Tichys Einblick
Land zwischen Banlieue und Privatschulen

Schulen in Frankreich: „Soziale Mischung“ wird auf morgen verschoben

Eigentlich wollte Bildungsminister Pap Ndiaye die „soziale Mischung“ an französischen Schulen vorantreiben. Doch das Land hat wenig Lust darauf, und Macron fürchtet weiteren Protest. Schon fast abgewickelt hat Ndiaye den Laizismus an Frankreichs Schulen. Er soll durch Antirassismus ersetzt werden.

Frankreichs Bildungsminister Pap Ndiaye zu Besuch an einer Grundschule

IMAGO / PanoramiC

Der französische Bildungsminister Pap Ndiaye hat sich den Umbau des nationalen Bildungssystems vorgenommen. Seine längerfristigen Ziele und Absichten drücken sich in zwei Vorhaben aus, die beide mehr oder minder hinter den Kulissen vor sich gehen. Seit Amtsantritt wird Ndiaye als Vertreter des Wokismus verdächtigt. Nicht ohne Grund. Seine akademischen Sporen verdiente sich der Sohn einer französischen Lehrerin und eines senegalesischen Ingenieurs in der Forschung zur Geschichte der Schwarzen in Frankreich und den USA, war zuletzt Professor für Geschichte an der Hochschule „Sciences Po“ und später Leiter eines Museums für Immigrationsgeschichte im Palais de la Porte Dorée, dem „Palast der goldenen Pforte“ – wie bezeichnend. Für diese Laufbahn lobte ihn der Ultralinke Jean-Luc Mélenchon – doch nicht für seinen Eintritt in eine „rechte“ Regierung unter Präsident Macron. Ndiaye selbst sieht sich als „pures Produkt der republikanischen Meritokratie“ Frankreichs – aber mit deutlichen Woke-Einsprengseln, so darf man wohl sagen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Und eigentlich wollte der Minister ja nur die „soziale Mischung“ an den Schulen des Landes sicherstellen, und das nicht nur in den staatlichen Instituten, für die er sicher zuständig ist, sondern auch an Privatschulen, die vom Staat hohe Zuschüsse erhalten. Von diesen wünscht sich Ndiaye, so schrieb er noch Mitte April in einem Zeitungsbeitrag für den Figaro, eine „bezifferte Zusage“, was die Durchmischung der Klassen angeht. Dabei dürfte es aber eher um eine ethnisch-kulturelle als eine rein soziale Vermischung gehen. Das legt schon die Demographie Frankreichs nahe.

Die öffentliche Vorstellung seiner Pläne musste Ndiaye nun absagen. Der Pressetermin am vergangenen Donnerstag entfiel zugunsten eines fast geheimen Treffens mit den angereisten Rektoren sowie einer „konfusen“ Pressemitteilung, in der der Bildungsminister dennoch auf seinem Ziel beharrte, die sozialen Unterschiede an den Schulen des Landes zu reduzieren. Das sollen nun die Rektoren in Eigenregie richten. Bis zum Jahr 2027 sollen sie für eine Reduktion der Unterschiede um 20 Prozent sorgen.

Wie und mit welchen Mitteln, bleibt den Schulleitern überlassen. Ihnen stünden sicher zahlreiche „Hebel“ zur Verfügung, so bemerkte Ndiaye in seiner Mail an die Presse. Sein schein-konkreter Plan ist aus praktischer Sicht vollkommen undefiniert. Eine „akademische Instanz für den Dialog, die Konzertierung und die Steuerung der Durchmischung“ soll den Rektoren angeblich bei der Umsetzung helfen. Das Projekt wird nun schlicht hinter verschlossenem Vorhang umgesetzt.

Das wirkliche Problem und seine offizielle Verhüllung

Der Fernsehsender BFM TV erklärte Ndiaye umgehend zum „Phantom-Minister“, welcher gerade ein ganzes Vivarium an Kröten schlucken müsse. Das Ziel Ndiayes sei lobenswert, es erzürne aber viele Eltern. Für diese Eltern scheint das Ziel alles andere als lobenswert zu sein. Anscheinend wollte Emmanuel Macron sich den Zorn genau dieser Eltern ersparen. Denn der Präsident soll höchstselbst eingeschritten sein. Das Thema – oder seine öffentliche Verhüllung – wurde zur Chefsache.

Der Chef der Gewerkschaft für Collèges und Lycées (Snalc), Jean-Rémi Girard, kommentierte trocken: „Wir wussten von Anfang an, dass es bei der sozialen Mischung zu 90 Prozent um Kommunikation geht.“ Dieses Thema auch nur zu berühren, sei sehr kompliziert. Gute Absichten seien dem politischen Kalkül geopfert worden, sekundierte eine weitere Gewerkschaftlerin. Natürlich durch den einschreitenden Präsidenten, der sich so zum Ober-Bildungsminister aufgeschwungen habe. Dabei sei das Problem ein reales. Aber worin besteht es tatsächlich?

Der Parteigründer und luzide Analyst Éric Zemmour (Reconquête) stellte schon im April klar: „Was Ndiaye soziale Durchmischung nennt, ist eine migrantische Durchmischung.“ Zemmour beklagt, dass schon heute das Bildungsniveau der französischen Schüler erheblich abgesunken sei. Ein partieller Analphabetismus breite sich aus. So könne ein Fünftel der 14-Jährigen einen Text nicht korrekt lesen. Dieser Anteil wachse aber in den islamisierten Banlieues, den sogenannten „populären Vierteln“, auf 50 Prozent an. Im PISA-Classement für Mathematik sei Frankreich auf dem letzten Platz in der EU angekommen. „Eine Katastrophe“ sei das, die Zemmour vor allem auf die Zerstörung der Bildungsstandards, die Aufgabe der „traditionellen Methoden“ seit 40 Jahren zurückführt. Der Niveauverlust war danach unvermeidlich. Die Immigration und ihre Folgen kamen laut Zemmour hinzu, wurden auf dieses bereits zerfallende System „aufgepropft“. Die Zuwanderer hätten eben „größtenteils“ – das betont Zemmour – ein „sehr schwaches soziokulturelles Niveau“, zudem seien „diese Bengel“ oft sehr gewaltbereit.

Was daraus folgt? Für Pap Ndiaye offenbar, dass man die getrennten Gesellschaftssegmente vermischt und sich so eine Besserung erhofft. Oder geht es doch nicht um besseren Lernerfolg, sondern nur um ein soziales Experiment, das Frankreich einen Schritt näher an eine gleichberechtigte multikulturelle Gesellschaft führen soll?

Künftig Banlieue-Stipendiaten für die Privatschulen?

Die „soziale Mischung“ der Schulen war angeblich eines von Ndiayes Kernanliegen seit seinem Amtsantritt im vergangenen Sommer. Zu hören war von Plänen, die einem ausgedehnten Experiment im Social-Engineering glichen. Der Minister stellte sich „sections d’excellence“ in benachteiligten Regionen und Vierteln vor. Also Exzellenzcluster für die Banlieues? Daneben sollten benachbarte Zwillingsschulen mit „stark kontrastierender“ Sozialstruktur entstehen. Beide Vorschläge muten eher bemüht bis absurd, ja exotisch an und wurden nun zurückgezogen, um keinen weiteren Sprengstoff in der französischen Bürgerschaft auszusäen.

Doch an einem, wohl dem heikelsten Punkt scheint man sich zu verbeißen: Die Privatschulen hat der Minister noch nicht vom Wickel gelassen. Es geht hier vor allem um katholische Schulen, die zu 75 Prozent vom Staat finanziert werden. Ebendieser Staat, zufälligerweise eine laizistische Republik, erwartet sich nun Durchgriffsrechte im Sinne von „Stipendiaten“ – wohl aus weniger betuchtem Umfeld –, die zwangsweise von den Schulen aufzunehmen wären.

Alarmierende Zahlen vor Migrationsgipfel
Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen ohne Berufsausbildung haben einen Migrationshintergrund
Während der Anteil der Privatschüler in Deutschland noch bei rund neun Prozent liegt, aber auch seit Jahren ansteigt, besucht in Frankreich heute schon jeder sechste Schüler eine Privatschule. Auch Pap Ndiaye hat seine beiden Kinder übrigens auf privaten Elite-Schulen untergebracht. Nicht weiter verwunderlich ist, dass die Mehrheit dieser Schüler aus eher guten Verhältnissen stammen, während 99 Prozent der Ärmsten auf staatliche Schulen gehen. Der öffentlich-rechtliche Radiosender France Culture findet diese Verteilung dennoch keineswegs „normal“, immerhin bezögen doch auch die privaten Schulen einen Großteil ihrer Einnahmen vom Staat. Auch im öffentlichen Radio stimmt man daher zu, dass den Schulen „Stipendiaten“ zu verordnen seien. Muss also der katholische Schulrektor bald nicht nur bildungsferne Arbeiterkinder aufnehmen, sondern vielleicht sogar muslimische Problemschüler aus den Banlieues der großen Städte?

Die endgültige Entscheidung wird erst in den kommenden Tagen fallen. Der Generalsekretär der Interessenvertretung der katholischen Bildungseinrichtungen, Philippe Delorme, protestierte lautstark: „Wir werden keine Quoten, keine Anbindung an die Schulbezirke und keine Zwangszuweisung von Schülern akzeptieren.“

Konservative schlagen sich auf die Seite der Kritiker: Kommt ein neuer Schulkrieg?

Auf diesen Zug der Kritik sind nun auch die gemäßigt-konservativen Républicains aufgesprungen. Von Marine Le Pen ist seit längerem bekannt, dass sie Ndiaye für eine „schreckliche Wahl“ hält, weil er ein Vertreter des Wokismus und eines rassistischen Indigenismus sei. Damit ist eine Emanzipationsbewegung der einstigen Kolonialsubjekte Frankreichs gemeint, die sich – ähnlich wie die Black-Lives-Matter-Bewegung – vor allem auf die Unterscheidungsmerkmale von Aussehen und Hautfarbe stützt. Dieses Programm an der Spitze des Bildungsministeriums sah Le Pen als erschreckend für Eltern und Großeltern gleichermaßen an.

Tatsächlich hatte sich Ndiaye bei einem offiziellen USA-Besuch als Anhänger der Wokeness zu erkennen gegeben. Die Bewegung sei in seinem Heimatland umstritten, was Ndiaye aber auf den Anti-Amerikanismus der Franzosen zurückführte, die dieses segensreiche Geschenk der US-Campus-Kultur in vielen Fällen nicht annehmen wollen. Kritik an diesem impliziten Verrat an Frankreich findet sich bis heute in Presse und Politik.

Nun beschrieb auch der Chef der Républicains (LR), Éric Ciotti, den Bildungsminister Ndiaye als Exponent eines „enthemmten Wokismus“ und einer „egalitaristischen Ideologie“. Das ist insofern bemerkenswert, als Ciotti noch vor kurzem auch eine Koalition mit der macronistischen Minderheit zugetraut wurde. In einem Gastbeitrag im Figaro forderte Ciotti den Minister auf, die „freien Schulen“ in Ruhe zu lassen. Ndiaye solle sich lieber um die verfallenden Staatsschulen kümmern, statt private Schulen als „Refugien der sozialen Ungleichheit“ zu karikieren, die sie nicht seien. Daneben warnte Ciotti vor einem erneuten „Schulkrieg“ (une nouvelle guerre scolaire), den Ndiaye aus „purer Ideologie“ vorbereite.

Damit bezog sich Ciotti auf das Jahr 1984, als unter Präsident Mitterrand die Zugangsprüfungen für Hochschulen und Universitäten (im sogenannten Gesetz Savary) abgeschafft werden sollten. Die Änderung rief damals heftige Proteste hervor, die als „umgekehrter Mai 1968“ charakterisiert wurden, weil nicht linke Studenten, sondern Rechte und Konservative auf die Straße gingen.

Laizismus-Rat soll nun auch für Antirassismus zuständig sein

Ndiayes Politik ist inzwischen auch an anderer Stelle in harsche Kritik geraten. So scheint er gerade dabei zu sein, den noch relativ jungen Rat der Weisen zum Laizismus in den nationalen Bildungseinrichtungen (Conseil des Sages de la laïcité, CSL) von Grund auf umzugestalten und auch ihn zu einem „Werkzeug des Wokismus“ zu machen. Erst 2018 hatte Ndiayes Vorgänger, Jean-Michel Blanquer, den Rat gegründet, um dem Verfall laizistischer Werte – also dem Vordringen des Islam – an französischen Schulen etwas entgegenzusetzen. Allein im März gab es 500 Angriffe auf die laizistische Grundverfassung der Schulen – doch Ndiaye kommentierte, das sei in jedem Ramadan so, während der Leiter der Pariser Moschee die Zahl bezweifelt.

Heute soll die Zielsetzung des Laizismus-Gremiums offenbar umgedreht werden. Im April wurde ein deutlicher Kritiker des klassischen Laizismus in den Laizismus-Rat berufen. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Alain Policar hatte einst geschrieben, man dürfe „aus dem Laizismus“ keine „Waffe gegen die Religion“ machen.

Frankreich
Vermutlich muslimische Fußballer verweigern sich dem Regenbogen
Was soll er dann in diesem Gremium? Das fragen auch die Schwester des von einem Islamisten ermordeten Samuel Paty und der Präsident der Unité laïque. Im Wochenmagazin Le Point warnen Mickaëlle Paty und Jean-Pierre Sakoun vor einem „Mord am Laizismus“. Den Bildungsminister gehen die beiden dabei auch in Person an: „Die Laizisten und Anhänger der Republik wissen seit seiner Nominierung, dass Pap Ndiaye weder Laizist noch Universalist ist.“

Nach der Meinung von Fachleuten will Ndiaye den Laizismus-Rat letztlich „neutralisieren“. Der Rat soll künftig auch für den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Diskriminierungen zuständig sein, die man heute gerne „Hass“ nennt. So will der Minister laut eigenen Worten die „Liebe“ der Franzosen zum Laizismus steigern – gemeint ist offenbar die Zuneigung der Minderheiten zur bisher ungeliebten laizistischen Republik, die Ndiaye durch Anti-Diskriminierungsmaßnahmen erkaufen will. Das gleicht dem Vorgehen der Bundesregierung, die Geld auf halbstaatliche Netzwerke zur „Demokratie-Förderung“ verteilt, welche oft geradewegs den Parallelgesellschaften zufließen.

Doch Mickaëlle Paty und Jean-Pierre Sakoun befürchten mittelfristig ganz anderes durch Ndiayes Umbaumaßnahmen, nämlich ein Wachsen der „Extreme“. Und auch Samuel Paty werde so zum wiederholten Male symbolisch geopfert. Mit Pap Ndiaye, so schreiben Paty und Sakoun, habe der Kommunitarismus, der sich seit langem im Bildungsministerium eingenistet hat, einen Anführer bekommen. Hier geht es um die französische Version von Identitätspolitik und einer mehr oder minder freiwilligen Selbstghettoisierung, die man heute überall in Europa in den wachsenden Parallelgesellschaften erkennen kann.

Auch republikanische Traditionalisten wie die Philosophin Elisabeth Badinter im Express warnen davor, dass die eigentliche Gefahr für die französischen Schulen aus der Erosion der Autorität und aus der (woken) Bezweiflung des Laizismus durch die junge Generation herrühre. Die allseits wohlgelittene Badinter fasst so gleichsam die Positionen von Zemmour, Paty und Sakoun in einem Atemzug zusammen.

Macron hat noch immer genug mit Bürgerzorn zu tun

Geschätzt wird, dass Präsident Emmanuel Macron einen zweiten „Schulkrieg“ nicht wagen wird. Die Proteste gegen die Anhebung des Rentenalters auf 64 Lebensjahre stecken ihm noch in den Knochen, sind noch keineswegs beendet. Bei Reisen werden seine Minister überall von kochtopfschlagenden Bürgern empfangen, die am Protest gegen die Rente mit 64 festhalten.

Premierministerin Borne wurde nun gar im Übersee-Département La Réunion, kurz hinter Madagaskar im Indischen Ozean, ausgebuht und ausgepfiffen. Für Macron selbst versucht man, die Szenen durch ein massives Sicherheitsaufgebot zu vermeiden – wie nun in Dünkirchen im industriellen Norden des Landes. Doch es bleibt bei einem schalen Eindruck. Der Kontrast ist stark zwischen dem Regierungshandeln, das auf eine oft staatlich angestellte Elite aus dem Pariser Becken und anderen Großstädten abzielt, und diesen ländlich-industriellen Bürgern, die vollkommen andere Sorgen haben.

Auch Pap Ndiaye begegnet dem „Druck der Kochtöpfe“, sobald er sein Ministerium in der Rue de Grenelle verlässt.

Wer aber zu alldem schweigt, das ist die Linke, und das dürfte verräterisch sein. Der inoffizielle Anführer Jean-Luc Mélenchon hatte die Berufung Ndiayes noch begrüßt, weil der als Leiter des Migrationsmuseums auch gegen die Partei Marine Le Pens ausgeteilt hatte. Später sagte Ndiaye aber, dass sich aus seiner Sicht auch die Mélenchon-Partei La France Insoumise (LFI) am Rand des „demokratischen Bogens“ bewegt. Nun schweigt das linke Bündnis NUPES zu den halb verhüllten Schulplänen, deren Gelingen den Linken genauso gut gefallen dürfte wie ihr Scheitern, wenn auch aus jeweils ganz verschiedenen Gründen. Wer schweigt, stimmt zu.

Anzeige