Tichys Einblick
Israel schon fast nach Corona

Die nächste Welle gibt es nur am Meer

Der R-Wert, mit dem weltweit die Ansteckungsrate berechnet wird, liegt in Israel aktuell bei 0,62. Alles unter 0,8 beweist, das Virus verschwindet langsam. Wenn von einer Welle geredet wird, denken lebensfrohe Israeli deshalb nur an die nächste aufschäumende Meereswelle am Mittelmeer-Strand.

Jerusalem Anfang März

IMAGO / ZUMA Wire

Israel feiert in dieser Woche das Pessach-Fest, den Auszug aus Ägypten vor 3.000 Jahren, das Ende der Knechtschaft des jüdischen Volkes. Das Fest kommt wie bestellt, denn gleichzeitig ist die Knechtschaft unter dem Covid-19-Virus so gut wie beendet. Cafés sind gut besucht, Restaurants nehmen wieder Tischbestellungen an, Theater-Bühnen sind hell erleuchtet und vom Flughafen Ben Gurion aus lädt Air Seychelles israelische Touristen zum Urlaub ein.

Ankommende Passagiere werden am Flughafen mit einem Wattestäbchen zum Corona-Test erwartet, Abstandsregelungen gelten nach wie vor, 10tägige Quarantäne ist immer noch Pflicht, aber das Temperaturmessen ist abgeschafft. Israel befindet sich im Wahlkampf und die Politiker betreiben aktives Canvassing, suchen den direkten Kontakt in vollbesetzten Cafés und überlaufenen Märkten. Begünstigt wird der Open-Air-Wahlkampf durch inzwischen warme Temperaturen im aufblühenden Frühling.

Während in Berlin Bundesregierung und Ministerpräsidenten mit Virologen und Epidemiologen streiten, ob und wie lange der nächste Lockdown dauert, feiert Jerusalem Party und gibt seinen Bürgern Hoffnung auf bessere Zeiten: „Follow the Lights“ (Folge dem Licht) heisst das Motto und Zigtausende radeln, gehen und fahren mit dem Auto abends von der beleuchteten Altstadtmauer zu den Scheinwerfern auf dem Parlamentsgebäude der Knesset, die wie feurige Finger in den Himmel strahlen, als wären sie in der Heiligen Stadt auf der Suche nach dem einzig helfenden Gott.

Die Jugend trifft sich unterdessen auf Einladung des Radiosenders FM106 auf einem Parkplatz unterhalb der „Hebron Road“. Denn dort geht bei Pop und Rock die Post ab. Sie tanzen auf den Dächern ihrer Vans im Rhythmus mit und ohne Kippa auf dem wackelnden Haupt. Pizza gibt es manchmal kostenlos – natürlich streng kosher.
Der oberste Corona-Bekämpfer Prof. Nachman Ash erwartet keine weitere Infektionswelle, nachdem die täglichen Zahlen unter 350 gesunken sind. So niedrig waren sie zuletzt im November. Auch die täglichen Sterberaten liegen seit einer Woche zwischen 8 und 24, die ernsten Fälle sind ebenfalls dramatisch gesunken. Österreich und die Schweiz, die eine Israel-ähnliche Bevölkerungszahl aufweisen, müssen wesentlich höhere Opferzahlen ausweisen. Das Impfen hat sich bewährt: in Israel sind 4,5 Millionen der Gesamtbevölkerung doppelt und 5,1 Millionen einmalig gepikst. Das erlaubt es den Krankenkassen, öffentliche Impfstationen in Tel Aviv und Jerusalem abzubauen. Krankenhäuser und mobile Impfstationen übernehmen die restliche Arbeit in den vorwiegend von Arabern und orthodoxen Juden bewohnten Gegenden.

Avigdor Liebermann, Ex-Verteidigungsminister und russisch-stämmiger Netanyahu-Gegner, spricht in einem TV-Live-Interview von Israel dem „Garten Eden“ des Nahen Ostens, erwähnt aber nicht, wem das Land diesen Erfolg zu verdanken hat. Am morgigen Dienstag wird gewählt und allen Umfragen zufolge wird die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu auch wieder mit der Regierungsbildung beauftragt. Damit wird er vom Wähler für seine umsichtige Corona-Politik und seine hartnäckig-zielstrebige Einkaufsstrategie für Impfstoffe belohnt. Er hat das Land vor einer andauernden Mangelwirtschaft bewahrt, die Neid, Missgunst und Aggressionen hervorruft, wie es nur aus der Dritten Welt und von kommunistischen Regimen bekannt ist.

Mit ungläubigem Kopfschütteln reagieren Israeli auf die täglichen Corona-Nachrichten aus Deutschland, die vom Ausbruch einer weiteren Welle mit hohen Infektions- und Sterberaten und einem erneuten Lockdown berichten. Biontech, die einen hochwertigen Impfstoff erfunden hat, ist doch eine deutsche Firma, berichten die Medien. Warum nutzt die Berliner Regierung nicht ihre eigenen Produktionsstätten, fragt man sich in den Strassen Tel Avivs. Mit Unverständnis wird auf die propagierte „Europäische Lösung“ reagiert, die dann keine Lösung war, aber hohe Opferzahlen und wirtschaftlich Milliarden-Schäden verursacht.

Auch wenn nach den Feiertagen die Universitäten die Hörsäle für Präsenz-Vorlesungen wieder öffnen, ist auch Israel noch nicht über dem Corona-Berg. Der für das Land wichtige Tourismus bleibt noch geschlossen, weil man die Gefahr der Mutanten noch nicht im Griff hat. Auch wissen die lokalen Virologen nicht zuverlässig, ob Geimpfte das Virus übertragen und wie Kinder unter 16 – immerhin rund 18 Prozent der Bevölkerung – das Virus verarbeiten. Der R-Wert, mit dem weltweit die Ansteckungsrate berechnet wird, liegt in Israel aktuell bei 0,62. Alles unter 0,8 beweist, dass das Virus langsam verschwindet. Wenn von einer Welle geredet wird, denken lebensfrohe Israeli deshalb nur an die nächste aufschäumende Meereswelle am Mittelmeer-Strand.

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