Tichys Einblick
Rubel, Pässe und Verwaltung

Russlands Annexionspolitik verletzt das internationale Recht

Russlands Gewaltherrschaft in den besetzten Teilen der Ukraine greift mit allen Mitteln durch. Zur Ukraine loyale Bürgermeister verschwanden. Stattdessen wird die Verwaltung nach russischem Muster umgebaut und mit ukrainischen Quislingen besetzt. Ein Bruch der Haager Landkriegsordnung.

Ein Mann hisst eine russische Flagge in der besetzen ukrainischen Stadt Melitopol, 01.07.2022

IMAGO / ITAR-TASS

Falls irgendwer irgendwann tatsächlich einmal geglaubt haben sollte, es ging Russland in der Ukraine lediglich um eine als „militärische Spezialoperation“ camouflierte Polizeiaktion, so muss er sich mittlerweile eines Besseren belehren lassen. Putin Terrorüberfall hat ganz klassisch nichts anderes zum Ziel, als die Grenzen seines Russlands nach Westen zu verschieben und dauerhaften, territorialen Zugewinn zu machen.

Nicht, dass er daraus jemals tatsächlich ein Hehl gemacht hätte – die Absicht lag spätestens seit 2008 für jedermann erkennbar auf dem Tisch. Doch zwischenzeitlich betreibt das russische Imperium seine aggressive Landerweiterung ohne jede Tarnung. Nicht einmal mehr jene Farce einer Abstimmung, mit der Putin 2014 den untauglichen Versuch unternommen hatte, die Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel völkerrechtlich zu legitimieren, ist heute noch nötig. Putin agiert nach dem bekannten Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert.“

Die Zwangsrussifizierung besetzter Gebiete

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In der Startphase des Terrorüberfalls auf das Nachbarland gaben sich die Eroberer noch zurückhaltend. In der Provinzhauptstadt Kherson, die die Überfallsarmee von der Krim ausgehend in den ersten Stunden erobert hatte, schien es anfangs sogar noch so, als ob die ukrainische Administration weiter ihren Aufgaben nachgehen könne. Auch Protestdemonstrationen der ukrainischen Bevölkerung wurden zähneknirschend geduldet, schlimmstenfalls mit ein paar Schüssen in die Luft aufgelöst.

Mittlerweile jedoch greift Russlands Gewaltherrschaft mit allen Mitteln durch. Zur Ukraine loyale Bürgermeister verschwanden – wie bereits 2014, als im Osten der Ukraine russisch unterstützte Terroristen die Gewalt an sich gerissen hatten. Stattdessen wird die Verwaltung nach russischem Muster umgebaut und mit ukrainischen Quislingen besetzt. 

Demonstrationen werden nicht mehr zugelassen – und selbst die Ausreise in den noch nicht besetzten Teil der Ukraine wird verhindert. Wer die vom russischen Bombenteppich vernichteten Städte verlassen möchte, muss dieses in Richtung Osten tun. Dort kann er sich, versehen mit einem russischen Pass, irgendwo in den Weiten Russlands ansiedeln lassen. Wer seine Heimat nicht verlassen möchte, dem wird von Russland anstelle seines bisherigen ukrainischen Passes ein russischer aufgezwungen. Bonmot am Rande:  Damit wurde der Betroffene nicht nur ethnisch gesäubert, sondern unterliegt ab sofort auch der russischen Gesetzgebung bis dahin, dass er zum Kriegsdienst gezwungen werden kann, um gegen seine ukrainischen Landsleute zu kämpfen.

Um die russische Landnahme perfekt zu machen, wird in den besetzten Gebieten zudem die ukrainische Landeswährung für ungültig erklärt und durch den Rubel ersetzt.

Die Zwangsrussifizierung als völkerrechtswidrige Landnahme läuft damit auf Hochtouren.

Bei Krieg greift die Landkriegsordnung

Handelte es sich bei Russlands Terrorüberfall um einen Krieg – was er mangels Kriegserklärung auch dann nicht ist, wenn sich der irreleitende Begriff vom „Angriffskrieg“ mittlerweile durchgesetzt hat –, wären allein in dieser völkerrechtswidrigen Annexion durch die Hintertür zahlreiche Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung (HLO) festzustellen. Jener Versuch aus dem Jahr 1907, die Maschinerie der gegenseitigen Selbstvernichtung in „zivilisierte“ Bahnen zu lenken, wurde seinerzeit auch vom Kar als „Seine Majestät der Kaiser aller Reußen“, vertreten durch „Seine Exzellenz Herrn Nelidow, Allerhöchstihren Wirklichen Geheimen Rat, Botschafter in Paris; Seine Exzellenz Herrn von Martens, Allerhöchstihren Geheimen Rat, ständiges Mitglied des Rates im Kaiserlichen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Mitglied des Ständigen Schiedshofs und Seine Exzellenz Herrn Tcharykow, Allerhöchstihren Wirklichen Staatsrat, Kammerherrn, außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister im Haag“ gezeichnet und wäre verbindliche Rechtsgrundlage für einen von Russland ausgehenden Krieg.

Ukrainisches Recht ist zu gewährleisten

In der HLO wird in Artikel 43 gewährleistet: „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“

Bedeutet: Jedwede Ersetzung ukrainischen Rechts in den besetzten Gebieten ist ein Verstoß gegen die HLO.

Zwangsrussifizierung ist unzulässig

In Artikel 45 steht unmissverständlich: „Es ist untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten.

Die durch die Bedrohung für Leib und Leben erzwungene Aushändigung eine Russischen Passes an die Opfer des Terrorüberfalls ist unmittelbar mit einem Treueeid für das besetzende Land verknüpft. Das Opfer dieser Zwangsrussifizierung steht ab sofort unter russischem Recht und könnte im Falle eines weiteren Einstehens für sein Land Ukraine sogar nach russischem Recht abgeurteilt werden. Damit greift nicht nur Art. 45 HLO, sondern nun auch Artikel 44: „Einem Kriegführenden ist es untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, Auskünfte über das Heer des anderen Kriegführenden oder über dessen Verteidigungsmittel zu geben.“ Denn genau dieses kann eine Erwartung sein, die Russland an die zwangsrussifizierten Ukrainer heranträgt.

Verantwortungsvolle Verwaltung statt Annexion

Jedwede offene oder schleichende Annexion ist nach HLO unzulässig. Artikel 55 und 56 schreiben fest: „Der besetzende Staat hat sich nur als Verwalter und Nutznießer der öffentlichen Gebäude, Liegenschaften, Wälder und landwirtschaftlichen Betriebe zu betrachten, die dem feindlichen Staate gehören und sich in dem besetzten Gebiete befinden. Er soll den Bestand dieser Güter erhalten und sie nach den Regeln des Nießbrauchs verwalten. Das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienste, der Wohltätigkeit, dem Unterrichte, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staate gehören, ist als Privateigentum zu behandeln. Jede Beschlagnahme, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet werden.“

Das bedeutet: Jeglicher von Russland oder russischen Hilfstruppen besetzter Quadratzentimeter ukrainischen Bodens bleibt ukrainisches Territorium, für dessen Bestand das besetzende Russland vorübergehend die Verantwortung übernommen hat. Russland steht in der Pflicht, das dortige öffentliche und private Eigentum derart zu behandeln, dass es jederzeit an den eigentlichen Eigentümer weitgehend unbeschädigt zurückgegeben werden kann. Das aber bedeutet auch: Sollte Russland dazu nicht in der Lage sein, weil es vorsätzlich die entsprechenden Gebäude und Güter zerstört oder deren Erträge gestohlen hat, haftet der Russische Staat uneingeschränkt für diese Schäden.

Geplündertes Gut darf beschlagnahmt werden

Nicht zuletzt sagt Artikel 47: „Die Plünderung ist ausdrücklich untersagt.“

Wer die Bilder jener mit ukrainischem Privateigentum bepackten Lastkraftwagen in Erinnerung hat, die aus den vorübergehend besetzten Orten der nördlichen Zentralukraine über Belarus in die Fernen Russlands geschleppt wurden, bei dem dürften keinerlei Zweifel bestehen, dass Putins Terroristen auch massiv gegen den Artikel 47 HLO verstoßen haben. Dass zudem die HLO auch den Diebstahl von Gütern wie Getreide oder Energieträgern zwecks Weiterverkaufs an Dritte nicht zulässt (Art. 52/53), bedarf kaum noch einer Erwähnung und führte in einem regulären Krieg ebenso wie bei einem terroristischen Überfall zu entsprechenden Beschlagnahmeverfügungen, weshalb die Türkei jüngst in der türkischen Hafenstadt Karasu den unter russischer Flagge fahrenden Getreidefrachter „Zhibek Zholy“ erst einmal festgesetzt hat. Denn der offiziell aus der russischen Küstenstadt Noworossijsk kommende Frachter soll laut einem „Telegram“-Tweet am vergangenen Donnerstag im Hafen Berdjansk gelegen haben.

Berdjansk ist eine derzeit besetzte, ukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer – der Autor des Tweets der von Russland eingesetzte Zwangsverwalter für die ukrainische Region Saporischschja, Jewgeni Balizki. Die russische Annexion der gewaltsam besetzten Gebiete entweder mental bereits abgeschlossen habend oder schlicht zu dumm, um die Tragweite seines Tweets zu erkennen, hatte Balizki damit nahegelegt, dass es sich bei der Fracht um gestohlenes ukrainisches Getreide handelt. Damit wiederum wäre nach Kriegsrecht wie im Falle eines Terrorüberfalls die Beschlagnahme rechtens.

Warum Putin keinen Krieg führen darf

Bei all dem wird nun aber auch nachvollziehbar, weshalb Putin den Begriff „Krieg“ in Zusammenhang mit seinem Terrorüberfall auf die Ukraine meidet wie der Teufel das Weihwasser. Gestünde er ein, dass seine „Spezialoperation“ ein Krieg ist, müsste er seine marodierenden Horden nicht nur an die Kette geregelter Kriegsführung legen und auf die terroristische Zerstörung ganzer Landstriche und Lebensgrundlagen ebenso verzichten wie auf den Einsatz international geächteter Waffen – die Welle der Regressansprüche durch die Ukraine und all jener auch nicht-ukrainischen Personen, deren Eigentum durch den russischen Angriff zerstört oder beschädigt wurde, müsste Russlands Staatshaushalt über Jahrzehnte belasten.

Mit der „Spezialoperation“ meint der Leningrader, all diese internationalen Misslichkeiten umschiffen zu können – auch wenn er faktisch einen Krieg führt, darf er juristisch keinen Krieg führen, weil damit Russland auf eine absehbare Ewigkeit im internationalen Geschäft zum Paria würde und die berechtigten Regressansprüche mit noch so viel gefördertem Öl- und Gas nicht bedienen könnte. Russland könnte schlagartig international rechts- und handlungsunfähig werden. 

Allein die Ukraine beziffert den aktuellen Aufwand für den Wiederaufbau der durch Russland zerstörten Werte auf eine Höhe von mindestens 720 Milliarden Euro.  Dabei handelt es sich jedoch nur um die Spitze des Eisbergs – und je länger Russlands Soldateska in der Ukraine wütet, desto höher wird der Regress. Die westlichen Staaten werden aushelfen – und ihre Ansprüche auf Russlands Regresskonto schreiben.

Was nicht Krieg ist, ist Terror

Besser allerdings wird Russlands Position durch den krampfhaften Versuch, einen territorialen Eroberungsfeldzug ohne Krieg zu führen, auch nicht. Denn wenn es kein Krieg ist, dann ist es Terror. Anderer Unterscheidungen kennt das internationale Recht nicht. Weshalb die Ukraine den Nagel auf den Kopf trifft, wenn sie von Russland als von einem „Terrorstaat“ spricht. 

Wie sich diese Tatsache für jene auswirken kann, die sich als Putin-Anhänger außerhalb Russlands für den Chefterroristen im Kreml in die Bresche schlagen, ist dabei bislang noch nicht einmal ansatzweise ausgeleuchtet. So kennt das bundesdeutsche Strafrecht mit §129a in Absatz 5 den Straftatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und sieht bei Vereinigungen, „deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b“ – mithin alles Straftaten, die Putin und seinen Erfüllungsgehilfen anzulasten sind – Strafen von bis zu zehn Jahren Haft vor. Da könnte auf die Strafverfolgungsbehörden einiges an Arbeit vorkommen, wenn demnächst die ersten Anzeigen gegen bekennende Putin-Unterstützer eingehen.

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