Tichys Einblick
Schlaue Eidgenossen

Schweiz und EU: Nicht dabeisein ist alles

Brexit, Johnson, Himmels willen. Hinter diesem EU-Aufreger verschwindet fast ein kleines gallisches Dorf mitten in Europa. Die Schweiz. Ohne Asterix, aber mit Weitsicht und Widerstandswillen.

© Claudio Schwarz

Der EU-Bürger und der Euro-Benutzer hat die freie Wahl, worüber er sich Sorgen machen will. Den möglichen Ausstieg der zweitgrössten Wirtschaftsmacht Grossbritannien aus der EU, ohne vertraglich abgesicherte Übergangsbestimmungen. Die allerneuste Regierungskrise in der drittgrössten Euro-Wirtschaftsmacht Italien, hochverschuldet und populistisch regiert. Vielleicht denkt er auch mal an die armen Griechen, die mit Multimilliarden zu Tode gerettet wurden. Oder er macht sich Sorgen um die Target-2-Salden, wo Deutschland für rund eine Billion Euro haftet, während nur schon Italien mit einer halben Billion in der Kreide steht.

Und wenn der EU-Untertan schon dabei ist, kann er sich auch düstere Gedanken machen, wieso der grösste Wirtschaftsraum der Welt aussenpolitisch und militärisch ungefähr so viel Bedeutung hat wie Marokko. Bei der sich aufschaukelnden Krise um den Iran und im sich aufbauenden Wirtschafts- und Währungskrieg zwischen den USA und China nur Zaungast ist.

Und schliesslich auch bezüglich Migrationsdruck aus arabischen und afrikanischen Staaten ausser einem wackeligen Abkommen mit dem lupenreinen Demokraten Erdogan in der Türkei nichts, aber auch gar nichts gebacken gekriegt hat. Ausser, dass selbst die deutsche Willkommenskultur schwer nachgelassen hat.

Aber all das hindert die Eurokraten natürlich nicht daran, auch gegenüber der Schweiz die Muskeln spielen zu lassen. Denn eigentlich geht die Eidgenossenschaft schon seit 1992 unter. 700 Jahre nach ihrer Gründung entschieden damals die Helvetier, dass sie nicht zum EWR gehören wollen, als Durchlauferhitzer für den EU-Beitritt. Ausserhalb und innerhalb der Schweiz wurde das als unverständliche Dickschädeligkeit eines Alpenvolks gesehen, das doch ausser der Aufbewahrung unversteuerter und schmutziger Gelder, der Herstellung von Uhren und Schokolade und etwas Heidi-Folklore in den Bergen nichts hinkriegt.

Wie kann man nur, im Herzen Europas, diesem europäischen Haus, diesem Friedensprojekt, dieser Völkerverständigung nach leidvoller und kriegerischer Geschichte, nicht beitreten? Wie kann man da störrisch abseits stehen? Die Schweizer werden schon sehen, was sie davon haben. Die werden wieder zum Armenhaus Europas, wo aus reiner Not wagemutige Söhne und Töchter in die Welt aufbrechen.

So wurde gebetsmühlenartig und unverdrossen immer wieder der wirtschaftliche Kollaps der Schweiz an die Wand gemalt. Neue Nahrung erhielten die Untergangs-Propheten, als die Schweizer Bevölkerung 2014 die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative annahm. Zwar nur mit knapper Mehrheit, aber alle Parteien, ausser der SVP, die sie lanciert hatte, waren ausdrücklich dagegen. Bei einer Annahme, Überraschung, werde die Schweiz schwere wirtschaftliche Schäden erleiden.

Begründet wurde die Initiative damit, dass die Schweiz die Kontrolle über die Einwanderung verloren habe. Während 1980 der Anteil Ausländer an der ständigen Wohnbevölkerung noch 14 Prozent betrug, stieg er bis 2014, dem Jahr der Annahme, auf fast 24 Prozent. In Grossstädten wie Zürich beträgt der Anteil von Zürchern mit, politisch korrekt ausgedrückt, Migrationshintergrund rund ein Drittel. Interessant ist schon mal, dass die Schweiz damit, mit Ausnahme des Stadtstaates Luxemburg, mit Abstand den höchsten Anteil an Ausländern hat. Ohne dass es zu brennenden Flüchtlingsunterkünften oder massiven Protesten führen würde.

Warum hatte die Mehrheit der Schweizer Stimmbürger denn den Eindruck, dass die souveräne Schweiz nicht mehr souverän sei bei der Gestaltung der Zuwanderung? Weil die EU darauf besteht, dass ein Marktzugang ohne grosse Hindernisse für die Schweiz nur dann gestattet werde, wenn sie sich an die vier sogenannten Grundfreiheiten innerhalb der EU halte. Also den freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und auch Personenverkehr.

Obwohl das auch innerhalb der EU zu massiven Problemen, Lohndumping und der Einwanderung in besser ausgebaute Sozialsysteme führte, besteht die EU gegenüber der Schweiz darauf. Bislang war dieses nicht unkomplizierte Verhältnis durch einen ganzen Strauss von Vereinbarungen geregelt, was die Schweiz stolz als ihren bilateralen Weg bezeichnete.

Diese über hundert Verträge sollten nun in einem sogenannten Rahmenvertrag gebündelt werden. Darüber wurde jahrelang verhandelt und gefeilscht, wobei auch die Front der Eidgenossen nicht gerade geschlossen war. Auch hierzulande gibt es Stimmen und Parteien, die der Schweiz die Annahme und Ratifizierung dieses Vertrags nahelegen. Denn wenn nicht, richtig geraten, drohe der Schweiz schwerer wirtschaftlicher Nachteil, womöglich der Untergang.

Am 31. Oktober will nicht nur Grossbritannien wie auch immer aus der EU austreten, sondern zu diesem Termin endet auch die Amtszeit der aktuellen EU-Kommission, und Jean-Claude Juncker wird durch Haubitzen-Uschi von der Leyen ersetzt. Die gewann bekanntlich den ersten richtigen Wahlkampf mit Spitzenkandidaten und allem wie in Demokratien. Und das erst noch, obwohl sie gar nicht zur Wahl angetreten war.

Deshalb möchte die bis dahin noch amtierende Kommission, auch sonst nicht gerade von Erfolg verwöhnt, wenigstens noch diesen Rahmenvertrag unter Dach und Fach bringen. Dafür entblödet sich der zuständige österreichische Kommissar nicht, den ungehorsamen Eidgenossen einen «Schuss vor den Bug» zu verpassen, indem auf seinen Antrag hin die sogenannte Börsenäquivalenz für Schweizer Börsen nicht verlängert wurde. Das war aber, sonst wär’s ja kein EU-Stück, ein Rohrkrepierer; die Zürcher Börse freut sich seither über einen deutlichen Zuwachs des Handelsvolumens. Während sich auch in der Schweiz warnende Stimmen erhoben, dass das; nein, der Leser kennt die Fortsetzung schon.

Die Schweizer Regierung zögert aber, ihrerseits diesen angeblich fertig verhandelten und nicht mehr veränderbaren Vertrag nach EU-Art zu unterzeichnen. Besonders sauer stösst den Schweizern auf, dass allfällige Vertragsstreitigkeiten vor einem EU-Gericht entschieden würden, und dass sich die Schweiz verpflichten würde, im Rahmen einer sogenannten dynamischen Gesetzesübernahme europäische Bestimmungen ebenfalls einzuführen, ohne dass der Stimmbürger, wie er es gewohnt ist, dazu etwas sagen könnte.

Es wird nicht nur in Kreisen der SVP befürchtet, dass die Schweiz damit einen Grundpfeiler ihres anhaltenden Erfolgs verlieren würde: Die reichlich genutzte Möglichkeit, dass der Stimmbürger auf allen Ebenen, lokal, kantonal und schweizweit, mitreden und mitbestimmen kann. Das, und ihr ungebrochener wirtschaftlicher Erfolg mitsamt einer stabilen und harten Währung, das sind die wahren Gründe, wieso eine unabhängige Schweiz den Eurokraten ein Dorn im Auge, ein Stachel im Fleisch ist. Die Schweiz eilt von einem Leistungsbilanzüberschuss zum nächsten, exportiert mehr in die EU, als sie von dort importiert, hat eine Heerschar von innovativen, flinken Unternehmen, die sich im Stahlbad der ständigen Aufwertung des Frankens bewähren müssen.

Die EU käme nicht im Traum darauf, von China, von den USA, von anderen Partnern bei Freihandelsabkommen zu verlangen, dass die, als Bedingung für den möglichst ungehinderten Marktzugang, Personenfreizügigkeit zulassen und Handelsbestimmungen der EU übernehmen müssten. Darüber würde Trump und die chinesische Führung nicht einmal lachen, so absurd wäre das. Natürlich übernimmt die Schweiz heute schon, wie alle EU-Staaten, unzählige Verordnungen, die in Brüssel ausgebrütet werden. Aber wichtig ist eben: Sollte es dem Schweizer Stimmbürger, hierzulande Souverän genannt, einfallen, dass ihm eines dieser Gesetze nicht passt, kann er weiterhin dagegen das Referendum ergreifen.

Der Schweiz wird weiter vorgeworfen, sie solle endlich ihre Rosinenpickerei lassen und sich zur Verantwortung im europäischen Staatenverbund bekennen. Absurd. Die existierenden vertraglichen Vereinbarungen zwischen der EU und der Schweiz sind auch in zähen Verhandlungen entstanden. Und ein Vertrag wird bekanntlich von mindestens zwei Beteiligten, die wissen, was sie tun, unterschrieben. Also entweder haben die EU-Verhandlungspartner schlecht ihre Interessen gewahrt oder die Schweiz hätte sie über den Tisch gezogen. Beides absurde Vermutungen.

Und ihrer Verpflichtung im europäischen Haus kommt die Schweiz durchaus nach, sogar freiwillig. Das entsprechende Gefäss heisst hierzulande Kohäsionsmilliarde. Mit diesem Geld soll der Zusammenhalt in der EU gefördert, EU-Mitgliedern beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Zivilgesellschaft und der Bewältigung der Flüchtlingswelle unter die Arme gegriffen werden. Lassen wir dahingestellt, ob das auch funktioniert.

Nun ist aber, natürlich auf Drängen der wie immer klammen EU, die nächste Milliarde fällig, genauer 1,3 Milliarden Franken, rund 1,1 Milliarden Euro. Die sollte eigentlich im September überwiesen werden, und die Schweizer sind – im Gegensatz zu vielen anderen Staaten, auch in der EU – pünktliche Zahler. Aber, kleine Schikane, an die Auszahlung wurde vom Parlament die Bedingung geknüpft, dass sie nur erfolgen solle, wenn bis dahin die EU die Schweiz nicht weiter diskriminiert. Kujoniert, quält, erpresst. Das ist nun aber mit dem «Schuss vor den Bug» einwandfrei geschehen, unbeschadet davon, dass es zum Schuss ins eigene Knie wurde.

Diejenigen Parteien in der Schweiz, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass man bei der Trümmerveranstaltung EU gut Wetter machen müsse, wollen nun die endgültige Abstimmung über diese 1,3 Milliarden am liebsten auf nach den nächsten eidgenössischen Parlamentswahlen im Oktober verschieben. Die EU-Kommission will aber natürlich die Kohle noch in ihrer Amtszeit sehen. Also ist wohl der nächste Zankapfel bereits gepflückt. Wetten, dass der der EU wieder weniger bekommen wird als der Schweiz?

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