Tichys Einblick
Festgefrorener Krieg

„Vorschlag“ für Waffenstillstand: Hamas-Führung fordert 30 Häftlinge für eine Geisel

Die Hamas kann nicht garantieren, dass auch nur 40 der israelischen Geiseln noch am Leben sind. Dennoch fordert die Terrororganisation die Freilassung von hunderten Häftlingen aus Israel – vielleicht nur im Tausch gegen Leichen. Angesichts des iranischen Angriffs spielen die Hamas-Führer einmal mehr auf Zeit.

picture alliance / Winfried Rothermel
Der iranische massive Angriff auf Israel hat die Machtbalance in der Region kurz erbeben lassen. Aber die Verteidigung des israelischen Luftraums durch den „Iron Dome“ hat gezeigt, dass auf diesem Wege keine Wende im Gaza-Konflikt kommen wird. Hier spielt ein jeder auf eigene Rechnung. Die Verhandlungsposition der Hamas wurde nicht gestärkt, eher sah das nach Gesichtswahrung angesichts eines israelischen Schlags gegen die iranische Botschaft in Damaskus aus. Teheran ist nicht „all in“ gegangen.

Für die deutschen Grünen und Konsorten darf es dennoch gerne ein Fest werden, ihre verschwurbelte Freundschaft zu dem islamischen Regime im Iran in dieser Weise auf die Probe gestellt zu sehen. Nun gilt es, sich zu entscheiden zwischen „deutscher Staatsräson“ und grüner Raison d’être: Soll man Israel unterstützen oder die unverbrüchliche Freundschaft mit dem politischen Islam bewahren? Die Damen Baerbock, Roth, aber auch Svenja Schulze und Aydan Özoguz (beide SPD), ebenso wie die Herren Habeck und Nouripour sind am Zug, sich zu erklären. Es wird ihnen vielleicht erspart bleiben, weil die Teheraner Mullahs es vorziehen, weiterhin im Versteckten zu operieren.

Im Hintergrund gehen die Fünfergespräche zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen und zur Befreiung der israelischen Geiseln weiter. Allerdings weiß die Hamas laut eigenen Angaben nicht mehr mit Gewissheit, dass sie auch nur 40 israelische Geiseln in ihrer Gewalt hätte, die noch am Leben seien und die „humanitären“ Kriterien für derzeit diskutierte Austauschvorschläge mit Israel erfüllen.

Die USA hatten zuletzt einen Vorschlag gemacht, laut dem 40 israelische Geiseln – vor allem Frauen, Kinder, ältere oder kranke Personen – im Austausch für 900(!) palästinensische Gefängnisinsassen freikommen sollten. Auch fünf israelische Soldatinnen sollten ausgetauscht werden, erst später sollten männliche Soldaten und Zivilisten folgen. Doch die Hamas lehnte ab und präsentierte nun ihren Gegenvorschlag.

Das Büro des Premierministers sprach gestern auf X von 133 Geiseln, die man noch befreien wolle. Aber das Statement gibt sich zugleich illusionslos. Die Zurückweisung des Vorschlags der drei Vermittler – neben den USA sind das Katar und Ägypten –, zeige, dass Hamas-Chef Yahya Sinwar keinen „humanitären Deal“ wolle. Vielmehr erwarte er sich Vorteile aus den aktuellen Spannungen mit dem Iran und setze auf eine weitere Eskalation. Kaum erstaunen wird auch die Unbeirrtheit der Regierung: Israel werde weiterhin seine Kriegsziele gegen die Hamas verfolgen und „nichts unversucht lassen, um die 133 Geiseln aus dem Gazastreifen unverzüglich zurückzubringen“, so das vom Büro geteilte Mossad-Statement.

Zahl der lebenden Geiseln bleibt unbekannt

Die Frage ist aber: Wie viele der noch vermissten Geiseln leben überhaupt noch? Die Vermutung liegt nahe: Die meisten von ihnen leben nicht. Von einer so lautenden Einschätzung von US-Offiziellen berichtet nun auch das Wall Street Journal. Und so teilte es die Jerusalem Post den Israelis mit.

Ungeachtet dessen hat die Hamas einen eigenen ausführlichen Vorschlag für den Austausch von Geiseln und Gefangenen gemacht, den man nun taktisch-strategisch einschätzen kann. Danach soll Israel einen Waffenstillstand von sechs Wochen einhalten, bevor eine unbestimmte Zahl seiner Staatsbürger befreit bzw. ihre Leichen ausgeliefert werden. In dieser Zeit sollen sich die israelischen Truppen aus den städtischen Zonen des Gazastreifens zurückziehen und die evakuierten Einwohner wieder in den Norden des Gebiets zurückkehren. Parallel will die Hamas angeblich nach den Geiseln suchen und herausfinden, in welchem Zustand sie sind.

Vermutet wird, dass überlebende Geiseln sich irgendwo in oder bei Rafah in unmittelbarer Nähe der Hamas-Gaza-Führung befinden müssen. Man müsste also nicht langwierig nach ihnen suchen. Verräterisch war außerdem die Garantie, die die Hamas zu geben bereit war: 40 Geiseln würden an Israel ausgeliefert – tot oder lebendig. In einer zweiten Phase sollen sich die israelischen Verteidigungskräfte dann insgesamt aus dem Gazastreifen zurückziehen. Erst danach soll der Austausch beginnen. Die Hamas modifiziert so den Vorschlag der USA, den sie unmittelbar zuvor abgelehnt hatte. Die Absicht ist offenkundig: Ein möglichst vollständiger Truppenabzug der Israelis, bevor die angebliche Befreiung der verbleibenden Geiseln beginnt.

Times of Israel spricht von 129 Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden könnten. 112 Geiseln wurden bis zum Februar dieses Jahres befreit. Danach brach der Austausch merkwürdigerweise ab. Die meisten wurden gegen Strafgefangene aus Israel ausgetauscht. 36 der ursprünglichen Geiseln gelten heute als tot. Ihre Leichname sollen in der letzten Phase des Austauschs ausgeliefert werden, wenn die israelischen Kräfte sicher aus dem Gazastreifen abgezogen wurden und der Wiederaufbau des Landstrichs beginnt. Es bleiben also knapp 100 vielleicht lebende Geiseln.

Die Hamas fordert 30 Häftlinge für eine Geisel

Israel hatte schon Anfang März einen Vorschlag der Vermittlergruppe „mehr oder weniger“ akzeptiert, wie damals zu lesen war. Die Hamas-Anführer teilten damals mit: „Wir sind noch nicht am Ziel.“ In der Diskussion war schon damals ein sechswöchiger Waffenstillstand mit Austausch von Geiseln, Kriegs- und Strafgefangenen. Der alte Vorschlag ähnelt den neueren. Uneinig scheint man bis heute bei den Zahlen, kaum in der Substanz. Den Hamas-Anführern war – kurz vor Beginn des Ramadans – zu wenig, was Israel anbot, vor allem beim Thema Austausch von Geiseln und Gefangenen. Der Anführer der Hamas im Gazastreifen Yahya Sinwar wollte weiterkämpfen.

Nun scheint eine merkwürdige Ökonomie zu greifen: Je weniger Geiseln sich in den Händen der Hamas befinden, desto höher steigt der „Preis“, den Israel für ihre Befreiung zahlen muss – womit dann letztlich wiederum der militärische Arm der Hamas gestärkt werden dürfte, wenn mehr Terrorkämpfer freigesetzt werden.

Für eine israelische Geisel sollen laut dem neuen Vorschlag 30 Gefangene freigelassen werden. Im November hatte man sich noch mit einem Verhältnis von 1:3 zufriedengegeben. Zudem soll jeder gefangene israelische Soldat sogar den Wert von 50 Palästinensern haben und für so viele Gefangene ausgetauscht werden. Unter den Strafgefangenen, die die Hamas so befreien will, sind 30, die eine lebenslängliche Haftstrafe absitzen. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat den neuen Vorschlag laut den Times of Israel als „wahnhaft“ bezeichnet. Immer klarer wird, worum es den Hamas-Führern allein gehen dürfte: die eigene Kampf- und Terrorfähigkeit so rasch wie möglich wiederherzustellen.

Die angeblich 30.000 zivilen Opfer im Gazastreifen, die vermutlich viel weniger sind, stören da nicht. Auch nicht ihre weitere und unvermeidliche Vermehrung, wenn die Kämpfe um Hamas-Unterschlupfe und mögliche Geiselverstecke weitergehen. Man könnte pointiert sagen: So liefert die Hamas selbst ihre Wähler und Unterstützer dem Krieg aus, um ein paar mehr „Kämpfer“ aus der Haft in Israel freizupressen. Die Israelis aber wären sehr dumm, wenn sie auf das fadenscheinige Angebot eingingen, eine Geisel für 30 oder mehr Gefangene zu erhalten. Zumal wenn es sich vielleicht nur um die sterblichen Überreste der einstigen Bürger handelt.

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