Tichys Einblick
Abschied vom EU-Parlament

Nigel Farage fordert ein neues Europa

Die EU-Parlamentarier nahmen mit Hängen und Würgen, Singen und Flehen Abschied von den Briten. Einer hielt dagegen: Nigel Farage. Auch er verbrachte einen Großteil seiner Karriere im EU-Parlament. Nun trennen sich auch diese Wege für immer. Momentaufnahmen zum offiziellen EU-Austritt der Briten im Straßburger Parlament.

JOHN THYS/AFP via Getty Images

Wenn einer in diesen Tagen voll im Saft steht, dann ist es der Erfinder des Brexit, Nigel Farage, der seit mehr als zwanzig Jahren für seine Idee eintritt, erst die Konservativen unter David Cameron zu einem Referendum über die »Unabhängigkeit« des Vereinigten Königreichs zwang und dieses Referendum dann – zusammen mit anderen Gruppen – für die eigene Sache entschied. Nun nahm auch er vom EU-Parlament Abschied, und das Parlament von ihm. In einem Interview mit dem Fernsehsender »euronews« gab Farage zu, dass er »das Drama« und »das Theater« der Parlamentssitzungen vermissen wird, in denen er stets der Bösewicht sein durfte: »Wenn ich aufstand, um zum Plenum zu sprechen, rührten sich 500 Leute und fingen an zu buhen.« Aber auch einige seiner Gegner gaben zu: »Dieser Ort wird so langweilig sein ohne Sie.«

Bei der Verabschiedung des Brexit-Vertrags kam es nun zu einem letzten Schlagabtausch zwischen Farage und einem seiner innigsten Feinde im Straßburger EU-Parlament, dem Belgier Guy Verhofstadt. In seiner Abschiedsrede zog Nigel Farage eine schwungvolle Bilanz nach 47 Jahren britischer Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann der EG und zuletzt der EU. »Mein Vater und meine Mutter«, so bekannte er, »haben einem gemeinsamen Markt ihre Zustimmung erteilt, nicht einer politischen Union mit Flaggen, Hymnen, Präsidenten, und jetzt wollen Sie sogar Ihre eigene Armee haben.« 27 Jahre seines Lebens verbrachte Nigel Farage mit Brexit-Kampagnen, zwanzig davon im EU-Parlament. Der Austrittsvertrag gefällt ihm dabei gar nicht mal besonders. Doch habe Boris Johnson zuletzt einigen Mut bewiesen. Mit ihm zeigt sich Nigel Farage in einer Frage einig und erhält den Applaus seiner Abgeordneten: Es werde kein gemeinsames Regelwerk (»level playing field«) mit der EU geben, also keine Übernahme von EU-Regeln in britisches Recht. Und in dieser Sache wünsche er Johnson viel Erfolg in der nächsten Verhandlungsrunde.

Ganz sicher ist sich Farage über eines. Der 31. Januar 2020 bedeute einen »point of no return«: »Sind wir erst gegangen, kommen wir nie wieder zurück.« Der Rest seien Details – das Kleingedruckte des Scheidungsvertrags. Farage erwähnt dann die Ablehnung der Verfassungsvertrags durch französische und niederländische Referenda und klagt die europäische Politik dafür an, ihn verkleidet als Vertrag von Lissabon letztlich doch ratifiziert zu haben. Die Iren habe man mehrmals abstimmen lassen, bis das Ergebnis stimmte. Doch die Briten seien, Gott sei Dank, »too big to bully« – zu groß, um sich herumschubsen zu lassen.

Beim Aufbau des neuen Europa »sollte sich Großbritannien voll einbringen«

Dem Rest Europas wünscht Farage eine Europa-Debatte, wie sie im Königreich stattgefunden hat: »Was erwarten wir von Europa? Wenn wir Handel, Freundschaft, Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit wollen, dann brauchen wir keine Europäische Kommission, keinen Europäischen Gerichtshof, keine dieser Institutionen und all diese Macht.« In der früheren UKIP ebenso wie in der jetzigen Brexit Party habe immer gegolten: »Wir lieben Europa, wir hassen nur die EU.« Das europäische Projekt, wie es heute bestehe, sei nicht einfach undemokratisch, sondern antidemokratisch. »Es gibt Menschen Macht, ohne sie dafür zur Verantwortung zu ziehen.« Die Eurokraten seien Menschen, die vom Wähler nicht für ihre Taten und Entscheidungen verantwortlich gemacht werden könnten.

Seine erstaunlichste, eigentlich zukunftsweisende Äußerung machte Farage dabei wiederum gegenüber dem Nachrichtenkanal »euronews«: »Ich hoffe sehr, dass der Brexit das europäische Projekt tiefgreifend umformen wird und dass wir die Europäische Union weg von einem zentralisierten Modell und weg von der Kommission zu einer auf Zusammenarbeit basierenden Struktur in Europa entwickeln können. Und wissen Sie was? Dabei sollte sich Großbritannien meiner Meinung nach voll einbringen.«

»Kein Guy Verhofstadt mehr!«

Den Grundkonflikt der heutigen Zeit sieht Farage in der Auseinandersetzung zwischen Globalismus und Populismus. Und das Lustige an dem Populismus, den Farage gegenüber der »globalistischen« EU-Elite vertritt, sei: »Er wird gerade sehr populär.« Seine Vorteile seien überwältigend: Keine EU-Beiträge mehr, keine EU-Gerichtsurteile mehr, keine Belehrungen von oben herab und keine Schikanen mehr. Zu guter Letzt: »Kein Guy Verhofstadt mehr!« Das Schwenken handlicher Union Jacks, mit der er und seine Fraktion die Rede beenden, wird von der Vize-Parlamentspräsidentin, der strengen Irin Mairead McGuinness, als Verstoß gegen die Hausordnung getadelt. Die Mitglieder der Brexit Party müssten die Flaggen entfernen oder das Plenum mit ihnen verlassen. Farages Anhänger wählten die zweite Möglichkeit. Gehen wollten sie ja ohnehin.

Kurz davor hatte eben jener Guy Verhofstadt den Austritt der Briten mit der üblichen Mischung aus Bedauern und Arroganz kommentiert. Angeblich hielt er sich dabei mit dem Hohn für seine Gegner etwas zurück. Trotzdem ist man bei diesem belgischen Supereuropäer versucht, das alte deutsche Wort der Hoffart zu verwenden. Es ist wirklich fatal, wie Verhofstadt, Vorsitzender der liberalen (!) Parlamentariergruppe, nun wirklich nicht verstehen will, was die Briten »nach über 40 Jahren« zum Austritt aus der EU bewogen hat.

Den Beginn des Brexits sieht er nicht vor etwa dreieinhalb Jahren, sondern viel früher, als die britische Regierung das Vorrecht in Anspruch nahm, selbst zu entscheiden, an welchen Unionsprojekten sie teilnahm und an welchen nicht (»opt-ins and opt-outs«). Er nennt auch den Beitragsrabatt der Briten, den einst Margaret Thatcher aushandelte, und glaubt: »All diese Ausnahmen, all diese Vetos haben die Union weniger effizient gemacht.« Die EU habe stets zu wenig und zu spät gehandelt. Und künftig soll sie also schnell, aber ohne die Unterstützung ihrer souveränen Mitgliedsländer handeln?

Die vorgeblich lange verlorene Souveränität Europas

Noch bedenklicher erscheint ein anderer Satz des Belgiers, nach dem »die europäischen Staaten ihre Souveränität schon vor langer Zeit verloren« hätten. Das ist ein sehr eigentümlicher Souveränitätsbegriff, der unter anderem mit Verhofstadts Angst – oder ist es nur eine für seine Zuhörer geschürte? – vor der Globalisierung und namentlich vor den mehr oder weniger neuen »Machtzentren« China, Indien und den USA zusammenzuhängen scheint. Aber wie konnten diese Mitspieler im globalen Konzert den europäischen Staaten »schon vor langer Zeit« ihre staatliche Souveränität rauben? Man versteht es nicht.

Und was ist das für ein liberales Programm, das die Furcht vor Handel und Wandel wählt und dabei Mut und Tatkraft, Eigenverantwortung vor allem anderen vergisst? Man beginnt in dem liberalen Fraktionsnamen »Renew Europe« (RE) – mit seiner zweimaligen Betonung des »Zurück« – ein Signal der Rückschrittlichkeit zu erkennen. Aber der Anfang des Projekts, an den sich die Briten am besten erinnern können, unterschied sich zugleich sehr von Verhofstadts Vision eines europäischen Superstaats. In jedem Fall müsste der Belgier im Grunde froh sein, dass ein Mitglied, das stets »ein Bein in der Union und eins außerhalb« gehabt hat, seinen Austritt beschloss. Vielleicht ist das sogar so.

Aber auch die »Reform der Union«, die Verhofstadt vorschlägt, dürfte schwer zu verwirklichen sein, zielt sie doch auf die Abschaffung der Einstimmigkeitsregel und des Veto-Rechts ab – richtet sich also letztlich gegen die Souveränität der Mitgliedsstaaten. Verhofstadt will die EU zum »effizienten« Herrschaftsinstrument über die Einzelstaaten machen, zum Leviathan, in dem nationale, regionale, lokale Interessen hinter denen der Union zurückstehen. Einen solchen Schritt aber kann kein nationaler Politiker vor seinen Wählern rechtfertigen. Das Scheitern derartiger Regelungen liegt vielmehr offen zutage, etwa wenn man an die Verteilung von Asylsuchenden auf die verschiedenen Länder denkt.

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