Tichys Einblick
Ganz ohne Selenskyjs Wissen?

Medien: Ukrainische Spezialkräfte haben Nord Stream gesprengt

Bald nach Seymour Hershs Artikel entwickelten Medien aus Deutschland und den USA eine Gegenstory um eine Segelcrew auf der Ostsee. Der nun angeblich gefundene Kopf der Gruppe ist ein zufällig inhaftierter Geheimagent. Präsident Selenskyj will gar nichts gewusst haben. Der Dumme bleibt die Bundesregierung, die sich wenig um die Sicherheit der Anlage geschert hat.

IMAGO / Xinhua

Die Erzählung, nach der die Sprengung dreier Nord-Stream-Pipelines durch eine sechsköpfige, fast schon private Gruppe aus der Ukraine oder Polen durchgeführt wurde, wirkte von Anfang wie ein Ablenkungsmanöver, auf das sich Russland und einige westliche Medien gut einigen konnten. Und man hat das Gefühl, dass diese wacklige Skizze nun immer weiter nach dem Schema „Malen nach Zahlen“ ausgemalt wird.

Für systemkonforme Leitmedien wie die New York Times oder die Hamburger Zeit war es durchaus praktisch, die tapferen Ukrainer als „edle Wilde“ zu zeigen, die sich auch an dieser Front heldenhaft gegen den russischen Aggressor zur Wehr setzen. Man konnte ihnen ihr Spiel mit Pfeil, Bogen und Unterwasserbomben nicht übelnehmen. Deutsche Interessen mussten für die Ukrainer und Polen nicht im Vordergrund stehen. Sie werden andernorts verwaltet und sollten dort befürwortet werden.

Auch die NY Times geht dieser Aspekt eher wenig an. Für große Redaktionen wie jene der Zeit ist die Frage wohl zuletzt noch geringer Bedeutung – wichtiger ist die geplante Klima-Transformation der deutschen Wirtschaft, die man nicht wegen solcher „Kleinigkeiten“ gefährden sollte. Zur Erinnerung: Es ging dabei um bis zu 110 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr, die Deutschland bei gleichzeitigem Betrieb von Nord Stream 1 und 2 hätte einführen und zum Teil gewinnbringend weiterverkaufen können. Bis zum „Abflauen“ der europäisch-russischen Geschäftsbeziehungen etwa Mitte letzten Jahres wurden rund 1,2 Milliarden Kubikmeter pro Woche durch die beiden Nord-Stream-1-Röhren geliefert. Das wären aufs Jahr gerechnet 60 Milliarden Kubikmeter. Noch immer fließen übrigens 500 bis 600 Millionen Kubikmeter russisches Gas pro Woche über die Pipelines Transgas und TurkStream nach Europa. Diese Verkäufe haben sich zuletzt wieder stabilisiert. Insgesamt (mit LNG) liefert Russland vielleicht noch ein Viertel der europäischen Gasimporte. Abnehmer sind zum Beispiel verschiedene Balkanländer, daneben Österreich und weitere Länder im östlichen Mitteleuropa.

NDR-Bericht: Mantel des Schweigens über Nord Stream

Die deutsche Bundesregierung scheint derweil kein Interesse an der Aufklärung der großen Pipeline-Sprengung zu haben, durch die neben der russischen Gazprom (mit einer Beteiligung von 51 Prozent) deutsche, französische und niederländische Energiefirmen um ihre Investitionen gebracht wurden. Die Gesamtkosten der vier Röhren (einschließlich Rand-Infrastruktur) lagen bei knapp 30 Milliarden Euro. Sogar Systemmedien wie der NDR mit seinem Medienmagazin Zapp https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Geheimsache-Nord-Stream-Wird-die-Aufklaerung-blockiert,zapp14282.html sprechen inzwischen von einem „beispiellosen Angriff auf Deutschland kritische Infrastruktur“. Inzwischen fällt auch das „träge Meldeverhalten“ der Offiziellen nach dem Geschehen auf. Ein Augenzeuge, der ein Handyphoto von der immerhin 56 Meter hohen und über 300 Meter breiten Sprengfontäne machte, kam eigentlich gar nicht in den Medien vor. Wie so vieles andere.

Journalisten von Spiegel und Zeit sprechen von einem „Mantel des Schweigens“, der ausgebreitet wird, und von offizieller Erleichterung, sobald das Thema wieder aus den Nachrichten verschwindet. Jene staatlichen Kontakte, die den Investigativjournalisten sonst mit Informationen zur Seite standen, blicken sie nun mit „leeren Augen“ an, sagen, das Thema sei ihnen zu heiß. Dahinter soll der Kanzler stehen, der Informanten aus den Reihen der Bundesregierung aufspüren und bestrafen lasse. Ein „Klima der Angst“ führt logisch zur konsequenten Zurückhaltung der Informationen zur Sprengung.

Nun wollen Washington Post und Spiegel erfahren haben, dass ein „hochrangiger ukrainischer Militäroffizier mit tiefen Verbindungen zu den Geheimdiensten des Landes“ eine Schlüsselrolle bei der Sprengung der Gaspipelines gespielt haben soll, und zwar laut Offiziellen aus der Ukraine und anderen Ländern Europas. Der zweite Teil wäre nicht erstaunlich, der erste schon: Ukrainische Offizielle sollen hier eine zentrale Figur aus ihrem Geheimdienst angeschwärzt haben? Ist das lediglich das Bauernopfer, das es den Europäern, namentlich den Deutschen erlauben soll, diese Angelegenheit mit ihren vielen offenen Fragen endlich zu begraben?

Es muss ja eine Lösung her. Laut Nietzsche würden wir Menschen lieber an das Nichts als an nichts glauben. Wir müssen immer an etwas glauben, und da wäre ein ukrainischer Geheimagent, der die Aufgabe übernimmt, eine deutsch-russische Gaspipeline zu sprengen, welche sein Land umgeht und marginalisiert, schon plausibel.

Staatsnahe Medien bleiben an Ukraine-Story kleben

Wenn da nicht der Makel wäre, dass hier nur die Erzählung von der polnisch-ukrainischen Segelyacht-Crew fortgesetzt wird, die in diesem Frühjahr eilig gestrickt wurde, um den Wissenshunger und die Zweifel einer breiteren Öffentlichkeit zu stillen. Damals erhielten mindestens zwei Zeitungen zugleich reichlich nebulöse Informationen über dieses Segelboot namens „Andromeda“, das gechartert wurde und auf dem später einige gefälschte Pässe und Sprengstoffspuren gefunden worden seien. Nur war das einfach zu blöd, um glaubhaft zu sein. Trotzdem wird es bis heute von angeblichen „Investigativjournalisten“ von der NY Times und anderen wiedergekäut (siehe der Zapp-Bericht).

In Deutschland fanden derweil RTL und ntv nun sogar eine Russland-Verbindung an dem Segelboot: Es wurde angeblich von einer Russin gemietet, die nach der Annexion Krim dort Wahlen für Russland durchführte. Seltsamer Zufall und dabei schreiben doch andere, dass die Bootscrew sich vor und nach dem Anschlag in der Ukraine befand. Haben die beiden großen Länder am Ende doch mehr gemeinsam, als manche denken?

Schleierhaft bleibt trotz alledem, wie man versuchen konnte, diese Geschichte einer breiteren Öffentlichkeit zu verkaufen. Kurzum, es war ein Desaster, und als einzige Erklärung mit Tiefgang bleibt die Artikelserie, die der Pulitzerpreis-Träger Seymour Hersh zu dem Thema beigesteuert hat, obwohl auch seine Theorie kaum Unterstützung fand. Das war allerdings in diesem Fall plausibel, denn Hershs gesamtes Gebäude beruht darauf, dass er eine einzige Quelle aus der Nähe der US-Dienste anzapfte, die ihm ihr Wissen mitteilte, welches der Plebs aus gutem Grund nicht zugänglich ist. Auch die berechtigte Annahme, dass ein US-Präsident oder verschiedene ihm unterstehende Stellen so etwas umsetzen und verheimlichen könnten, wenn sie nur wollten, stützt Hershs These. Es ist wie mit dem Gottesbeweis: Er ist unmöglich aufgrund der Ungreifbarkeit des höchsten Wesens. Die Hersh-These bleibt plausibel, solange man nur die weitgehenden Machtbefugnisse amerikanischer (und anderer) Dienste voraussetzt, die in jedem Agentenfilm selbstverständlich eine Hauptrolle spielen.

Auf der anderen Seite ist es konsequent, dass die staatsnahen Medien bei der einmal mit ihrer Hilfe etablierten Ukraine-Hypothese bleiben. Nun soll es also Roman Tscherwinskyj gewesen sein, ein 48-jähriger Oberst, der in den ukrainischen Sondereinsatzkräften gedient hat. Tscherwinskyj soll der „Koordinator“ der Nord-Stream-Operation gewesen sein. Angeblich leitete er ein sechsköpfiges Gruppe, welche das Segelboot unter Verwendung falscher Identitäten mietete und mithilfe einer Tiefseetaucher-Ausrüstung die Bomben an die vier Röhren setzten, von denen drei am 26. September 2022 zerstört wurden. Verantwortlich für das Unternehmen wäre in diesem Fall der höchsten ukrainische Militär, General Walerij Saluschnyj, dem auch der Geheimagent Tscherwinskyj unterstand.

Auch die Ukraine kann Attacke

All das will man nun von ukrainischen Zuträgern erfahren haben. Man erfährt wenig von ihnen, vor allem nicht, warum sie diese Informationen zu diesem Zeitpunkt herausgeben. Die US-ukrainischen Beziehungen sollen schon darunter gelitten haben. Es könnte natürlich sein, dass die ukrainischen Informanten von Spiegel und Washington Post schlicht empfänglich für kleine Unterstützungszahlungen wären, also selbst gar kein taktisches Interesse mit ihrem Informantentum verbänden. Oder übernimmt die Ukraine hier lediglich die Rolle eines Sündenbocks, der die Schuld auf sich nimmt, damit sie verschwindet.

Inzwischen hat die Ukraine immerhin bewiesen, dass sie zu ungewöhnlichen Attacken fähig ist, etwa an der Krim-Brücke im Juli dieses Jahres. Dennoch bleibt fraglich, ob das Land oder sein Militärgeheimdienst die Schwierigkeiten der Nord-Stream-Operation hätte meistern können. Der beschuldigte Tscherwinskyj dementiert natürlich ohnehin jede Beteiligung an dem Anschlag. Das seien alles nur russische Propagandalügen ohne jede Grundlage, schrieb der Ukrainer an die Washington Post und den Spiegel.

Die ukrainische Regierung hat gar nicht auf Fragen der Journalisten geantwortet. Laut der WP zeigt all das die „komplexen Dynamiken und internen Rivalitäten“, die es in der Kiewer Regierung gebe. Geheimdienste und Armee verbinde oft ein spannungsreiches Verhältnis zur politischen Führung, heißt es fast leerformelhaft. Mag sein, aber erklärt das eine so folgenreiche Operation ohne jede Kenntnis der politischen Führung? Es ist eine „Erklärung“ von erstaunlicher Flachheit.

Der fleißige Geheimagent

Die Post erzählt dann noch ein wenig über die vergangenen Geheimoperationen Tscherwinskyjs. Alles sehr hübsch und plausibel. Nur beweist auch eine echte Geheimagenten-Vita nicht, dass der Oberst irgendetwas mit der Sprengung der Nord-Stream-Röhren zu tun hat. Tscherwinskyj wäre also „gut geeignet, bei der Durchführung einer verdeckten Mission zu helfen, bei der die Verantwortung der Ukraine unklar bleiben sollte“. Das ist wiederum ein sehr kurzer Beweisgang.

Schauen wir trotzdem kurz hinein: So soll Tscherwinskyj versucht haben, Wagner-Söldner durch „Schein-Rekrutierung“ nach Weißrussland zu locken, um sie dann in die Ukraine zu verschleppen. Daneben soll er vor allem Operationen innerhalb der Ukraine gegen russische Separatisten geplant und ausgeführt haben. Derzeit sitzt er laut der Post in einem Kiewer Gefängnis, da er bei seiner letzten Aktion ein paar Geheimnisse zu viel verraten hat – angeblich im Bemühen, einen russischen Kampfpiloten abzuwerben. Im Zuge dieses Versuches verriet Tscherwinskyj die Koordinaten eines ukrainischen Landefelds, welches in der Folge von russischen Raketen angegriffen wurde: ein Toter und 17 Verletzte waren die Folge.

War dieser Tscherwinskyj vielleicht gar ein Doppelagent? Er selbst gibt an, nur auf Befehl von oben – letztlich wieder General Saluschnyj – gehandelt zu haben, als er den russischen Piloten samt Maschine zu einem ukrainischen Rollfeld führte. Seine Inhaftierung sei eine politische Rache für seine Kritik an Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der engste Berater Selenskyjs, Andrij Jermak, sei ohnehin ein russischer Spion, so der inhaftierte Oberst.

Darf ein Geheimdienst am Präsidenten vorbei operieren?

Die beste Wende in dieser Geschichte der Washington Post ist die, dass – bei aller ukrainischer Verstrickung – nur Selenskyj unschuldig an dieser Sache bleiben soll, so wie er es öffentlich festgestellt hat. Im Artikel der Post heißt es nun: „Die Nord Stream-Operation wurde so entworfen, dass Selenskyj nicht eingeweiht wurde“, das berichten angeblich Personen, die mit der Operation vertraut sind. Also ein Präsident, der anscheinend wenig mehr als eine Marionette an der Spitze des Landes ist und über bedeutende Geheimoperationen mit internationalen Auswirkungen einfach nicht informiert wird. So deutet sich bereits die schön-absurde Handlung eines weiteren Agentenromans an, in der das verschworene Team der Operation dem Verteidigungschef Saluschnyj berichtet, der gegenüber Selenskyj Stillschweigen bewahrt und seine wahren Befehle vielleicht – das steht freilich nicht in der Washington Post – von andernorts bekommt.

Manchmal ist es ja auch gut, wenn man als gewählter Präsident der Ukraine nicht alles weiß. CIA-Informationen, die ein Mitglied der Massachusetts Air National Guard, Jack Teixeira, schon Anfang des Jahres auf der Chat-Platform Discord geleakt hat, belegen dieses Verfahren angeblich. Danach handelte das Militär mittels seiner Geheimagenten, während der Präsident nichts erfahren musste. Aber im Falle der Nord-Stream-Sprengung ist so ein Vorgehen entweder nicht vorstellbar oder nur um den Preis, dass weitaus Höherstehende hier die Fäden in Händen halten. Schließlich ist auch möglich, das Selenskyj passiv an den Planungen beteiligt wurde und die Befehle von anderswo – vielleicht von jenseits des großen Teiches – kamen.

Saluschnyj erzählte der Post freilich schon im Juni von einem Anruf des US-Generalstabschefs Mark A. Milley, der ihn nach einer ukrainischen Beteiligung gefragt habe. Saluschnyj verneinte mit Nachdruck: „Viele Operationen sind geplant, viele Operationen laufen, aber damit haben wir nichts zu tun, gar nichts.“ Angeblich wollten nur russische Propagandisten ihn und die ukrainische Armee mit der Operation in Verbindung bringen.

TurkStream liefert noch immer Gas auf den Balkan

Dass Saluschnyj als Militär alles abstreitet, mag hingehen. Was aber, wenn wirklich die ukranischen Kräfte und damit auch – wissend oder nicht – Selenskyj, wenn die Regierung der Ukraine eine Mitschuld trägt an dieser deutschen – im wahrsten Sinne des Wortes – Investitionsruine? Diese Fragen muss sich eine Bundesregierung, darf sich aber auch das deutsche Volk stellen. Daraus könnten Konsequenzen folgen für das diplomatische Verhältnis zur Ukraine und die deutschen Investitionen in deren Rüstung und Ausrüstung.

Interessant ist hier vielleicht doch ein Seitenblick auf die Schwarzmeer-Pipeline TurkStream, die sich immer noch bester Gesundheit erfreut. Hier soll es auch laut russischen Angaben einen Anschlagsversuch der Ukrainer im Oktober 2022 gegeben haben, der aber durch russische Dienste verhindert wurde. Noch so eine staatliche Räuberpistole, die ideal dazu geeignet ist, das russische Volk zu weiteren Anstrengungen zu inspirieren. Dennoch werden die Putin- und TASS-Kommuniqués nun auch von der Washington Post herangezogen. Immerhin: Auch der niederländische Militärgeheimdienst habe von dem ukrainischen Vorhaben gewusst.

Aber das will ja durchaus noch einleuchten, dass ukrainische Agenten eine Pipeline vor ihrer Haustür sprengen, in einem Meer, in dem ihre Flotte sich gut auskennt. Sie haben es nicht geschafft. Warum sollte es ihnen in der Ostsee gelungen sein? Zudem müssten dort ganz andere Mächte – darunter die Bundesrepublik – Vorrechte beanspruchen und den Raum beherrschen. Ob die Bundesregierung an dieser Stelle wachsam war, daran herrschen große Zweifel. Olaf Scholz vermittelt bis heute nicht den Eindruck. Eher scheint er am 7. Februar 2022 in Washington D.C. jeden deutschen Anspruch auf ein Fortbestehen der Nord-Stream-Pipelines aufgegeben zu haben, wie man im Anschluss an Seymour Hersh rekonstruieren konnte. Bezahlen tun es auch die deutschen Bürger und kleinen Betriebe, für die kein Industriestrompreis gelten soll. Bezahlen tun es auch die Verbraucher von allen möglichen Gütern, die seit dem Gas- und Energiemangel – und nicht unmittelbar wegen des Krieges – teurer geworden sind. Aber das gehört vielleicht zum großen Plan, wer weiß das schon noch.

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