Tichys Einblick
Panik im Kreml

Warum Putin mehr Angst vor den Müttern hat als vor der Nato

Putins Krieg löscht Familienlinien für immer aus. Das gilt nicht nur für Wehrpflichtige, sondern auch für Berufssoldaten. Doch bei Letzteren kennen die Familien das Risiko. Es sind die Mütter und Freundinnen der Eingezogenen, die Putin in die Lüge zwingen.

IMAGO/SNA

Am 9. März 2022 ist die Panik in Moskau groß. Sie zwingt Putin aus der Deckung: „Ich wende mich an die Mütter, Frauen, Schwestern, Bräute und Freundinnen.“ Die haben kurz zuvor herausbekommen, dass im ersten Angriff Wehrpflichtige verheizt wurden, um die erfahrenen Berufssoldaten für die entscheidenden Schlachten in Reserve zu halten. Putin gibt sich als Rächer der Mütter und aller anderen weiblichen Wesen. Lediglich LGBT-Partner entgehen der scheinbar devoten Umgarnung. Er habe von allem nichts gewusst, jetzt aber umgehend den Rückzug der Halbwüchsigen aus der Feuerlinie befohlen und die Bestrafung der Verantwortlichen durch die Militärjustiz eingeleitet.

Warum hat Putin mehr Angst vor den Müttern als vor der Lieferung von MIGs an Kiew oder gar vor der gesamten Nato? Das Russische Reich von 1914, das er wiederherstellen will, hatte zwischen 1840 und 1914 mit durchgehend sieben Kindern pro Frauenleben die höchsten Geburtenraten der Welt: 20 Mütter hinterlassen 70 Söhne.

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Putin kann von einer solchen Demografie nur träumen. 2021 – bei einer Fruchtbarkeit von 1,5 – gibt es von 20 russischen Frauen nur noch 15 Söhne. Von 1000 Menschen weltweit lebten damals über 100 unter der Krone der Romanows. Unter 1000 Wehrfähigen standen aufgrund des extrem niedrigen Durchschnittsalters sogar 120 unter dem Kommando des Kreml. Heute stellen die 115 Millionen Russen unter Putins Strafgewalt – 80 Prozent der Föderationsbevölkerung – nur noch 15 von 1000 Erdenbürgern. Von global 1000 Wehrfähigen sind es aufgrund des hohen Durchschnittsalters bestenfalls noch 10. Sie sind einzige Söhne oder gar einzige Kinder ihrer Mütter. Er weiß das.

Jeder von Putin geführte Krieg löscht Familienlinien für immer aus. Das gilt nicht nur für Wehrpflichtige, sondern auch für Berufssoldaten. Doch Letztere sind gewissermaßen selber schuld. Ihre Familien kennen das Risiko. Gefallene Profis werden – wie Putin am 3. März bei der Angabe von Zahlen über Tote und Verwundete mitteilte – nachbefördert, um den Witwen etwas höhere Pensionen zu sichern. Vorsorglich werden überdies acht durchschnittliche Jahresgehälter für einen Gefallenen und – neben den Invalidenbezügen – fünfeinhalb für einen Verwundeten oder Verstümmelten angekündigt. Die Nachkommen der Berufssoldaten werden das kaum gefährden wollen und sich deshalb in der Öffentlichkeit zurückhalten.

Es sind die Mütter und Freundinnen der Eingezogenen, die Putin in die Lüge zwingen. Wenig spricht dafür, dass sie ihm Glauben schenken. Ihr bloß verbaler Angriff auf seinen Funktionär Sergej Tsiwilew aus dem sibirischen Kusbass, der ihre Söhne als Kanonenfutter ausgeliefert und das eigene Kind in Sicherheit gebracht hat, erweist sich als Volltreffer. Der dadurch erzwungene Gegenzug Putins ist nicht beliebig wiederholbar. Wird er die Frauen einsperren lassen, gar auf sie schießen? Das hat nicht einmal Breschnew während der Volldiktatur gewagt. Er hatte Mütter vor dem Kreml und damit vor der Weltöffentlichkeit, deren Söhne zu den 13.000 Gefallenen des sowjetischen Afghanistankrieges von 1979 bis 1989 gehörten.


Gunnar Heinsohn (*1943) hat 2011 am NATO Defense College das Fach Kriegsdemografie eingeführt und bis 2020 gelehrt.


Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Orell Füssli, Hardcover, 224 Seiten, 20,00 €.


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