Tichys Einblick
VENEZUELA

Sozialismus im freien Fall

In Venezuela kann man beobachten, wie eine sozialistische Regierung ein reiches Ölland ruiniert. Hunger, Hyperinflation und Gewalt verängstigen die Bürger. Bis vor Kurzem fanden viele Linke das Land noch toll. Im April sind Präsidentschaftswahlen, aber das Ergebnis steht wohl jetzt schon fest.

A woman walks between the empty shelves of a supermarket in Caracas on January 11, 2018. Colombian President Juan Manuel Santos, on Thursday called his Venezuelan counterpart Nicolas Maduro to accept international aid to help Venezuelan people to stop 'suffering hunger and lack of medicines'.

© Juan Barreto/AFP/Getty Images

Viele Jahre ging es bergab, dann stand Venezuela einige Zeit am Rande des Abgrunds, und nun ist das Land mit den größten Erdöl­reserven der Welt im freien Fall in die­sen Abgrund. Eine schwere Rezessi­on stürzt Venezuela in die Armut, die Staatskassen sind leer, es herrscht eine galoppierende Inflation.

Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend. Die Preissteigerungsrate hat nach Angaben des faktisch abge­setzten Parlaments 2.600 Prozent er­reicht, einige Ökonomen halten einen Anstieg bis auf 30.000 Prozent in die­sem Jahr für möglich.

Wegen der rapi­den Geldentwertung ist die Kaufkraft des staatlichen Mindestlohns auf unter drei Euro (nach dem inoffiziellen Wech­selkurs) gesackt. Davon kann man bloß noch ein Ei am Tag kaufen. Nur wer De­visen hat, kann auf dem Schwarzmarkt noch einkaufen; in den offziellen Su­permärkten mit den regulierten Preisen sind die meisten Regale leer.

Freiheit ist unteilbar
Venezuela - Das Traumland der Linken am Abgrund
Millionen Venezolaner hungern in­zwischen. Durch Caracas und andere Städte ziehen Menschen, die Müllton­nen nach Essbarem durchsuchen. Eine Studie mehrerer Universitäten ergab, dass die Bürger im Durchschnitt mehr als zehn Kilogramm Gewicht verlo­ren haben. Jedes sechste Kind ist laut einem Caritas­-Bericht schwer unter­ernährt. Lehrer berichten von Schü­lern, die während des Schulunterrichts vor Schwäche ohnmächtig werden. Die Kinder­ und Müttersterblichkeit in den Krankenhäusern hat drastisch zuge­nommen, weil lebensnotwendige Medi­kamente fehlen.

Die sozialistische Regierung von Präsident Nicolás Maduro schiebt die
katastrophalen Zustände auf einen ominösen „Wirtschaftskrieg“, den die angeblich faschistische konservative Opposition mithilfe des Auslands gegen das Regime führe. In Wahrheit haben die Sozialisten das Land 19 Jahre nach ihrer Machtübernahme restlos ruiniert.

1999, als Hugo Chávez an die Regie­rung kam, war Venezuela das zweit­treichste Land in Lateinamerika. Inzwi­schen ist es auf einen der letzten Plätze in Lateinamerika gefallen. Seit 2013 ist die Wirtschaft um etwa 40 Prozent ge­schrumpft. Die Misere wird flankiert von einer ausgeprägten Repression der Opposition, der faktischen Ausschal­tung der Demokratie und der grassie­renden Gewaltkriminalität. Alles zu­sammen ein tödlicher Cocktail für das einst wohlhabende Karibikland.

Ende 1998 war Hugo Chávez, ein ehemaliger Fallschirmjägeroffizier, in demokratischen Wahlen an die Macht gelangt. Sein sozialistisches Programm hatte viele Fantasien geweckt – sowohl bei der venezolanischen Unterschicht, der er Sozialprogramme versprach, als auch bei den Linken weltweit, die eine Chance auf ein Revival nach dem Schei­tern des Ostblock­-Sozialismus 1989 er­hofften. Vom „Sozialismus im 21. Jahr­hundert“ träumten sie.

Ölboom deckte politische Fehler zu

Die ersten Jahre schien es gut zu gehen; Chávez schwamm auf der Woge des Ölbooms. Als er an die Macht kam, kostete ein Barrel Rohöl nur zehn Dollar, als er im März 2013 an Krebs starb, stand der Ölpreis bei mehr als dem Zehnfachen. Mit den Gewinnen des staatlichen Öl­konzerns PDVSA, der rund 95 Prozent des Staatshaushalts füllte, ließen sich Sozialprogramme, neue Krankenhäu­ser, Wohnblocks für die Unterschicht, TV­-Geräte und Kühlschränke (meist rechtzeitig vor Wahlen) finanzieren.

Doch das war keine nachhaltige Politik. Das Geld floss in Konsum und Sozial­programme, Investitionen wurden ver­nachlässigt.

Zugleich verschreckte das sozialis­tische Regime private Unternehmer. Tausende Betriebe wurden verstaat­licht, die verbliebene private Wirtschaft mit einem dichten Netz an Regulierung und Kontrollen überzogen. Das Militär übt inzwischen (wie in Kuba) in fast al­len Bereichen die Wirtschaftsaufsicht aus. Eine wuchernde Bürokratie mit tausenden Neueinstellungen treuer Parteigänger kostete viel Geld. Der für die Staatskasse gemolkene Ölkonzern PDVSA wurde mit sozialistischen Partei­kadern besetzt, erfahrene Mana­ger und Techniker wurden vertrieben.

Auch die Regierung blähte sich auf – zeitweise gab es mehr als 30 Minister und 107 stellvertretende Minister, dar­unter sogar einen, der für das „oberste Glück des Volkes“ zuständig sein sollte. Tatsächlich blühten vor allem die Kor­ruption und Selbstbereicherung der sozialistischen Elite. Zwei ehemalige Chávez­-Minister schätzten später, dass rund 300 Milliarden Dollar aus dem Ölgeschäft in den Taschen korrupter Politiker, Bürokraten und Generale ver­sickert seien.

Vor etwa fünf Jahren kippte das Land. Denn einerseits begann der Ölpreis stark zu fallen. Anderseits zeigten sich nun die Folgen der Misswirtschaft. Die Ölproduktion ist mangels Investitionen inzwischen auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren gefallen und kommt nur noch auf die Hälfte des Niveaus zu Chá­vez’ Amtsantritt. Im Ölland Venezuela wird wegen maroder Raffinerien das Benzin knapp, das bislang beinahe ver­schenkt wurde.

Marcela Vélez-Plickert berichtet
Venezuela - Sozialismus am Abgrund
Noch vor wenigen Jahren hatte das Regime in Venezuela viele Fans bei den demokratischen und nicht ganz so demokratischen Linken. Zu den Bewunderern zähl(t)en der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn, Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras sowie die deutsche Linkspartei. Das Aushängeschild der nordamerikanischen linken Intellektuellenelite, Naomi Klein, zeigte sich in dem Buch „Die Schock-Strategie“ (2007) tief beeindruckt von Venezuelas Entwurf eines erfolgreichen Kontrastprogramms zum bösen Neoliberalismus. Die Autorin meinte sogar: „Die Freiheit der Presse ist in Venezuela doch größer als in den USA.“ Schon damals wurden kritische Medien in Chávez’ Regime drangsaliert. Inzwischen geht sein Nachfolger Maduro, ein früherer Busfahrer und Gewerkschafter, brutal gegen die freie Presse und die Opposition vor. Im Frühjahr 2017 ließ er regierungskritische Proteste niederschlagen, Hubschrauber ließen Tränengas in die Menge regnen, und Polizisten auf Motorrädern schossen auf Demonstranten. Mehr als 120 Personen wurden bei den Protesten getötet, fast 2.000 Verletzte gab es, und Hunderte kamen ins Gefängnis. Mehrere Oppositionsführer wie Leopoldo López stehen unter Hausarrest oder sitzen im Gefängnis, der abgesetzte Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma, konnte nach längerer Haft fliehen.
Die unsicherste Stadt der Welt

Derweil machen bewaffnete Banden die Straßen unsicher. Caracas ist die unsicherste Stadt der Welt. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt 26.616 Morde in Venezuela – es ist damit das zweitgewalttätigste Land der Erde nach El Salvador. Zur Mordwelle tragen nicht nur Gangs und Drogenbanden, sondern auch die sozialistischen Colectivos bei – Gruppen zur „Verteidigung der Revolution“, die schon Chávez bewaffnen ließ und deren Grenzen zum organisierten Verbrechen oft fließend sind.

Die Proteste im April und Mai 2017 richteten sich gegen die faktische Entmachtung des Parlaments. Bei den letzten (halb) freien Wahlen im Jahr zuvor hatte die Opposition immerhin eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen errungen. Beim offensichtlich gefälschten Referendum im Sommer 2017 für eine Verfassungsversammlung „triumphierte“ Maduro, das neue Pseudoparlament ist mit sozialistischen Kadern besetzt. Nun operiert er faktisch wie ein Diktator.

Zuletzt versuchte das Regime, die leeren Staatskassen durch einen Trick neu zu füllen: mit einer staatlichen Digitalwährung namens El Petro, die angeblich mit Erdöl unterlegt sein soll. Es ist der letzte verzweifelte Versuch des Regimes, sich angesichts der leeren Kassen noch einmal etwas Geld zu beschaffen. Im April finden Präsidentschaftswahlen statt. Höchstwahrscheinlich wird Maduro sie für sich entscheiden, denn an eine freie und faire Wahl glaubt niemand mehr. Maduro stützt sich auf das Militär, das von kubanischen Beratern durchsetzt ist. Sein Land verarmt in rasendem Tempo. Wieder einmal scheitert ein Sozialismusexperiment unter großen menschlichen Opfern.


Marcela Vélez hat anderthalb Jahr­zehnte als Redakteurin für lateinamerikanische Zeitungen und einen TV­-Sender gearbeitet, seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in Frankfurt als Korrespondentin und Autorin, Schwerpunkte Wirtschaft und Politik.


Der Beitrag „Sozialismus im freien Fall“ ist in Heft 04/2018 von Tichys Einblick Magazin erschienen >>