Tichys Einblick
Dokumentation

Was geschah wirklich? Neues Transkript im Fall George Floyd veröffentlicht

Von den Aufzeichnungen zweier Bodycams erhofft man sich Aufklärung darüber, was wirklich am Abend des 25. Mai in Minneapolis geschehen ist. Die Aufnahmen zeigen einiges, verschweigen aber das Wichtigste und Erratischste an diesem Fall: die Motivationen der Handelnden. (Mit Transkript zur Dokumentation.)

imago images / The Photo Access

Die Hinterbliebenen des Ende Mai bei seiner Festnahme verstorbenen George Floyd haben die vier beteiligten Polizisten und die Stadt Minneapolis verklagt. Die Anklage ist zweigeteilt: Zum einen hätten die Polizisten Floyds Grundrechte verletzt, als sie ihn über mehrere Minuten brutal fixierten. Zum anderen habe die Stadt Minneapolis eine »Kultur exzessiver Gewaltanwendung, von Rassismus und Straflosigkeit« in den Reihen der Polizei zugelassen. Beides sind schwere Anschuldigungen.

Der Anwalt der Familie, Ben Crump, will einen »Wendepunkt für die Polizeiarbeit in Amerika« herbeiführen. Er ist seit langem die Referenz in Fällen von Polizeibrutalität und hat schon hunderte Fälle aus diesem Feld übernommen. Die aktuelle Klage zeige, so Crump, »was wir immer schon gesagt haben: dass Herr Floyd gestorben ist, weil das Gewicht der gesamten Polizei von Minneapolis auf seinem Hals lag«. Crump will – wie sicher schon mehrmals zuvor – einen Präzedenzfall schaffen, der es der Polizei auch »in finanzieller Hinsicht« unmöglich macht, Randgruppen unrechtmäßig zu töten. Es ist eine Klage auf Schadensersatz.

Nach der Auswertung zweier Bodycams der beteiligten Polizisten J. Alexander Kueng und Thomas Lane sind mehrere eindeutige Verfehlungen der Beamten bei der Festnahme George Floyds festzustellen. Doch ebenso fällt eine lückenhafte, tendenziöse Berichterstattung auf, die das Geschehen sogleich im Sinne der Anklage interpretiert. Laut CNN, dessen Mitarbeiter die beiden Videos gesehen haben wollen, waren die letzten Worte George Floyds »I can’t breathe«, obwohl das in den Transkripten anders vermerkt ist. Dort heißt es zweimal fast wortgleich: »Ah! Ah! Please. Please. Please.« Beziehungsweise: »Please, sir. Please. Please.« Dass Floyd um sein Leben bettelte, ist schockierend genug, doch CNN waren die tatsächlichen letzten Worte von Floyd offenbar nicht salbungsvoll genug.

Die Welt unterlässt in ihrem Artikel vollständig zu erwähnen, dass George Floyd vermutlich unter dem Einfluss von Drogen stand, ebenso die FAZ. Laut der Süddeutschen zeigt das »veröffentlichte Material […], wie ein offensichtlich verängstigter Floyd […] die Polizisten bat, ihn gehen zu lassen«. Das ist der Dreh, den auch CNN der Sache gibt. Die Rede ist sogleich von einem schluchzenden Mann, der darum bittet, nicht festgenommen zu werden. Soll man daraus den Schluss ziehen, dass in Zukunft alle verängstigten Verdächtigen einfach gehen gelassen werden?

Die offene Frage nach den Gründen des Misstrauens

Präsident Donald Trump hat sich inzwischen deutlich von der Behauptung distanziert, dass schwarze Bürger von der Polizei systematisch diskriminiert würden. Auf die sehr allgemein gehaltene Frage einer CBS-Journalistin, warum noch immer Schwarze von der US-Polizei getötet würden, sagte Trump: »Und weiße Menschen genauso. Was für eine furchtbare Frage.« Über die zugrundeliegenden Statistiken kann man tatsächlich lange streiten. Aber man weiß auch, wie wenig eine Statistik über Kausalitäten aussagt. Hier stehen Studien aus, die wirklich zeigen, dass es eine rassistische Agenda bei den amerikanischen Behörden gibt. Bekanntlich bestreiten das ja sogar einige Amerikaner afrikanischer Herkunft sehr beständig.

Auch die nun veröffentlichten Transkripte lassen sich nicht einfach für eine solche antirassistische Kritik der Polizei vereinnahmen. Sie sind und bleiben das Dokument eines individuellen Falls, der durch viele Elemente bestimmt wird, nicht allein durch die Hautfarbe des Verdächtigen. Dennoch wird durch die Transkripte auch einiges klarer.

Ins Auge fällt von Anfang an die gestörte Kommunikation zwischen den Polizisten und George Floyd. Wo Floyd sich weigerte, mit den Beamten zusammenzuarbeiten, reagierten diese sofort mit großer Härte, die wir zumindest hier im alten Europa nicht gewohnt sind. Die Reaktionen der Polizisten erscheinen dabei auch im Licht der neuen Dokumente zum Teil unverhältnismäßig. Für die Anklage und gegen die Polizisten sprechen die folgenden Punkte:

  1. Die relativ frisch ausgebildeten Streifenpolizisten Thomas Lane und J. Alexander Kueng teilten George Floyd nicht sofort mit, aus welchem Grund er befragt wurde und aus seinem Auto aussteigen sollte.
  2. Um ihn zum Aussteigen zu bewegen, richtete Lane relativ bald seine Waffe auf Floyd. Er forderte ihn mit einem Fluchwort (»your fucking hands«) dazu auf, die Hände auf das Lenkrad zu legen. Ein ziviler Umgang auch mit einem mutmaßlichen Delinquenten sieht anders aus.
  3. Nach wie vor ist nicht einzusehen, warum Derek Chauvin auf einer so langen Fixierung Floyds in Bauchlage beharrte und alle anderen Vorschläge – auch von seinen Kollegen – ignorierte.

Neben und parallel zu diesen Verfehlungen spielt sich aber ein anderes Drama ab, in dem sich George Floyd den Ermittlungen der Polizisten widersetzt und sich mit fast allen Mitteln seiner Festnahme entziehen will. Während seine Begleiterin ihm rät, mit den Polizisten zusammenzuarbeiten, tut Floyd offenbar häufig etwas anderes, als er sagt. Ein Dialog ist das über weite Strecken gar nicht, vielmehr das Aufeinanderprallen der emotionalen Statements Floyds und sachlicher Aufforderungen seitens der Polizisten.

Natürlich ist eine gewisse Aufregung in einer solchen Situation menschlich verständlich und zu erwarten. Floyd behauptet, er habe seine Mutter vor kurzem verloren. Allerdings ist sie nach Angaben seiner Familie schon vor zwei Jahren verstorben. Als Lane die Waffe zieht, befürchtet Floyd sogleich, von ihm angeschossen zu werden. Er sei schon einmal von einem Polizisten auf genau diese Weise angeschossen worden. Diese und andere Äußerungen lassen entweder auf eine äußerst sensible emotionale Grundstimmung Floyds schließen oder – eventuell – auf seinen vorausgegangenen Drogenkonsum. Später wird Lane Schaum vor Floyds Mund bemerken. Floyd behauptet da, er habe gerade Basketball gespielt. Außerdem bemerken die Beamten seinen unsicheren Gang und seine fahrigen Bewegungen (»Why are you having trouble walking?«). Zudem haben sie eine Pfeife bei Floyd gefunden und sind sich irgendwann einig, dass er high ist (Thao: »Is he high on something?« – Lane: »I’m assuming so.« – Kueng: »I believe so, we found a pipe.«).

Vorgeschobene Argumente?

Floyd leistet offenbar Widerstand, obwohl er behauptet, es nicht zu tun. Er verhält sich merkwürdig und launenhaft, will den Beamten anfangs nicht seine Hände zeigen und verbirgt sie unter seinem Sitz. Floyds Begleiterin und Ex-Freundin Shawanda Renee Hill pflichtet ihm bei, er habe ein »thing« mit der Polizei und sei schon mal angeschossen worden. Sie rät Floyd, mit den Beamten zu kooperieren, doch als ein Polizist sie bittet, sich an die Wand zu stellen, erwidert auch sie reflexhaft: »Was habe ich getan?« – Antwort: »Das versuchen wir gerade herauszufinden.«

Zu fragen wäre, was die Polizisten legitimerweise befürchten mussten, als Floyd nicht mit ihnen zusammenarbeitete. Griff er mit den Händen, die er nicht zeigen wollte, nach einem Gegenstand? J. Alexander Kueng, selbst afroamerikanischer Herkunft, sagt es ihm deutlich und klar: Er verhalte sich »erratisch« und mache ihn, Kueng, damit nervös. Sachlich weist er Floyd darauf hin, dass sein merkwürdiges Verhalten ihn nur noch verdächtiger erscheinen lässt: »Wenn du ständig so unruhig bist, lässt du uns glauben, dass hier noch viel mehr los ist, das wir wissen müssten.«

Vielleicht erklärt auch der Drogenkonsum, dass Floyd später partout nicht in den Polizeiwagen einsteigen wollte. Er hatte nach eigenem Bekunden eine Panikattacke, behauptete an Klaustrophobie zu leiden und war offenbar allgemein immer wieder unkooperativ. Sein eigener Körper schien ihm nicht immer Folge zu leisten. So versprach er zwar unzählige Male, sich in das Polizeiauto zu setzen, tat es aber am Ende nicht. Angeblich hatte er gerade eine Covid-19-Infektion überstanden und befürchtete nun die Wiederansteckung – wenn nicht im Polizeiwagen selbst, dann vielleicht im Gefängnis. So trugen am Ende vielleicht viele Faktoren dazu bei, dass sich ein unter Verdacht geratener, körperlich kräftiger Mann (der allerdings von furchtsamer Seele zu sein schien) seiner Festnahme widersetzte.

Zwischendurch suchte Floyd sogar Zuflucht bei einem der jungen Polizeibeamten. Er solle bei ihm bleiben, als könne ihn das vor einem Übel bewahren. Oder waren seine angebliche Klaustrophobie, seine Panikattacken und die eventuelle Furcht vor einer erneuten Coronavirus-Infektion nur vorgeschobene Argumente, um nicht festgenommen zu werden? Die Antwort auf diese Frage können auch die neuen Videoaufnahmen und Transkripte nicht mit letztgültiger Sicherheit geben. Ein letzter Rest individueller Einschätzung wird dem Geschehen auch weiterhin anheften und eine allgemeingültige Bewertung erschweren.

Floyd selbst wollte sich auf den Boden legen

Irgendwann ruft ein Außenstehender Floyd zu, er solle die Beamten für jetzt gewinnen lassen (»give them a win«). Doch Floyd bleibt ambivalent: Er sagt erst, er wolle gar nicht gewinnen, dann, dass er nicht wolle, dass die anderen gewinnen (»No, I don’t want to try to win.« – »I don’t want y’all to win.«). In jedem Fall widersetzte er sich auch weiterhin seiner Festnahme. Noch einmal ruft ihm der anonyme »Male 5« zu: »Du wirst nicht gewinnen, bro.« Floyd versuchte es weiter mit Ausflüchten: Er möchte sich auf den Vordersitz des Polizeiwagens setzen, was ihm natürlich verweigert wird.

In der zehnten Minute des Videos spricht er erstmals von seiner Atemnot, als er sich weigert, in das Auto einzusteigen: »Ich kann nicht. Warten Sie. Ich kann nicht würgen [sic]. Ich kann nicht atmen.« Es ist nun Floyd selbst, der sich auf den Boden legen will (»I want to lay on the ground! I’m going down, going down, I’m going down.«). Und das ist anscheinend auf seinen körperlichen Zustand zurückzuführen. Der immer noch dabeistehende Mann Nr. 5 ruft ihm nun zu: »Du wirst noch an einem Herzinfarkt sterben, setz dich einfach in das Auto.« Floyd antwortet: »Ich weiß, ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen.« Schließlich stimmt Thomas Lane zu, Floyd auf dem Boden zu lagern. Im selben Moment betritt Derek Chauvin die Szene mit der Frage: »Geht er ins Gefängnis?«

Kueng erwidert, dass man Floyd wegen Fälschung festnehmen wolle. Floyd ruft aus : »Fälschung, weshalb? weshalb?« Dann sofort wieder: »Ich kann, verdammt noch mal, nicht atmen.« Und all das passiert wohlgemerkt, bevor Chauvin ihn am Boden fixiert. Das wird vermutlich der wichtigste Punkt der Verteidigung werden. Denn wenn Floyd schon vor der Fixierung durch Chauvin und seine Kollegen starke Atemprobleme hatte, aufgrund deren er sich gar auf den Boden legen wollte, dann stellt sich die Frage, ob die Fixierung durch die Polizisten wirklich die einzige oder Hauptursache von Floyds Tod war.

Jedenfalls wird damit das von der Familie beauftragte Gutachten des Forensikers Michael Baden in Frage gestellt. Laut Baden hatte Floyd keine Vorerkrankungen, die zu seinem Tod beigetragen hätten. Dagegen ging der offizielle Autopsiebericht des Hennepin County von mehreren belastenden Faktoren aus, darunter Vorerkrankungen am Herzen und die Intoxikation durch Drogen, namentlich Cannabis, Fentanyl und Methamphetamin (Crystal Meth); das letztgenannte hatte Floyd demnach relativ kurz vor seinem Tod konsumiert. Außerdem war schon durch den offiziellen Bericht bekannt geworden, dass Floyd eine Covid-19-Infektion überstanden hatte, auch wenn dieselbe ohne schwere Erkrankung vorüberging.

»You’re fine, you’re talking fine.«

Derek Chauvin ist als mutmaßlicher Haupttäter wegen Mordes zweiten und dritten Grades sowie wegen Totschlags (»manslaughter«) dritten Grades angeklagt. Seine Handlungsweise könnte am Ende eher einem Mord dritten Grades entsprechen, der in Minnesota als »depraved-heart murder« definiert ist, also im Grunde als fahrlässige, billigend in Kauf genommene Tötung. Der »depraved-heart murder« geschieht »ohne die Absicht, den Tod einer Person zu bewirken«, der Totschlag resultiert vielmehr aus einer »besonders gefährlichen Handlung« und der mangelnden »Rücksicht auf das menschliche Leben«.

Bei Minute 12 des Transkripts hat Floyd bereits mehrfach nach seiner Mutter gerufen. Er scheint sicher, dass er sterben wird und verabschiedet sich von seinen Kindern: »Tell my kids I love them. I’m dead«. Chauvin ignoriert all das vollständig. Doch obwohl Floyd behauptet, nicht atmen zu können, spricht er relativ viel. Die Beamten beruhigen auch sich selbst mit dieser Tatsache (Kueng: »You’re fine, you’re talking fine.« Minute 13), halten vielleicht auch die Atemnot für eine Wirkung der Drogen, gleich ob real oder als Halluzination. Chauvin übernimmt auch hier die Führung: »Then stop talking, stop yelling, it takes a heck of a lot of oxygen to talk.« (Minute 14) Handelte es sich vielleicht gar um einen Fall von »happy hypoxia«, einem Symptom, von dem auch im Zusammenhang mit Covid-19 berichtet wurde und das Patienten mit sehr sauerstoffarmem Blut relativ normal agieren lässt?

Thomas Lanes Sicht auf das Geschehen

Der Polizist Thomas Lane will nun erreichen, dass die Klage gegen ihn abgewiesen wird. Es war erst sein vierter Tag auf Streife und er hatte daher, sobald die dienstälteren Kollegen Chauvin und Tou Thao am Ort waren, vermutlich wenig zu melden. Zweimal schlug er vor, Floyd vom Bauch auf die Seite zu drehen (in Minute 15 und 17). Chauvin verweigerte das. Lane dürfte sich Sorgen gemacht haben, traute sich aber anscheinend nicht, sie deutlicher auszusprechen. Kurz nach dem zweiten Vorschlag Lanes sucht Kueng nach einem Puls und findet keinen. In der 21. Minute der Aufnahmen kommt schließlich der Krankenwagen an.

Lane gibt dem Sanitäter kurz Auskunft über das Geschehene: »Es war eine Anzeige wegen Falschgeld. […] Und er wollte nicht aus dem Auto aussteigen. […] Dann haben wir versucht, ihn auf die Rückbank des Polizeiwagens zu setzen, und er hat sich im Grunde widersetzt. […] Zuerst wollte er uns seine Hände nicht zeigen. Dann, als wir ihn in den Polizeiwagen kriegen wollten, befreite er sich mit Fußtritten […]. Wir kamen also bei der anderen Seite wieder heraus, und er kämpfte mit uns, dann haben wir ihn praktisch festgehalten, bis ihr gekommen seid.« Lanes Bericht nimmt natürlich Partei für sein eigenes Handeln und ist insofern Apologetik, dennoch gibt er uns eine Vorstellung davon, wie eine Seite das Geschehen sah. Erst nach diesem kurzen Dialog beginnen der Sanitäter und Thomas Lane mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Auch ein etwas merkwürdiger Zeitablauf. Doch was der Sanitäter während des Gesprächs tat, weiß man wiederum nicht.

Auch nach der Lektüre bleibt einiges an den Vorgängen um George Floyds Tod im Dunkel. Vor allem die Motivationen der Handelnden erklären sich daraus nur lückenhaft.


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