Tichys Einblick
Neue Rede zur EU-Politik

Orbán: Wenn wir die Freiheit bewahren wollen, müssen wir Brüssel erobern

Auch in Ungarn rücken die EU-Wahlen näher. An einem von drei Nationalfeiertagen hat Viktor Orbán sein Verhältnis zu Brüssel engagiert benannt. Die Themen seiner Rede waren Krieg, Migration und Gender-Ideologie oder Freiheit, Souveränität und Friede. Über den hatte er zuvor auch mit Donald Trump in den USA gesprochen.

IMAGO / photonews.at

In Budapest hat Viktor Orbán am letzten Freitag eine feurige Rede gehalten. Er erinnerte damit an den 15. März 1848, als in Ungarn eine Revolution ausbrach, die sich gegen die Habsburgermonarchie richtete. Doch daneben und vor allem sprach er über das Heute. Seit 1848 komme noch für jede Generation von Ungarn der Zeitpunkt, in dem „sie eine Entscheidung treffen müssen“, so Orbán auf dem gut gefüllten Platz vor dem Nationalmuseum. Die zentrale Entscheidung der heutigen Zeit aus Orbáns Sicht ist die, ob man „auf der Seite der Wahrheit“ stehen oder sich der „Herde der blökenden Globalisten“ anschließen will. Man könne entweder für seine Heimat kämpfen oder „das Brot der Ausländer“ essen.

Ein für das östliche Europa vielleicht noch wahreres Wort als weiter im Westen. Denn der finanzielle Einfluss ausländischer Geldgeber bleibt hier besonders auffällig, gerade im Bereich der NGOs, die nach dem Zerfall des Kommunismus in vielen Fällen für eine neue Weltsicht sorgen und so den gerade erst erwachenden Halbkontinent sogleich neu prägen sollten. Das war das ausdrückliche Ziel der Soros-Stiftungen in Osteuropa: die „Wissenschaft“ von einem „neuen Menschen“ in den gerade erst befreiten Gesellschaften zu installieren.

Ungarn sei schon von vielen Großmächten unterjocht worden, von den Osmanen über die Habsburger bis hin zur Sowjetunion, führte Orbán dem Nationalfeiertag nachgebend aus. Doch sei das Land auch „der David, den Goliath lieber meidet“. Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 leisteten die Ungarn passiven Widerstand, den sie erst nach dem Ausgleich mit Österreich 1867 so recht aufgaben. Heute richtet sich die Unabhängigkeitsenergie der Ungarn, wenn man einmal von den NGO-Netzwerken absieht, gegen die EU.

Und das erzeugt Paradoxien in einer Zeit, in der ein neues EU-Parlament in den 27 Mitgliedsstaaten gewählt wird. Einerseits streben auch die national ausgerichteten Parteien nach Einfluss in Brüssel und Straßburg, andererseits bleiben sie bei manchmal sehr entschiedener Kritik an den dortigen Institutionen. Beides ist politisch natürlich legitim, so legitim wie der einstige Widerstand der ungarischen Untertanen gegen die Wiener oder Moskauer Willkür, der gelegentlich zu Arrangements (zum Beispiel dem k.u.k. Österreich-Ungarn) geführt hat.

Souveränistische Wende hin zum „normalen Leben“

Brüssel sei sozusagen schwerhörig, was die ungarischen Forderungen angeht, führt Orbán aus. Und so verspricht er: „Wir werden nach Brüssel marschieren und selbst die Europäische Union verändern.“ Und weiter: „Wenn wir die Freiheit und Souveränität Ungarns bewahren wollen, müssen wir Brüssel erobern und einen Wandel in der EU bewirken.“ Die Zerstörung bäuerlicher Betriebe, die Verarmung der Mittelklasse, die Insolvenzen europäischer Betriebe könne man ebenso wenig dulden wie die Missachtung der Rechte der verschiedenen Nationen, die Versklavung der eigenen Kinder durch Schulden und das Hineintreiben von ganz Europa in einen Krieg. Hier klingt erstmals die abweichende Stellungnahme zum Ukraine-Krieg an, von dem Ungarn als direkter Nachbar besonders betroffen ist.

Aber Ungarn sei nicht allein, betonte Orbán. „Denn obwohl die Polen vom Sturzbach der Soros-Linken erfasst wurden, sind die Slowaken aufgestanden (sie wählten Orbáns Verbündeten Robert Fico zum Premier, Anm. d. Verf.), die Tschechen erwachen, die Österreicher bereiten sich vor, die Italiener haben die richtige Richtung eingeschlagen, die Niederländer sind bereit und die Amerikaner sind im Protest.“ So geht Orbáns breit gezeichnetes Panorama des internationalen Protests, der sogenannten populistischen Revolution gegen das Establishment, das heute oft eher links von der Mitte sitzt.

Der Ungar sieht Europa und die USA an der Schwelle einer „souveränistischen Wende“, die das „normale Leben“ wiederherstellen würde und eine neue große Zeit des Wohlstands für die westlichen Nationen eröffnen würde. Man kann mit Recht fragen, was der eigentliche Inhalt dieser Wende ist. Aber beim Nachdenken bildet sich bereits eine gewisse Aura, die sich dank der Parallelen in verschiedenen Ländern nicht so einfach wegwischen lässt. Man lege nur die französischen Gelbwesten neben den demoskopischen Aufschrei der Deutschen gegen die Gendersprache und die reale Unbeliebtheit der ungeregelten, illegalen Massenmigration über alle Grenzen hinweg.

Die Werte des Gemeinwesens werden demokratisiert

Bei alledem scheint für Orbán und den Fidesz ein Grundsatz besonders wichtig: Dass eine Gesellschaft sich auch selbst erhält, was sie vielleicht von selbst tun wird, wenn man sie nur lässt. Man könnte sagen, dass Orbán und der Fidesz die Entscheidung über die Werte des Gemeinwesens demokratisiert haben, was die Gegner als Populismus von Partei und Premier brandmarken.

Erst nach jener Wende können aus Orbáns Sicht wieder alle prosperieren – nur nicht jene Brüsseler Technokraten, die Gelder veruntreut haben, die Tore des Kontinents weit für Migranten öffneten und „unsere Kinder rasenden Gender-Aktivisten ausgeliefert“ haben. Sie würden das Schicksal von Verrätern erleiden, was immer das genau bedeutet.

Ein besonderer Angriff Orbáns richtete sich gegen den Werterelativismus, den er speziell in der westlichen Welt ausmacht. Viele dort gingen mit der Idee durch das Leben, dass „sie von nirgendwo herkommen und nirgendwo hingehen“. Daher glaubten sie, es sei nicht nötig, auf irgendjemanden oder irgendetwas Rücksicht zu nehmen“. „Sie beginnen Kriege und zerstören Welten, sie ziehen Ländergrenzen neu und fressen alles wie die Heuschrecken“, sagte Orbán und zeichnete so das Bild einer Führungselite ohne moralischen Kompass.

„Sie vernachlässigen den Respekt vor den Toten, und sie nehmen den Ungeborenen ihre Rechte“, fügte er an dieser Stelle noch hinzu. Das könnte man als eine gezielte Spitze gegen den französischen Präsidenten Macron ansehen, unter dessen Ägide nicht nur das Recht auf Abtreibung in die Verfassung aufgenommen wurde, sondern auch über die Legalisierung der Sterbehilfe diskutiert wird. Einige sprechen von zwei Seiten derselben Medaille. In anderen westlichen Gesellschaften laufen ähnliche Diskussionen. Nur in den USA, das ist wahr, ist Donald Trump um eine Balance in diesen Fragen bemüht, weil das Thema auch bei den Republikanern (ganz in Orbáns Sinn) brodelt.

Die Ungarn als Somewheres

„Wir Ungarn leben anders und wollen auch weiterhin anders leben“, so Orbán, „wir kommen von einem bestimmten Ort und sind auf dem Weg an einen bestimmten Ort.“ Das ist fast unübersetzbar, erinnert aber doch an die englische Unterscheidung der „Anywheres“ von „Somewheres“. Die einen könnten überall leben, die anderen nur an ihrem Ort, ihrer (vielleicht auch Wahl-) Heimat, die sie daher erhalten wollen.

Wieder an Brüssel gewandt, sagte Orbán: Für die Ungarn bedeute Freiheit, dass sie ein Land errichten wollen, ohne dass ein „Vermieter“ sie beaufsichtigt. Die Ungarn wollen demgemäß nicht Mieter einer Wohnung im EU-Mietshaus sein, sondern stolzer Eigentumsbesitzer unter Gleichen. Niemandem sonst auf der Welt sei es wichtig, dass „etwas Ungarisches überlebt“. Heute fürchten demnach viele in Ungarn um ihre Freiheit, weil Eurokraten das Land „zu etwas zwingen wollen, zu dem sich die Ungarn selbst nicht durchringen können, das dem ungarischen Geist schädlich und dem ungarischen Leben fremd ist“.

Und noch einmal klarer ausgedrückt in einem klangvollen Dreiklang: „Sie wollen uns unter Druck setzen, in einen Krieg einzutreten. Sie wollen uns zwingen, Migranten aufzunehmen. Und sie wollen die Erziehung unserer Kinder ändern. Aber wir werden nicht in den Krieg eintreten, wir werden die Migranten nicht hereinlassen und wir werden ihnen nicht unsere Kinder geben“, sagte Orbán. „Das ist einfach wie Algebra und klar wie die Sonne, denn Ungarn ist ein freies und souveränes Land, und das wird es auch bleiben.“.

„Wenn dein Nachbar im Krieg ist, ist das schlecht für dich“

Eine interessante Ergänzung zu diesen Worten gibt ein Interview, das Orbán jüngst dem ungarischen Fernsehsender M1 gegeben hat. Kurz davor war Orbán von einer USA-Reise zurückgekehrt, und so nehmen Einschätzungen zur amerikanischen Innenpolitik und zum Verhältnis Ungarns zu den Staaten einen besonderen Raum in seinen Worten ein. Der Besuch war ein Ausdruck der amerikanisch-ungarischen Beziehungen, die heute von offizieller Seite als sehr schlecht gelten. Als Orbán in Florida bei Ex-Präsident Trump war, dekretierte das Weiße Haus wiederum, dass er sein eigenes Land auf eine „Diktatur“ hinsteuere. Dieser Ruf haftet Orbán seit einiger Zeit an, und seine eigene Vorliebe für den Begriff des „illiberalen Staates“ ist nicht ganz unschuldig an der Hartnäckigkeit dieses Vorurteils. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto nannte Bidens Behauptung eine Lüge und eine sehr ernste Beleidigung.

Orbáns Erklärung für den schwachen Stand der Beziehungen zwischen Budapest und Washington ist einfacher: Die Regierung Biden sei für den Krieg, seine eigene eine „Pro-Friedens-Regierung“. Dagegen sei Trump ein „Präsident des Friedens“ gewesen, der in seiner Amtszeit Kriege beendet habe, jedenfalls keinen neuen angefangen habe.

Zu der Frage, warum ein Ende des russisch-ukrainischen Kriegs wünschenswert sei, gibt Orbán verschiedene Antworten. Zum einen die Dauer des Konflikts, der sich „langsam ins Unendliche“ erstrecke. Das vielleicht noch nicht ganz, aber die Verluste wiegen täglich schwerer, zumal wenn unklar ist, wofür eigentlich gekämpft wird, worin der erstrebte Zugewinn für jede der beiden Seiten noch bestehen soll. Als zweiten Grund nennt Orbán die geographische Nähe seines Landes zum Konflikt: „Wenn dein Nachbar im Krieg ist, ist das schlecht für dich.“ Das verstehen auch US-Geschäftsleute, so der Ungar. Der Wert des eigenen Hauses sinke, wenn „es in deiner Nachbarschaft einen Streit oder einen Krieg gibt“. Es gibt also auch ein egoistisches Argument für den Frieden, und das dürfte umso größer ausfallen, je näher ein Land an der Ukraine liegt und folglich von Krieg und Instabilität negativ, von Stabilität und Wohlstand aber positiv betroffen ist.

Angeblich hat Donald Trump für den Fall seines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen im November sogar „ziemlich detaillierte Pläne, wie dieser Krieg zu beenden ist“. Nur ist Orbán freilich nicht befugt, die auszuplaudern. Er ist ja kein deutscher Luftwaffenoffizier oder Bundeskanzler. Allerdings sei es so, dass Trumps Pläne „mit dem Interesse Ungarns übereinstimmen“.

„Wir haben Dinge getan, die sie gerne tun würden“

Mit einer Prise Staunen berichtet Orbán von der großen Rolle, die er und Ungarn inzwischen unter amerikanischen Konservativen spielen: „So wird Ungarn heute in Amerika als ein besonderer Ort angesehen. Ein Ort, der anders ist als die anderen.“ Das übrigens natürlich auch im Vergleich zu Westeuropa.

„Wir haben also heute in Amerika viel Ansehen, weil wir Dinge getan haben, die sie gerne tun würden, aber es geht einfach nicht. Dies klingt für uns seltsam, weil diese Dinge für uns so natürlich sind wie das Atmen, aber wo sie fehlen, ist der Wert dieser Dinge enorm.“ Als Beispiel nennt Orbán die innere Sicherheit, die heute in Ungarn gesichert und erhöht wurde, wo sie in Amerika entgleist, auch weil die Autorität der Polizei und damit des Staates untergraben wird. Dann ist da natürlich noch einmal die Migration, denn „das illegale Überschreiten der Grenze“ sei „ein Verbrechen“, und Asyl beantragen kann man nur in einer ungarischen Botschaft, worauf man dann auf einen Bescheid wartet.

Den Abschluss des Interviews bildet die Erinnerung, dass Ungarn zu den acht Nato-Staaten gehöre, die das Zwei-Prozent-Ziel schon heute erreichen, dass Trumps Ehefrau glücklicherweise Slowenin sei (mit einem „guten slowenischen Mann“ als Vater), dass Trump eben auch ein großer „Showman“ sei und dass es in den „Werkzeugkasten der Diktatur“ gehört, jemanden durch (pseudo-) juristische Mittel an seiner Kandidatur hindern zu wollen – wie es in den Staaten die Gegner Trumps tun: „Aber ich denke, es ist gut für den Präsidenten. Ich habe die Erfahrung gemacht – und ich bin schon lange in diesem Sport, wenn ich das sagen darf –, dass man nur gewinnen kann, wenn man dafür gelitten hat.“ Und Trump leide gerade „wie ein Hund“. Aber am Ende werde er dann wohl doch – „wie das im ungarischen Volksmärchen zu sein pflegt“ – gewinnen. Für Ungarn könnte dieses Ereignis eine Verdoppelung der amerikanischen Investitionen bringen, die derzeit auf dem Niveau der chinesischen liegen (beide neun Milliarden Euro). Führend sind die Deutschen mit 25 Milliarden Euro Investitionen.

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