Tichys Einblick
Mit kompromissloser Rhetorik

Oberster General Estlands: „Wir sollten nicht zögern, tatsächlich zu eskalieren“

In einem ZDF-Interview erklärt der Oberbefehlshaber der estnischen Armee seine Sicht auf den Ukraine-Krieg und die Bedrohung für sein Land. Er habe kein Problem damit, Russland in die Ecke zu treiben. Der Westen sollte „keine Angst vor Eskalation“ haben.

Estlands Armeechef Martin Herem, Tallinn, 03.03.2022

IMAGO / Scanpix

Der oberste militärische Befehlshaber der estnischen Armee hat vom Westen mehr Härte und Kompromisslosigkeit gegenüber Russland gefordert. Im „ZDF“-Interview äußerte sich Generalleutnant Martin Herem mit entschlossenen Worten zur Situation rund um die Ukraine: Das westliche Bündnis sei bereits in einen „hybriden Krieg“ mit Russland verstrickt. „Russland setzt in diesem Krieg alle möglichen Elemente ein, um seine strategischen Ziele zu erreichen. Und eines davon ist die Instabilität unter den westlichen Ländern“, erklärte Herem. Die EU müsse sich auf den Winter vorbereiten, der „unterschiedliche Bedeutungen“ für uns haben werde, formulierte der General vorsichtig.

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Weniger zurückhaltend warb er hingegen für die Unterstützung der Ukraine: „Ich denke, wir müssen die Ukraine unterstützen. Wenn die Ukraine verliert, hätte das erhebliche Auswirkungen auf unsere Länder.“ Herem sprach konkret von massiven Folgen für die „Psychologie unserer Gesellschaften“ sowie insbesondere für die baltischen Staaten. Der Westen solle bei den Waffenlieferungen aufs Tempo drücken. „Was ich befürchte, ist, dass wenn wir zu spät kommen, jeden Tag nicht nur viele ukrainische Soldaten, sondern auch Zivilisten getötet werden.“ Es sei vielleicht kontrovers, formuliert er – aber „indem wir die Ukraine mit tödlichen Waffen unterstützen, verhindern wir tatsächlich das Töten unschuldiger Menschen“.

Zeitgleich, so General Herem, müsse der Westen die russische Bedrohung viel ernster nehmen als bisher. „Wir sollten sagen, dass wir jeden Tag bereit sein müssen.“ Und: „Wir sollten nicht zögern, tatsächlich zu eskalieren.“ Es sind erschreckende Worte vom militärischen Oberbefehlshaber eines Landes, welches doch an erster Stelle die volle Wucht einer solchen Eskalation abbekommen würde.

Doch Herem plädiert für eine Politik der Stärke gegenüber Russland – operative Erfolge werde Moskaus Armee in der Ukraine ohnehin nicht mehr erzielen können, prognostiziert er. „Einige Leute sagen, dass wir Russland einen Ausweg lassen müssen. Aber ich mache mir keine Sorgen, Russland in die Ecke zu drängen. Denn wir, die baltischen Länder, wir sind schon längst in der Ecke und wir fühlen uns auch so.“ Von Ländern wie Deutschland erwarte er, diesen Prozess anzuführen – auch sie sollten „keine Angst vor einer Eskalation haben“. Er lobt Deutschlands Engagement: Berlin tue mehr, als öffentlich bekannt sei.

Estland gehört zu den Nato-Staaten, die der Ukraine am schnellsten und vergleichsweise deutlichsten unter die Arme gegriffen haben – eine für das kleine Land enorme Anzahl an Waffen und weiterer Unterstützung ist bereits in die Ukraine geflossen. Unter anderem überwies die Regierung in Tallinn ein Drittel ihres Verteidigungsbudgets nach Kiew. Als ehemalige Sowjetrepublik und aufgrund seiner geostrategisch prekären Lage sieht sich Estland, genau wie seine baltischen Nachbarn, im Besonderen von Russland bedroht.

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