Tichys Einblick
Heute die traditionelle Fernsehdebatte

Was wäre, wenn … Le Pen Präsidentin?

Wie stehen die Chancen von Le Pen? Durchaus beachtlich, aber am Mittwoch, den 20. April, um 21 Uhr, findet die traditionelle Fernsehdebatte zwischen den beiden Kandidaten statt, die für viele unentschlossene Wähler entscheidend ist.

IMAGO/Itar-Tass

Am 24. April wählt Frankreich seinen neuen Präsidenten: Zur Stichwahl stehen der bisherige Amtsinhaber, Emmanuel Macron, und Marine Le Pen, „die Rechtsextremistin, die Frankreich und Europa auf den Kopf stellen möchte“ (Süddeutsche Zeitung 14./15. 4. 2022). Was wäre, wenn Le Pen – die in Deutschland unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stünde – die Wahl gewinnt?

Für die französische Präsidentenwahl präsentierten sich im ersten Wahlgang (10. April) zwölf Kandidaten. Davon blieben acht, darunter die der Grünen, Sozialisten und Konservativen (heutiger Parteiname: Les Républicains „die Republikaner“), unter 5 Prozent und müssen nun die Wahlkampfkosten selbst tragen: Die Grünen (4,6 %) riefen deshalb nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses gleich dazu auf, für ihren Kandidaten 2 Millionen Euro zu spenden.

Vier Kandidaten kamen jeweils über 5% und erhielten zusammen 80 % der Stimmen:

  • Éric ZEMMOUR (Reconquête „Rückeroberung“) 7,0 %
  • Jean-Luc MÉLENCHON (La France insoumise „Unbeugsames Frankreich“) 21,9 %
  • Marine LE PEN (Rassemblement national „Nationale Sammlungsbewegung“) 23,1 %
  • Emmanuel MACRON (La République en marche „Die Republik in Bewegung“) 27,8 %

Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit errang, kommt es am 24. April zur Stichwahl zwischen den beiden mit den meisten Stimmen: Macron und Le Pen.
Entscheidend für die Stichwahl wird sein, wie sich die Wähler der ausgeschiedenen Kandidaten umorientieren. Für Macron sprachen sich die Kandidaten der Grünen und Kommunisten aus sowie die Sozialisten und Konservativen (die bis 2017 alle Präsidenten der 5. Republik gestellt hatten, zuletzt Nicolas Sarkozy und François Hollande). Das ergibt ein zusätzliches Wählerpotential von 13 Prozent.

Von den beiden ausgeschiedenen Kandidaten mit über 5 % Stimmenanteil empfiehlt Zemmour die Wahl von Le Pen, aber Mélenchon lehnt sie kategorisch ab: „Keine einzige Stimme für Frau Le Pen! (Il ne faut pas donner une seule voix à Madame Le Pen!)“. Allerdings spricht er sich nicht für Macron aus, kann es auch nicht; denn im Wahlkampf hat Mélenchon den „Anti-Macron“ gespielt: Senkung des Renteneintrittsalters von 62 auf 60 Jahre statt Erhöhung auf 65 Jahre, Ausstieg aus der Atomenergie statt Ausbau, weniger EU statt mehr, Impffreiheit statt Impfpflicht usw.

Die französische Präsidentschaftswahl zeigt bei den Kandidaten und dem Ergebnis eine politische Spannweite, die in Deutschland für Verfassungsschützer ein Albtraum wäre: Acht der zwölf Kandidaten würden hierzulande als links- oder rechtsradikal gelten, und unter den vier mit mehr als 5 % Stimmenanteil wären drei „Extremisten“: Nicht nur Le Pen will „Frankreich und Europa auf den Kopf stellen“ (SZ), sondern auch Mélenchon – allerdings von links: Er fordert „eine neue Republik“ (une nouvelle République) und gegenüber der EU „unsere Souveränität wiederherzustellen“ (rétablir notre souveraineté). Der Journalist und Schriftsteller Zemmour, der 2014 den Bestseller La France suicide „Selbstmörderisches Frankreich“ veröffentlichte (ein französisches Pendant zu Sarrazin: Deutschland schafft sich ab, 2010), möchte das alte Frankreich, den Nationalstaat, zurückhaben, der durch die Massenmigration aus dem islamischen Raum verloren ging: Der Name seiner Partei, Reconquête „Rückeroberung“, ist Programm und spielt auf die spanische Reconquista im Mittelalter an, die christliche Wiedereroberung der Iberischen Halbinsel, die mit Ausnahme des nördlichen Grenzgebietes Anfang des 8. Jahrhunderts unter islamische Herrschaft gekommenen war.

Die „Extremisten“ Le Pen, Mélenchon und Zemmour haben zusammen 52 % der Stimmen bekommen, unter den 18- bis 34-Jährigen sogar 65 %. Bei einem solchen Ergebnis in Deutschland müssten die Verfassungsschützer kapitulieren. Was würde es aber für die deutsch-französischen Beziehungen bedeuten, wenn Le Pen die Stichwahl gewinnt? Faktisch nicht viel: Auch ein französischer Präsident braucht für seine Politik die Mehrheit im Parlament, und es ist unwahrscheinlich, dass die Partei von Le Pen, die bei den Parlamentswahlen 2017 nur 8 Sitze (von 577) erhielt, nun bei den Neuwahlen am 12. und 19. Juni eine Mehrheit erringt. Das politische Koordinatensystem in Deutschland würde allerdings umgestellt: Die Wahl von Le Pen wäre – wie der Ukraine-Krieg – „eine Zeitenwende“ (Bundeskanzler Scholz), und Außenministerin Baerbock könnte nach der Wahlnacht wieder sagen: „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“ – einer Welt mit einem (in grüner Terminologie ausgedrückt) „diversen“ Europa der Völker und Nationen.

Wie stehen die Chancen von Le Pen? Durchaus beachtlich, aber am Mittwoch, den 20. April, um 21 Uhr, findet die traditionelle Fernsehdebatte zwischen den beiden Kandidaten statt, die für viele unentschlossene Wähler entscheidend ist. Schon 2017 standen sich hier Macron und Le Pen gegenüber: Damals machte Le Pen, die aggressiv und unkonzentriert wirkte, einen schlechten Eindruck und erreichte in der Stichwahl nur 34 Prozent.

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