Tichys Einblick
Und kein Ende

Pädophilie in der Kirche: Erzbischof von Lyon zurückgetreten

Man hat sich fast schon an derartige Vorfälle in der katholischen Kirche gewöhnt. An diesem Mittwoch erst wurde der australische Kardinal George Pell, Nummer drei im Vatikan, wegen Kindesmissbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt, vier davon im geschlossenen Vollzug.

PHILIPPE KSIAZEK/AFP/Getty Images

Dunkle Wolken hängen am Himmel über Lyon, und der Glanz der Basilika „Notre Dame de Fourvière“ mag nicht so recht zur Geltung kommen. Es hagelt. Ihr oberster Hausherr, Kardinal Philippe Barbarin, Erzbischof von Lyon und Primat der Gallier, ist in der vergangenen Woche zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Das Gericht befand ihn für schuldig, über Jahre hinweg Dutzende Pädophilie-Fälle in seiner Diözese gedeckt zu haben. Wenige Minuten nach der Urteilsverkündung trat Barbarin von seinen Ämtern zurück, jetzt muss Papst Franziskus noch der Entscheidung des 68-Jährigen zustimmen. Er will den Kardinal an diesem Montag im Vatikan empfangen. Barbarins Anwalt hat indes Einspruch gegen das Urteil eingelegt. François Devaux, Vorsitzender der wichtigsten französischen Opferorganisation „La Parole Liberée“, „Das befreite Wort“, findet das „lächerlich“. Der Einspruch zeige lediglich, dass Barbarin sich in keiner Weise seiner Verantwortung bewusst sei. Die Kirche zeige angesichts ihrer Skandale keinerlei guten Willen.

Verantwortungsflucht
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Man hat sich fast schon an derartige Vorfälle in der katholischen Kirche gewöhnt. An diesem Mittwoch erst wurde der australische Kardinal George Pell, Nummer drei im Vatikan, wegen Kindesmissbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt, vier davon im geschlossenen Vollzug. Die Liste lässt sich fortsetzen. Nach einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Studie sollen allein in Deutschland zwischen 1946 und 2014 1.670 Kleriker 3.677 überwiegend männliche Jugendliche bis zu einem Alter von 13 Jahren sexuell missbraucht haben. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Für Frankreich liegen keine Zahlen vor.
„Das Problem geht weitaus tiefer“

„Das ist ein Problem, das weitaus tiefer geht, als die Pädophilie in einer Institution“, sagt François Devaux. „Die Pädophilie-Vorfälle sind schon fast ein Detail. Es geht um die Verdeckung dieser Vorfälle. Das ist ein Mechanismus, es geht letztlich um eine Kultur des Schweigens.“ Devaux ist heute knapp 40 Jahre alt. Er sagt von sich selbst, er sei Atheist. Devaux war Mitglied der Pfadfindergruppe Saint Luc in Sainte Foy-lès-Lyon und wurde 1990, im Alter von neun Jahren, von Priester Bernard Preynat sexuell missbraucht. Und genau dieser Priester steht im Mittelpunkt des Pädophilie-Skandals von Lyon. In den achtziger und neunziger Jahren soll Preynat das Vertrauen von mehr als 70 Jungen missbraucht und sich sexuell an ihnen vergangen haben. Gegen ihn wurde 2016 Anklage erhoben, ein Urteil ist in dem Prozess gegen den 72-Jährigen bis heute nicht gesprochen worden. Kardinal Barbarin, einst einer der Favoriten bei der Papstwahl im Jahr 2013 für die Nachfolge von Benedikt XVI, soll von den Taten Preynats zwischen 2005 und 2010 Wind bekommen – und diese seither bewusst und konsequent verschwiegen haben.

Ein Bauernopfer reicht nicht
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Was sagt die Lyoner Diözese zum Rücktritt Barbarins und dessen Folgen? Nichts. Trotz mehrmaliger telefonischer Nachfragen und mehrerer E-Mails mit der Bitte um Aufklärung hält sie sich bedeckt, es herrscht Schweigen. Auch auf der Internet-Seite der Diözese findet sich keinerlei Stellungnahme. Wer neugierig ist, muss sich mit der Information begnügen, dass Barbarin am 18. März um 10 Uhr vom Heiligen Vater empfangen wird. Dazu gibt es noch ein kurzes Video mit Barbarins Erklärung vor der Presse nach der Urteilsverkündung gegen ihn. Knapp 40 Sekunden nahm er sich dafür Zeit: Er nehme Notiz von der Entscheidung des Gerichts, heißt es darin, vor allem aber wolle er sein Mitgefühl für die Opfer und deren Familien ausdrücken – er werde sie in seinen Gebeten berücksichtigen. Dann stand er auf und ging. Fragen waren nicht erlaubt.
„Es geht um ein System-Problem“

Klarere Worte findet man bei der Gemeinde Sainte Foy-lès-Lyon, die im Zentum des Pädophilie-Skandals steht. „Seit drei Jahren wird unsere Gemeinde regelmäßig von der Affäre Preynat erschüttert und wir müssen in deren Schatten leben“, heißt es in einer Erklärung. „Die Gemeinde steht an vorderster Stelle eines untilgbaren Leidens. Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis die Opferorganisation ‚La Parole Liberée‘ das bleierne Schweigen durchbrechen konnte und die Kirche sich den Opfern zuwandte, anstatt sich selbst zu schützen. Es dauerte viel zu lange, bis diese Institution akzeptierte, dass auch sie daran beteiligt war, einen Verbrecher zu schützen, der noch immer nicht bestraft worden ist.“ Obwohl Bernard Preynat mehr als 70 Kinder missbraucht haben soll und François Devaux von der Opferorganisation eines von ihnen war, sieht er diese Verbrechen als einen Tropfen auf dem heißen Stein. „Ich interessiere mich an sich nicht für den Prozess gegen Preynat“, sagt er, „das bringt doch nichts. Es geht um ein System-Problem“. Die Kirche habe Dokumente vernichtet, um derartige Vorfälle zu verschweigen. Es gehe um den Missbrauch von Vertrauen, um Dogmen. Die Priester hielten sich für Halbgötter und glänzten vor allem durch eine völlige „Abwesenheit von Rationalität“. Das sei pervers und gefährlich. Die „Heiligkeit des Gehorsams“, sozusagen die „diplomatische Immunität“, die Tatsache, dass Priester keine Angestellten der Diözese seien, sorge dafür, dass sie sich nicht verantwortlich fühlten. Die Kirche sei eine „Diktatur, die sich wohlwollend zeigt“ – es aber nicht sei. Die Kirche sei keine Demokratie, es gelte als vorrangig, dass man nur Gott gegenüber verantwortlich sei. Die Kleriker sähen sich als Repräsentanten Jesus Christus‘ auf Erden und stellten sich selbst nicht in Frage. Sie verträten moralische Normen, von denen sie nichts verstünden, und das habe gefährliche Folgen für die französische Gesellschaft. So sei etwa Homosexualität erst 1982 unter Präsident François Mitterrand straffrei geworden. Bis dahin hatte ein Gesetz der Vichy-Regierung gegolten. Seinerzeit sprachen sich der einstige Premierminister François Fillon und der spätere Präsident Jacques Chirac gegen die Straffreiheit aus.

„Demut, Selbstanklage, Gebet, Buße“

Bigott
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Die Vorfälle um Kardinal Barbarin und den Priester Bernard Preynat liegen ganz im Trend der Zeit. Am 24. Februar ging im Vatikan der sogenannt Anti-Missbrauchsgipfel zu Ende. Papst Franziskus versprach zwar ein Ende der Vertuschung von Missbrauchsfällen und ein konsequentes Durchgreifen gegen die Täter. Wie das umgesetzt werden soll, ließ er allerdings offen. Opferverbände zeigten sich entsetzt über die Abschlussrede des Kirchenoberhauptes. Franziskus hatte darin von „fürchterlichen Kinderopfern in der Vergangenheit“ gesprochen, Pornografie im Internet kritisiert und sie mitverantwortlich für Missbrauch gemacht. Er sprach von Sextourismus und davon, dass Missbrauch überall vorkomme, nicht nur in der katholischen Kirche. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sei ein „übergreifendes Problem“. Franziskus forderte dazu auf, „geistliche Maßnahmen zu treffen, die der Herr selbst uns lehrt: Demut, Selbstanklage, Gebet, Buße“. Das sei die einzige Weise, um den „Geist des Bösen“ zu besiegen. Opferverbände bezeichneten die Papst-Rede als „schamlosen Versuch, sich an die Spitze einer Bewegung zu setzen, ohne sich der eigenen Schuld und dem eigenen Versagen zu stellen“.
Unschuldsvermutung

In Lyon hatten indes die Anwälte von Priester Bernard Preynat per Klage versucht zu verhindern, dass der Film „Grâce à Dieu“, „Gott sei Dank“, zum vorgesehenen Zeitpunkt am 20. Februar in die Kinos kommt. Preynat wartet immer noch auf sein Urteil. In dem Streifen geht es um genau diese Missbrauchsfälle bei der Pfadfindergruppe Saint Luc in Sainte Foy-lès Lyon und um die Entstehung der Opferorganisation „La Parole Liberée“ von François Devaux. Die Begründung für die Klage: Im Trailer werde innerhalb von zwei Minuten und dreißig Sekunden dreizehn Mal der Name „Preynat“ genannt. Vor dem Gesetz gelte jedoch die Unschuldsvermutung. Die Klage wurde abgelehnt. Bis Anfang März haben gut 276.000 Franzosen den Film gesehen.