „grüne“ Ursula von der Leyen strebt nach der Bundestagswahl eine zweite fünfjährige Amtszeit als Kommissionspräsidentin an. Sie verspricht den Regierungschefs alles, was sie wollen, um das zu schaffen. Aber auch Weber will in der Brüsseler Hierarchie aufsteigen und scheint ein besseres Gespür für die Wähler in der EU zu haben. Da jedes Land einen Kommissar stellen darf, kann Weber nur Kommissar werden, wenn von der Leyen nicht Kommissionspräsidentin wird. Ob die Landwirte wieder auf die Straße gehen werden, wird zum Teil von diesem deutsch-deutschen Kampf abhängen. Denn es geht nicht um vernünftige Politik – sondern um Posten.

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