Tichys Einblick
Massaker von Wolhynien

Melnyk entlassen, weil er das Verhältnis der Ukraine zu Polen belastet hat

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seinen Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk entlassen. Seine Verharmlosung des Massakers von Wolhynien hatte den Ukraine-Partner Polen verärgert. Genau diesen Konflikt kann sich die Ukraine nicht leisten.

IMAGO / Eastnews

Die Aussagen des entlassenen ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk über den Partisanenführer Stepan Bandera haben in Polen gemischte Gefühle hervorgerufen. Die Verbrechen der UPA an polnischen Zivilisten sind zweifelsfrei belegt. Und dennoch müssen wir uns fragen, ob wir dies in einer Zeit diskutieren sollten, in der ein brutaler russischer Diktator einen präzedenzlosen Angriffskrieg in der Ukraine führt.

Gedenk- und Jahrestage kommen bekanntlich selten ohne politische Sottisen aus, doch bieten sie auch die Möglichkeit, einige historische Tatsachen zurechtzurücken. Am 11. Juli 1943 griffen Verbände der Ukrainischen Aufständischen Armee UPA gleichzeitig 160 Ortschaften in dem mehrheitlich polnisch besiedelten Wolhynien an. Mehrere Tausend Polen wurden regelrecht hingerichtet. Dies war der Höhepunkt eines Massenmords, der bereits einige Jahre zuvor begann und noch bis 1944 andauerte. Insgesamt sollen in dieser Zeit mehr als 150.000 Polen vom militärischen Arm der OUN umgebracht worden sein, von einer mit den deutschen Nationalsozialisten kollaborierenden Organisation, die am Dnepr teilweise bis heute mit besonderer Verehrung bedacht wird.

Auch viele ukrainische Zivilisten haben im Sommer 1943 in Wolhynien und Ostgalizien gebrandschatzt und gemordet. Mit Äxten und Feuerwaffen bewaffnet, griffen sie gar polnische Kinder und Säuglinge an. Noch in den letzten Kriegsmonaten steckten sie Gebäude in Brand, häufig am frühen Morgen, wenn die Familien schliefen. Zum Angriffsziel der Ukrainer wurden ebenfalls katholische Kirchen, zumeist an Sonntagen, wenn sich polnische Gläubige zum Gottesdienst trafen. Die sonntäglichen Massentötungen „erleichterten“ freilich die Arbeit der Täter, die an anderen Tagen von Haus zu Haus zogen. Die ukrainischen Partisanen wollten auf diese Weise ihren Anspruch auf Wolhynien untermauern.

In Kiew werden diese ungeheuren Verbrechen eigentlich nicht mehr angezweifelt, obgleich dem einen oder anderen Abgeordneten der Werchowna Rada das Wort „Völkermord“ immer noch nicht über die Lippen kommt. In der historischen Betrachtung des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken gilt das Massaker von Wolhynien als eine von vielen „gegenseitigen Gräueltaten“ während des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich gab es später einige Vergeltungsaktionen. Nur wurden diese Taten von der polnischen Exilregierung in London rasch verurteilt und die daran beteiligten Personen zur Verantwortung gezogen. Von einer „Heldenverehrung“ kann keine Rede sein.

Die letzten Aussagen des kürzlich entlassenen ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk über den UPA-Anführer Stepan Bandera mussten daher in Warschau unweigerlich Entsetzen auslösen. Seine Worte als tendenziös zu bezeichnen, wäre eine arge Untertreibung. Schade, denn der aus Lwów stammende Diplomat hatte in Berlin unlängst vortreffliche Arbeit geleistet. Was Melnyk aber nicht sieht oder nicht sehen will: Einige der bedrückenden Seiten unserer polnisch-ukrainischen Beziehungsgeschichte wurden nach wie vor nicht aufgearbeitet. Wir halten fest: Der Partisanenführer Bandera ringt dem 46-jährigen Noch-Botschafter Bewunderung und Erstaunen ab. So weit, so schlecht. Weitaus beunruhigender ist die Tatsache, dass Melnyk die längst von zahlreichen Historikern erforschten Ereignisse und Zahlen offenbar überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt.

Es ist im Übrigen keineswegs eine „gewagte“ Behauptung, dass Stepan Bandera für den Tod Tausender unschuldiger Polen verantwortlich ist. Belegbar ist jedoch ebenso die Annahme, dass sich nicht alle UPA-Verbände ausschließlich aus bestialischen Mördern zusammensetzten, die in der Zweiten Polnischen Republik eine Spur der Verwüstung hinterließen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung hat die von den Nazis und Sowjets zermalmte Ukraine während des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Politiker hervorgebracht, die einen ehrwürdigen Platz in der europäischen Geschichte einnehmen. Der ukrainische Widerstandskämpfer Taras Borowez hat sich den antipolnischen Tendenzen und Säuberungsplänen der Banderisten vehement widersetzt. Eine polnisch-ukrainische Annäherung schien bereits vorher möglich. Józef Piłsudski, einer der Gründungsväter der Druga Rzeczpospolita, der 1920 mit seinen Soldaten kurzzeitig Kiew eingenommen hat, wird zwar in einigen ukrainischen Geschichtsbüchern als Feindbild dargestellt. Aber es ist insbesondere seiner Kooperation mit Symon Petljura zu verdanken, dass beide Länder zumindest für einige Jahre den Bolschewisten die Stirn boten und der Traum von der Eigenstaatlichkeit der Ukraine fortlebte.

Gerade in Zeiten, in denen ausgewiesene Diplomaten nicht ganz immun gegen Anflüge von Peinlichkeit sind, sollten wir auf diese historischen Grautöne hinweisen. Vor allem auch dann, wenn ältere deutsche Herren mit einer lupenreinen NS- oder SED-Vergangenheit darauf hinweisen, dass die Ukraine „provoziert“. Vielleicht lohnt es sich, historische Streitigkeiten für eine Weile einzustellen, wenn gerade ein russischer Diktator Europa auseinandernimmt? Russland führt einen Angriffskrieg in der Ukraine und nicht umgekehrt. Und es sind auch nicht Nato-Bedienstete, die in Moskau demokratische Bestrebungen unterbinden und Oppositionelle foltern. Wenn morgen russische Bomben auf Berlin fielen, würde Polen seinem westlichen Nachbarn sofort helfen und nicht erst monatelang die Zeitungsspalten mit Textblöcken über Schuldaufrechnung und Opferkonkurrenz füllen.


Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks

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