Tichys Einblick
Ukraine-Krieg trifft auch den Nahen Osten

Israel will im Ukraine-Konflikt vermitteln und ist gefangen in seltsamer Abhängigkeit zu Russland

Die Zurückhaltung Israels in der Ukraine-Frage hat seine Gründe: Jerusalem wahrt seine regionalen Interessen in Syrien und überlegt seine Reaktion genau. Premier Bennett hat mit Russlands Präsident Putin telefoniert und angeboten, zu vermitteln.

Israels Ministerpräsident Naftali Bennett beim Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi am 25. Oktober 2021.

IMAGO / SNA

Russland ist ein Nachbar Israels – eine Aussage, die Landkartenkundige leicht irritieren mag. Dennoch stimmt die Feststellung. Denn an der israelischen Nordgrenze zu Syrien steht seit Jahren russisches Militär. Moskau unterstützt seit einer Dekade den Despoten in Damaskus, Baschar Al-Assad, und hat gleichzeitig Absprachen mit Israel.

Israel sieht sich von 80.000 pro-iranischen Kämpfern in Syrien bedroht

Moskau hat sich mit der Unterstützung des syrischen Diktators einen alten Traum verwirklicht: einen Stützpunkt an einem warmen Meer. Mit dem Mittelmeerhafen Latakia hat Putin eine Ausgangsbasis und östlich davon – in Hemeimeem – umgehend auch noch einen Militärflughafen eingerichtet. Dass sich Moskau mit der Hilfe für Al-Assad an einem Genozid am syrischen Volk mitschuldig macht, juckt einen Putin herzlich wenig, wie spätestens seit dem 24. Februar 2022 augenscheinlich ist. Die Zahlen sind bekannt: in elf Jahren Bürgerkrieg – auch mit Chemiewaffen – beklagt Syrien mindestens 500.000 Tote und elf Millionen Flüchtlinge im eigenen Land. Eine Folge davon ist auch, dass heute 900.000 „Asylanten“ in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen die drittgrößte Minderheit ist.

Russische Luft- und Bodentruppen haben 2015/16 gemeinsam mit den USA und Europa einen Krieg gegen den Islamischen Staat (IS), der damals große Teile Nordsyriens besetzt hielt, geführt. Moskau und Washington haben sich nach der vorläufigen Vertreibung des IS gegenseitig belobigt. Fast hörbar hat sich auch Al-Assad auf die Schenkel geklopft, weil Freund und Feind damit seine unrühmliche Position in der Region gestärkt haben.

Parallel zu dieser militärischen Großwetterlage hat sich in Syrien der Iran mit 80.000 Kämpfern und ausreichend Kriegsgerät eingenistet. Deren Absicht ist, Al-Assad zu unterstützen und die Hegemonialziele der Imams im Nahen Osten tatkräftig zu verfolgen. Und aus dieser Position haben sie offen deklariert als oberstes Ziel im Auge, Israel von der Landkarte zu tilgen.

Das russische Militär schaltet seine Luftabwehr aus, wenn israelische Jets über Syrien fliegen

Hier kommt Jerusalem ins Spiel, das berechtigterweise gegen Teherans Absichten etwas einzuwenden hat und deshalb seit Jahren fast im Wochenrhythmus iranische Stellungen in Syrien prophylaktisch bombardiert. Das ist fast ungestört möglich, weil zwischen Jerusalem und Moskau eine wenig bekannte Übereinkunft besteht: wenn israelische Kampfflugzeuge in den syrischen Luftraum eindringen, wird die Luftabwehr mit den modernen S-400-Raketen ausgeschaltet.

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Mit Rücksichtnahme auf diese für Israel lebenswichtige Absprache hält sich Ministerpräsident Bennett bei der Verurteilung Russlands nach dem Überfall auf die Ukraine zurück. Der aggressive Verursacher wird geflissentlich nicht erwähnt. Denn es gilt die alte Weisheit, die auch in den Kommentaren zur jüdischen Bibel nachzulesen ist: das Hemd ist mir näher als der Rock. Niemand weiss es besser als Israel: Vereinbarungen können jederzeit aufgekündigt werden.

Sollte es einen Plan in Jerusalem geben, sich aus der Affäre zu ziehen, er geht in einer Demokratie mit einer freien Presse und einem fast täglich ausgeübten Demonstrationsrecht nicht auf. Vor der Botschaft Russlands sind noch am gleichen Tag der Invasion hunderte Israeli mit Plakaten aufmarschiert, auf denen sie ungeschminkt ihre Meinung zum Ausdruck bringen: „Putin ist der neue Hitler“. Der gelernte Journalist Yair Lapid, zur Zeit Aussenminister im Kabinett Bennett, hat schon vorher den Aggressor beim Namen genannt. Er warf Russland unverblümt eine „ernsthafte Verletzung der internationalen Ordnung“ vor. Auf seinem Tisch lag eine Version mit direkter Namensnennung Moskaus und eine ohne. Er hat sich für die schärfere entschieden.

Israels Vorsicht ist Staatsraison

Voreilige Kritik an Israels zögerlicher Haltung zur russischen Invasion in der Ukraine ist unangebracht. UN, EU und der Rest der Welt können zeitgewinnende Diskussionen über Pro-und-Kontra Sanktionen gegen Russland führen. Hinter jeder diplomatischen oder undiplomatischen Formulierung Israels steht immer eine Gefahr für das Überleben des einzigen jüdischen Staates, wiedergewonnen nach fast 2000 Jahren. Zweifel, dass der einzige demokratische Rechtsstaat im Nahen Osten an der Seite derer steht, die die Friedensordnung in Europa am Leben erhalten wollen, entbehren jeder Grundlage. Die leidvolle jüdische Geschichte zwingt jede Regierung Israels stets, Unterdrückten zur Seite zu stehen.

In Israel leben heute rund zwei Millionen Bürger, deren Muttersprache russisch ist. Sie kennen die osteuropäische Geschichte hautnah. Natan Sharansky, der die GULAG-Spuren der kommunistischen Arbeitslager an Leib und Seele mit sich trägt, ist eine der mahnenden Stimmen, die die Bewegung „Let my people go“ (Lass mein Volk ziehen) im vorigen Jahrhundert symbolisiert haben. Ihr Leitmotiv bekommt für die Ukraine im Jahr 2022 eine neue, schmerzliche Aktualität.

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