Tichys Einblick
40. JAHRESTAG DER GEWERKSCHAFT

Polen: Das umstrittene Erbe der Solidarność

Die Gewerkschaftsbewegung Solidarność gilt in der ganzen Welt als der Inbegriff einer weitgehend homogenen und friedlichen Revolution. Dabei war sie schon bei ihrer Entstehung voller Gegensätze, die bis heute in den Konflikten zwischen der polnischen Regierung und Opposition nachwirken.

Streikende Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność auf der Lenin-Werft in Danzig am 31. August 1980.

imago images / Forum

Für viele Polen ist der August ein besonderer Monat, ist er doch gleich mit mehreren denkwürdigen Jahrestagen gespickt. Am 1. August wird alljährlich des Warschauer Aufstands gedacht, am 15. August 2020 feierten wir das 100. Jubiläum des Sieges über die Rote Armee und am kommenden Sonntag steht schließlich der 40. Jahrestag der Entstehung der „Solidarność“ (Solidarität) an. Die polnische Gewerkschaftsbewegung war Vorbote der politischen Transformation und signalisierte bereits im Jahr 1980 den Beginn einer europaweiten Erosion des Ostblocks sowie das baldige Ende einer bipolaren Welt. Mag es auch seltsam klingen, aber während sie genau aus diesem Grund weltweit in den Geschichtsbüchern Anerkennung findet, ist es in Polen selbst noch nicht gelungen, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens über die Solidarność herzustellen.

Die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft in einer Zeit, in der die Kommunisten in Moskau noch fest im Sattel saßen, konnte freilich nicht von einem Tag auf den anderen erfolgen, sondern erforderte eine Reihe von vorher geschaffenen Strukturen. Bereits im Frühsommer 1956 war es in der Industriestadt Poznań (Posen) erstmals zu einem Arbeiteraufstand gekommen, der sich gegen schlechte Lebensbedingungen richtete. Der als „polnischer Juni“ in die Annalen eingegangene Protest wurde blutig niedergeschlagen, hatte jedoch für die weiteren Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen weitreichende Konsequenzen. Vielen von ihnen wurde erst jetzt die essentielle Rolle der katholischen Kirche bewusst, die als Hort nationaler Selbstbehauptung fungierte. Zudem wussten sich die Intellektuellen in den nächsten Jahrzehnten eine gewisse Unbeugsamkeit zu bewahren und vermochten immer häufiger „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Das mit dem Tod Josef Stalins einsetzende „Tauwetter“ schärfte auch den polnischen Blick für die Pathologien des sowjetischen Systems. Neben der Wahrheit über den blindwütigen Terror sowie die „Verstoßenen Soldaten“ wurden u.a. klassische Texte der polnischen Publizistik wiederentdeckt, die an den Freiheitskampf gemahnten und nun die Entstehung einer Untergrundpresse beförderten.

Es entstanden Essays von epochalem Rang (Herbert, Kisielewski), die einen exakten Eindruck von der Verrohung der kommunistischen Machthaber vermittelten und in denen mögliche Widerstandsstrategien diskutiert wurden. Nachdem in den Jahren 1968, 1970 und 1976 weitere Proteste fehlschlugen, riefen oppositionelle Kreise das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) ins Leben, welches als Keimzelle der Solidarność betrachtet werden kann. Von enormer Bedeutung war auch der zeitgleich initiierte drugi obieg (zweiter Umlauf), in dem eine Vielzahl von unabhängigen Schriften erschien, die sich der Zensur entgegenstellten. Die „verbotenen“ Texte wurden anfänglich in bescheidenem Rahmen und nur unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen verbreitet, konnten aber bald einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht werden. Und dies, obwohl jegliche schriftliche Fixierung „antisozialistischer Elemente“ nach wie vor mit vielen Risiken behaftet war. Zeitnah entwickelte sich aber auch außerhalb der Grenzen der Volksrepublik eine starke polnische Exilpresse. Die in London erscheinenden Wiadomości sowie die Pariser Monatsschrift Kultura lösten die bis dahin hermetische Grenze zwischen der inoffiziellen Öffentlichkeit in Polen und der Emigrationsöffentlichkeit auf.

Karneval der Freiheit

All das erzeugte nicht nur ein unabhängiges intellektuelles Umfeld, in dem über Ziele und Praktiken des Freiheitskampfes reflektiert werden konnte, sondern schuf vor allem die notwendigen autonomen Strukturen. Im Sommer 1980 war der geistige Boden für die Solidarność also längst vorbereitet, nicht zuletzt auch deshalb, weil ein Jahr zuvor die Bemühungen der Opposition auf eine günstige politische Konstellation im Vatikan trafen. Auf der Pilgerreise im Juni 1979 fand Papst Johannes Paul II. viele erbauende Worte, die in Polen eine dauerhafte Wirkung hinterließen. Zu dem Zeitpunkt waren unabhängige Gewerkschaften noch strikt verboten, gewagte Veröffentlichungsversuche überaus gefährlich. Außerdem befand sich Polen in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die effektvollen „materiellen Anreize“, die der Erste Sekretär Edward Gierek dank hoher Kredite den polnischen Konsumenten gewährte, waren schnell erschöpft. Die Lebensbedingungen wurden zunehmend schlechter. Als die Machthaber in Warschau im August 1980 drastische Preissteigerungen für Lebensmittel angekündigt hatten, entlud sich die Wut auf den großstädtischen Straßen. In der Ostsee-Metropole Gdańsk (Danzig) ging dann auf einmal alles ganz schnell: Mitte August wurde die Solidarność-Legende Anna Walentynowicz aus der Lenin-Werft entlassen, nachdem sie sich zuvor für die Rechte von Arbeitern eingesetzt hatte. Ihr Rauswurf fachte die Streiks zusätzlich an und zwang die Kommunisten schließlich zum Einlenken. Am 30. August unterzeichneten Vize-Premier Mieczysław Jagielski und der Streikanführer Lech Wałęsa die sogenannte „porozumienia sierpniowe“ (Augustabkommen).

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Dies war die Geburtsstunde der Solidarność, die nun auch offiziell streiken durfte und gar Zugang zu den Medien bekam. In anderen Ostblock-Ländern waren zu dieser Zeit derartige Zugeständnisse undenkbar. In den folgenden Monaten traten ca. 10 Millionen Personen der Gewerkschaft bei, mehr als die Hälfte der polnischen Arbeitnehmer. Schon ein knappes Jahr nach dem Augustabkommen mehrten sich allerdings schon die Zeichen für ein baldiges Ende des „Karnevals der Freiheit“. Den Herren in Moskau missfielen die Proteste in Gdańsk, allerdings ließen sie ihren polnischen Genossen freie Hand. Wie später aus einigen Protokollen hervorgehen sollte, lag die Entscheidung über die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 allein beim kommunistischen General Wojciech Jaruzelski und dessen Schergen. Die Solidarność wurde verboten und ihre Anführer zeitweilig inhaftiert. Das Schweigen, das lange den allgegenwärtigen Terror umgab, war da aber schon längst durchbrochen. Die Brutalität des Systems war schon viel früher sichtbar geworden. Die Texte aus dem „zweiten Umlauf“ kursierten auch in den Gefängniszellen, begleiteten die oppositionellen Insassen als geistige Wegzehrung. Der Protest wurde etwas leiser, ließ sich jedoch nicht mehr ganz abstellen. Spätestens nach den erneuten Streiks im Jahre 1988 hatten die Regierenden jede Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Die Solidarność erwies sich auch deshalb als so stabil, weil sie von einem nicht abreißenden deutsch-polnischen Dialog unterstützt wurde. In Bremen unterhielt die Gewerkschaft ihr einziges ausländisches Büro, das ihr ein weitgespanntes Kontaktnetz ermöglichte. Die der dortigen Universität angegliederte Forschungsstelle Osteuropa wurde nach der Verhängung des Kriegsrechts zu einem polnischen „Dissidentennest“, weil eine Gruppe namhafter Solidarność-Mitglieder an der Weser Asylrecht erhielt. Die auf die Linie gebrachten Gazetten in Warschau bezeichneten die Bremer Forschungsstelle als eine „gefährliche Schaltzentrale“ und „Brutstätte antisozialistischer Gedanken“. In der Tat stimulierte die rege Auslandstätigkeit einiger Gewerkschaftler auch die Energie der Solidarność in Polen. Dank westdeutscher Unterstützung verbesserte sich u.a. die Drucktechnik und Qualität neuer polnischer Periodika. Das Büro in Bremen organisierte den Schmuggel großer Mengen von Druckgeräten und Papier. Das Ergebnis kann sich immer noch sehen lassen: Bis heute kann man in der Hansestadt ein beachtliches Archiv dieser unzensierten „Relikte der Freiheit“ bewundern.

Trotz dieses erfreulichen Beitrags ist aber immer noch nur wenigen Deutschen bewusst, dass die Solidarność schon bei ihrer Entstehung voller politischer Gegensätze war. Um die erste freie Gewerkschaftsbewegung östlich des Eisernen Vorhangs ranken sich im Ausland viele Mythen und Legenden, wie z. B. jene, dass deren Köpfe weitgehend einträchtig agierten. In den deutschen Medien wird Lech Wałęsa oft noch als unumstrittener und alleiniger Anführer dieser Millionenbewegung dargestellt, der Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, zum hauptsächlichen Verfechter der polnischen Pressefreiheit erklärt. Beide gelten heute im Westen als „Autoritäten“, die gern mal von Journalisten als prominente PiS-Kritiker herangezogen werden. Wenn aber schon damals alles so homogen und harmonisch war, wieso gibt es vierzig Jahre nach der Geburt der Solidarność immer noch keine nennenswerten Monographien über diese beiden „Helden“? Es gab durchaus publizistische Bemühungen, die Archive zu entstauben und die „heroischen“ Phasen von Wałęsa und Michnik zu entzaubern, doch diese Texte erschienen allenfalls in kleinen Verlagen. Zudem mussten deren Autoren öffentliche Rügen hinnehmen, wurden ihrer Ämter enthoben oder aus dem akademischen Betrieb ausgeschlossen. Der polnische Mainstream begegnet unbequemen Historikern und Publizisten mit einer Mischung aus Verachtung, Häme und Hass, ohne dass ihre Argumente wirklich erörtert werden. Dabei lassen sich die komplexen Zusammenhänge der heutigen polnischen Politik, ja ebenso die aktuellen Konflikte zwischen der PiS und PO nicht begreifen, wenn man die tiefen Risse ignoriert, von denen die Solidarność durchzogen war. Dann finden wir vielleicht die Antwort auf die Frage, weshalb die Polen mehr als 30 Jahre nach dem politischen Umbruch auch im Kontext der Solidarność auf einen regelrechten „zweiten Umlauf“ angewiesen sind.

Die Gegensätze traten bereits beim ersten Kongress der Gewerkschaft im September 1981 zutage. Wałęsa wurde zwar als Gewerkschaftsvorsitzender bestätigt, aber in der Solidarność haben sich bereits deutlich zwei Lager herausgebildet. Der spätere Staatspräsident repräsentierte ein Umfeld, in dem auch linksgerichtete Oppositionelle Platz fanden und für eine „friedliche“ Übergangslösung mit den Kommunisten plädierten. Der konservative Flügel lehnte diesen milden Kurs entschieden ab, käme er doch einer Amnestie gleich, welche die Legitimität der ganzen Freiheitsbewegung erschüttert hätte. Die Fraktion der sog. „Solidarność Walcząca“ (Kämpfende Solidarität), angeführt von Kornel Morawiecki (dem Vater des heutigen Ministerpräsidenten), wagte sich daraufhin an eine bedingungslose Aufklärung der kommunistischen Verbrechen und versuchte, eine Abrechnung mit ehemaligen PZPR-Bonzen einzuleiten. Die ehemaligen Generäle durften nämlich weiterhin straffrei agieren und schickten sich sogar an, im nunmehr freien Polen wichtige Regierungsämter zu bekleiden. Im Februar 1989 begannen trotzdem die offiziellen Gespräche zwischen der kommunistischen Regierung und dem linkszentristischen Flügel der Solidarność, der einen raschen „Systemwechsel“ vorantreiben wollte. An jenem „Runden Tisch“, der in der internationalen Presse aufmerksam verfolgt wurde, fanden sich allerdings kaum Stühle für die Konservativen. Zwar nahm an den Verhandlungen im masowischen Magdalenka ebenfalls der spätere Staatschef Lech Kaczyński teil, sein politischer Einfluss war jedoch noch viel zu gering. Auch er ließ aber schon damals keine Zweifel daran, dass sich die Anklage früher oder später unweigerlich gegen die Machthaber von Moskaus Gnaden richten müsse.

Doch es kam anders: Was in den westlichen Zeitungen bis heute teilweise als eine „samtene Revolution“ dargestellt wird, diente im Grunde genommen der partiellen Machterhaltung einflussreicher Kommunisten, die sich nun unvermittelt zu „Sozialdemokraten“ umtauften. Im Bewusstsein der Fragilität ihrer Situation waren sie zu einigen Zugeständnissen bereit, wollten jedoch nicht sämtliche Zügel aus den Händen verlieren. Nach den Wahlen im Juni 1989 bekam der Solidarność-Aktivist Tadeusz Mazowiecki den Posten des Ministerpräsidenten, aber mit Czesław Kiszczak wurde ihm ein Stellvertreter der übelsten Kategorie zur Seite gestellt. Zu den vielen perfiden Amtshandlungen des früheren Chefs der paramilitärischen Sondereinheit ZOMO gehörte u.a. die gewaltsame Niederschlagung der Proteste im oberschlesischen Bergwerk „Wujek“, wo auf seine Anordnung auf unbewaffnete Arbeiter geschossen wurde. Und nun hatte er als Innenminister im unabhängigen Polen barrierefreien Zugang zu sämtlichen Akten des einstigen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit, konnte sie nach Belieben verschwinden lassen oder Personen erpressen, die ihm in der Volksrepublik pikante Details aus oppositionellen Kreisen zugetrugen. Noch kurz vor seinem Tod im Jahr 2015 behauptete der greise Kiszczak, dass manch einem Demokraten die „Aureole“ vom Haupt fiele, wenn er seinen „Aktenschrank“ öffne. Die diffuse Komplizenschaft mit dem totalitären System war leider in der Solidarność weit verbreitet. Und als ob dies nicht genug wäre, wurde Jaruzelski im Dezember 1989 zum ersten Präsidenten der Dritten Republik Polen ernannt, jener Mann also, der einige Jahre zuvor den Kriegszustand eingeführt und die Solidarność verboten hatte. Ihr linkszentristischer Flügel hatte in die „demokratische“ Festung offenbar gleich mehrere trojanische Pferde aus den finstersten Zeiten hereingelassen.

Keine noch so weitgehende Demutsgeste der polnischen Kommunisten kann heute die Tatsache verschleiern, dass sie eigentlich nur den unabwendbaren Umbruch unbeschadet überstehen wollten. Viele von ihnen haben sich jedoch nicht nur „hinübergerettet“, sondern sind nach 1989 als saturierte Oligarchen zu ungeahntem Reichtum gekommen, der es ihnen erlaubte, weiterhin politischen Einfluss auszuüben. Dies wussten natürlich auch einige Personen aus dem Dunstkreis von Wałęsa, der als Präsident fortan jedwede Lustrationsversuche der Konservativen zu unterbinden wusste. Er konnte es sich leisten, denn er war sich der Unterstützung des Westens gewiss, wo er zuvor mit allem überhäuft wurde, was internationale Stiftungen an Ehrungen für „Freiheitskämpfer“ zu bieten hatten. So konnte er im Juni 1992 bedenkenlos die Regierung von Jan Olszewski stürzen, die von manchen Historikern als erstes wahrhaft antikommunistisches Kabinett bezeichnet wird, weil dessen Mitglieder die einstigen Tyrannen endlich zur Rechenschaft ziehen wollten. Die beiden verfeindeten Solidarność-Lager, die sich heute in dem Dupol PO-PiS widerspiegeln, gedenken somit alljährlich am 4. Juni zwei jeweils unterschiedlichen Ereignissen. Die linksliberale Bürgerplattform würdigt die „freien“ Wahlen von 1989, während die konservative PiS an den inzwischen verstorbenen Premier Olszewski erinnert, der als erster den Versuch unternahm, das Land vom postkommunistischen Erzübel zu befreien.

Diese Versuche scheiterten jedoch an der uneingeschränkten Macht der neuen „Sozialdemokratie“. Im Jahr 1995 wurde Aleksander Kwaśniewski zum Staatschef gewählt, der den Grundstein seiner Karriere in der PZPR gelegt hatte. Aufgrund seiner politischen Biographie hatte er natürlich kein Problem damit, über seinen früheren „Genossen“ die nötigen Schutzschirme zu öffnen und jeden wirksamen Reformprozess der Wahlaktion Solidarność (AWS) zu blockieren. Auch eine juristisch-institutionelle Vergangenheitsbewältigung im polnischen Militär und Gerichtswesen blieb aus. Zahlreiche Generäle und Richter verzehrten ihre staatlichen Pensionen bis ins höchste Alter, unbehelligt von Strafverfolgung. Die ersten Reformversuche, die der 2005 gewählte Präsident Lech Kaczyński anstieß, trafen noch auf hartnäckigen Widerstand linker „Wendegewinner“, die von der „friedlichen Revolution“ profitiert haben. Zum Teil hat sich dies bis heute nicht verändert: Die mit vielen Hindernissen belastete Justizreform der PiS wird in Brüssel als „Hinrichtung“ des Rechtsstaats interpretiert, dabei versucht die konservative Regierung einfach nur in einem mühsamen und kathartischen Prozess die „roten Flecken“ eines in anderen Ländern längst überwundenen Systems zu beseitigen.

Terminologischer Chaos

Diese verdeckte oder offene Kontinuität zwischen den kommunistischen und postkommunistischen Eliten durchzog nicht nur die polnische Justiz, Politik und Wirtschaft, sondern vor allem auch die Medienlandschaft, die damals in den Geburtswehen steckte. Besonders die Redakteure der Gazeta Wyborcza konnten in den 1990er Jahren einen fast schon unheimlichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung entwickeln, indem sie oft lediglich mit einem Daumenzeig entschieden, wer zum „elitären“ Kreis gehören darf und wer nicht. Dabei wählten sie einen Erzählstil, in dem ein totaler terminologischer Chaos vorherrschte. Verdiente Solidarność-Helden wie Anna Walentynowicz oder Krzysztof Wyszkowski wurden plötzlich mir dem Etikett „radikal“ versehen, weil sie es sich erdreisteten, den Sinn der „friedlichen“ Vereinbarungen zwischen Wałęsa und Kiszczak in Zweifel zu ziehen. Selbst Chefredakteur Adam Michnik bediente sich nicht selten absurder historischer Vergleiche und sprach z. B. von „Bolschewisten“, die aus privater Verbitterung den Erfolg des Runden Tisches entwerteten. Dies hinderte ihn andererseits nicht daran, mit den wirklichen Moskauer Marionetten Bruderschaft zu trinken. Der von der Wyborcza gleichgeschaltete Diskurs hatte dem Vergessen unbequemer Kollegen aus der Opposition zu dienen und betonte stattdessen die „erhabenen“ Tugenden der „versöhnlichen“ Generäle.

Polen erneut auf der Anklagebank
Der Mythos vom intoleranten Polen 
Der Erzählstil der Wyborcza entbehrte also eigentlich jeder Logik, fand aber dennoch zahlreiche Rezipienten, weil Michnik dank der finanziellen Unterstützung einiger Reklamegeber zunächst die Medienlandschaft fast ausschließlich für sich zu vereinnahmen vermochte. Damit gelang es ihm leider auch, seine Tageszeitung als alleiniges Sprachrohr der Solidarność zu vermarkten. Jede Anspielung auf seinen Pakt mit dem kommunistischen Teufel wurde aus dem offiziellen Diskurs verbannt, sie konnte nur noch in kleinen Zeitungen zirkulieren, die meistens ohnehin in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und bald zugrunde gingen. Dabei fehlte es auf der konservativen Seite mitnichten an klugen und kreativen Köpfen. Neben der Gazeta Wyborcza versuchte sich u.a. auch der Tygodnik Solidarność als Medium der Gewerkschaftsbewegung zu etablieren. Das Wochenblatt bot seinen Redakteuren großzügige Entfaltungsmöglichkeiten, aber aufgrund der Wettbewerbspraktiken des Wyborcza-Verlags Agora ging solchen Blättern bald die Luft aus. Wer damals von der aufgetragenen Linie abwich, mochte er noch so talentiert sein, geriet zuerst in die Mühlen der Verdächtigungen und wurde später schrittweise an den Rand gedrängt. Erst in den letzten Jahren kehrt der legendäre Tygodnik wieder zu seinem alten Glanz zurück.

Eigentlich ist es sehr schade, dass diese einzigartige und weltweit beachtete Freiheitsbewegung an ihrem 40. Geburtstag immer noch zu einem leidigen Streitthema wird. Während die Jahrestage des Warschauer Aufstands oder des „Wunders an der Weichsel“ Anlässe zu parteiübergreifenden Gedenkveranstaltungen bieten, bleibt die Solidarność auf unabsehbare Zeit ein politischer Zankapfel. Dies wird sich auch nicht ändern, wenn manche Themen weiterhin sorgsam tabuisiert, verschwiegen und verdrängt werden. Denn dieses historische Ereignis bedarf nach wie vor einer gründlichen, emotionslos nüchternen Erforschung und keineswegs nur anspielungsreicher Zeitungsartikel. Unangenehme Wahrheiten, die bis heute geleugnet werden, sollten an die Oberfläche gebracht und so ausführlich wie möglich diskutiert werden. Bis dahin wird jede der zerstrittenen Parteien die Solidarność fortwährend nur für sich beanspruchen. Nicht zufällig will der Wahlverlierer Rafał Trzaskowski in einigen Tagen seine Bewegung „Nowa Solidarność“ (Neue Solidarität) vorstellen, die ebenfalls Anknüpfungspunkte in der berühmten Gewerkschaft sucht. Leider finden sich in ihren Reihen wieder mal einige bekannte „sozialdemokratische“ Gesichter, die noch vor einigen Jahren jede Freiheitsbewegung im Keim ersticken wollten. Hat sich seit dem Runden Tisch wirklich nichts verändert? Doch, teilweise schon. Die polnische Medienwelt ist pluralistischer geworden, die Wyborcza hat an Macht eingebüßt. Ihre bis vor kurzem konkurrenzlose Geschichtsinterpretation wurde stellenweise korrigiert und widerlegt, Michnik musste seinen Zepter an Medienkonzerne mit ausländischem Kapital abgeben. Das Axel-Springer-Blatt Newsweek Polska avanciert derzeit zum parteilichen Bulletin der PO, greift ebenfalls wiederholt auf Solidarność-Motive zurück. Symptomatisch ist aber auch, dass die Wochenzeitung just vor dem runden Jahrestag ein großes Interview mit Jerzy Urban bringt, dem widerwärtigen Sprecher der PZPR, der in den 1980er Jahren auf Pressekonferenzen erklären musste, warum es in der Volksrepublik zu einer Reihe von politischen Morden an Priestern kam, die der Solidarność nahe standen. Es lohnt sich wirklich nicht, in die geistigen Abgründe der Newsweek-Autoren hinabzutauchen, denn die vor 40 Jahren entstandene Gewerkschaft ist nicht nur Wałęsa oder Walentynowicz, Tusk oder Kaczyński, Trzaskowski oder Duda, Gazeta Wyborcza oder Tygodnik Solidarność.

Dieses wunderbare Ereignis sind all jene Millionen Menschen, die unter schwersten Existenzbedingungen für ihre Freiheit kämpften und nicht vor dem Vergessen bewahrt wurden. Ebnete die Solidarność für einige wenige den Weg an die Spitze des Staates, markierte sie für andere den Tiefpunkt eines fast vollkommenen Biographieverlustes. Das egoistische Verhalten der Mächtigen brachte sie nicht selten an den Rand des psychischen und materiellen Ruins. Gefängnisaufenthalte haben viele von ihnen an Leib und Seele geschädigt. Aus einigen bedrückenden Zeitzeugenberichten, die ausgiebig die Vernehmungspraktiken des polnischen Staatssicherheitsdienstes schildern, gewinnt man eine Ahnung von den Grausamkeiten, denen sich Solidarność-Aktivisten aussetzen mussten. In der Phase des Kriegsrechts 1981-83 wurden grundlegende Übereinkünfte menschlichen Zusammenlebens aufgekündigt. Die Herrschaft der Kommunisten sowie die ersten Jahre der Dritten Republik gründeten auf dem erzwungenen Vergessen dieser Opfer, denen offiziell nicht gedacht werden durfte. Die meisten ehemaligen Gewerkschaftler verweigern sich der Opferrolle, doch ihre Situation erklärt zum Teil die Schärfe, mit der sie heute Wałęsa oder Michnik angreifen. Dieses Verhalten ist umso nachvollziehbarer, als die Jahre 1980-81 für sie eine überaus aufregende Zeit voller Hoffnung und Zuversicht war. In die Danziger Werft strömten damals Journalisten aus der ganzen Welt, berichteten von der angespannten Nervosität und Aufregung, der typischen Atmosphäre einer Revolution. Ein Spezifikum der Solidarność war ja nicht zuletzt die gelungene Symbiose zwischen Intellektuellen und Arbeitern. Der Protest half vielen Menschen, eine autonome Position zu erlangen. Die in totalitären Systemen übliche Überlebensstrategie der passiven Hinnahme, die nicht unbedingt vor Repressalien schützte, aber eventuell einer brutalen Unterdrückung entzog, wurde durch diese Freiheitsbewegung bloßgestellt. Damals konnte man wirklich den Eindruck gewinnen, dass Polen geeint sei. Er verschwand, als einige Revolutionäre zu Staatslenkern wurden.

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