Tichys Einblick
Interview mit Bürgerrechtlerin Bonnie Leung

Hongkong: „Wir werden niemals einen Polizeistaat akzeptieren“

Sebastian Gehr sprach mit Bonnie Leung: Sie war „Vice-Covenor“ der „Civil Human Rights Front“, derjenigen Protestbewegung, die hinter der Kampagne gegen das Auslieferungsgesetz steht.

Bonnie Leung

ANTHONY WALLACE/AFP via Getty Images

Bonnie Leung, Bürgerrechtlerin aus Hongkong, über den großen Rückhalt in ihrer eigenen Bevölkerung, mögliche Zukunftsszenarien, die entscheidende Bedeutung internationaler Unterstützung und was man in Hong Kong (Hongkong) von Gesetzen gegen „Hate Speech“ hielte …

Frau Leung, Ihre Organisation “Civil Human Rights Front” war die Dachorganisation jener riesigen Demonstration im August, an der 1,7 Millionen Menschen friedlich in Hongkong demonstrierten. Seitdem wurden viele Demonstrationen für illegal erklärt, weshalb Sie seit September keine Demonstration mehr organisiert haben, um nicht die Sicherheit der Teilnehmer zu gefährden. Inzwischen gibt es Tote und Hongkong befindet sich in einer Rezession. Wie konnte das passieren und weshalb eskaliert die Gewalt weiterhin?

Bonnie Leung: Der Protest begann am 9. Juni, als über eine Million Menschen gegen das Auslieferungsgesetzt auf die Straße gingen. Kurz darauf verkündete die Regierung, sie werde am Zeitplan des Gesetzgebungsprozesses festhalten. Drei Tage später war es mutigen radikalen Demonstranten zu verdanken, die anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzes in das Regierungsgebäude eindrangen, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern. Jenen Demonstranten drohen nun zehn Jahre Haft. Schritt für Schritt eskalierte die Situation, nachdem die Polizei keine weiteren Demonstrationen mehr gestattete und die wenigen weiter genehmigten Versammlungen gerne mal früher als geplant beendete. Als Antwort auf die Gewalt von Polizei sowie von bewaffneten Mobs folgten weitere Eskalationen der Demonstranten. Es ist rein menschlicher Natur, dass mehr und mehr Menschen die Geduld verloren und auf radikalere Art versuchten Druck auf die Regierung aufzubauen.

Jeder möchte in Hongkong wieder Frieden haben – selbst radikale Protestler. Die Frage ist nur: wie? Wenn wir jetzt aufhören, bleibt Hongkong für immer ein Polizeistaat. Polizisten müssten juristisch nicht für ihre Gesetzesverstöße geradestehen. Die Regierung muss uns jetzt ein Friedensangebot unterbreiten, welches die Gewaltenteilung garantiert. Die Bevölkerung Hongkongs darf nie wieder alles aufs Spiel setzen müssen, um ein böses Gesetz („evil law“) zu verhindern. Andernfalls besteht keine Hoffnung, die politische Bewegung wieder in friedliche Bahnen zu lenken.

Ihr Nachfolger und neuer Verbandssprecher Jimmy Sham wurde am 16. Oktober vor eurem Gebäude auf offener Straße von vier maskierten Angreifern niedergeschlagen. Konnte die Polizei eigentlich zwischenzeitlich die Angreifer ausfindig machen?

Nein, wir haben bislang keinerlei Informationen erhalten. Anscheinend waren dies bezahlte Schlägertruppen.

Wie viele Demonstranten sitzen zwischenzeitlich in Hongkong in Gefängnissen?

Wir wissen, dass über 4.000 bis jetzt verhaftet wurden, von denen einige jedoch auf Kaution vorerst auf freiem Fuß sind. Diejenigen, die als Aufrührer angeklagt sind, erwarten Haftstrafen bis zu zehn Jahren. Allerdings wurden viele offenbar willkürlich verhaftet. Manchmal nur wegen der Sprüche, die sie skandiert haben. Laut Amnesty International waren einige im Polizeigewahrsam Folter ausgesetzt.

Wie ist die Stimmung in Hongkong? Wir hören, dass die Gesellschaft tief gespalten ist. Welche Lösungen werden in der Bevölkerung bevorzugt? Wie bewertet die Bevölkerung die Verstrickung ausländischer Staaten?

Die Polizei ist zum Hauptfeind für unser Volk geworden. Leider müssen die Polizisten, die das Gesetzt verletzt haben, mit keinen rechtlichen Konsequenzen rechnen. Wir zählen auf die internationale Gemeinschaft, sich für uns auszusprechen. Wir hoffen, dass in den USA der „Hong Kong Human Rights and Democracy Act“ vom Kongress beschlossen und vom Präsidenten unterschrieben wird. (Anm. d. Red: Das Gespräch fand kurz vor der Abstimmung im Kongress statt. Inzwischen ist das Gesetz verabschiedet.) Wir hoffen, dass Großbritannien erklären wird, dass China die „Sino-Britain Joint Declaration“ von 1984 gebrochen hat. Wir hoffen, dass sich die Welt für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einsetzen wird und ggf. China mit Sanktionen entgegentreten wird.

Ich möchte nicht zynisch klingen. Aber scheint es nicht das Ziel auf beiden Seiten zu sein, China in den Konflikt zu involvieren? Die Regierung mag sich dabei wünschen, die Uhren einfach zurückdrehen zu dürfen und für „Ordnung zu sorgen“. Die Demonstranten versprechen sich davon eine Einmischung aus dem Ausland, um die „Autonomie Hong Kongs zu garantieren“.

Laut unserem Gesetzt ist Hongkong ein Teil von China, jedoch mit größtmöglicher Autonomie im Rahmen von „ein Land, zwei Systeme“. Demonstranten kämpfen vielmehr darum, die Polizei für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. China hat ein internationales Abkommen gebrochen, da besagter rechtsverbindlicher Vertrag mit Großbritannien von 1984 bei der UN registriert ist (Anm. d. Red.: China erachtet diesen Vertrag nach der Rückkehr Hong Kongs zu China seit 1997 als rein „historisches Dokument“.). Wenn internationale Gesetze verletzt werden, sollten das andere Länder klar zum Ausdruck bringen.

China fährt außerdem eine Verleumdungskampagne gegen uns. Wir würden “größtmögliche Autonomie” sagen, aber “Unabhängigkeit” meinen. Deshalb wurde Jason Wong aus den Wahlen ausgeschlossen. Dabei steht der Begriff “größtmögliche Autonomie” in der Erklärung von 1984. Demnach hat die Regierung in Hongkong die Kontrolle über alle internen Angelegenheiten mit der Ausnahme von nationaler Sicherheit und diplomatischen Beziehungen. Viele Kommentatoren aus Beijing möchten jedoch den Menschen glauben machen, es ginge der Bewegung in Hongkong um Unabhängigkeit.

Erhöht die steigende Eskalation von Gewalt nicht das mögliche offizielle Eingreifen Chinas?

Jetzt, da die Hong Konger Polizei mit scharfer Munition im Einsatz ist und die Drecksarbeit für China erledigt, halte ich es für unwahrscheinlich, dass China Truppen senden wird. Ob man von einem Soldaten oder einem Polizisten erschossen wird, macht letztlich keinen Unterschied.

Können Sie uns bitte einen Einblick in das Engagement der Zivilgesellschaft geben? Am Beispiel Cathay Pacific haben wir mitbekommen, wie unter Kündigungsandrohungen verhindert werden sollte, dass Mitarbeiter an Demonstrationen teilnehmen.

In den Anfangstagen unserer Bewegung haben viele Mitarbeiter von Cathay Pacific an unseren friedlichen Demonstrationen teilgenommen. Ich glaube, dass sich die Regierung vor der einflussreichen Gewerkschaft von Cathay Pacific gefürchtet hat. Schließlich musste der Vorstandsvorsitzende gehen und den Mitarbeitern wurde jegliche Beteiligung an den friedlichen Protesten untersagt. Diejenigen Piloten, die in diesem Zuge entlassen wurden, stehen angeblich nun auf einer „No fly Liste” Chinas und dürfen nicht mehr über chinesisches Gebiet fliegen, was quasi einem Berufsverbot gleichkommt. Die chinesische Regierung zeigt keine Gnade. Ich erwähne nur die Stichworte NBA, South Park, Hollywood, australische Universitäten oder Konfuziusinstitute. Was in Hongkong derzeit passiert, ist nur eine Visualisierung des möglichen Ausmaßes dieses Problems.

Wie können regierungskritische Demonstrationen jemals in einem System Erfolg haben, in dem die Oppositionsparteien de facto niemals eine Parlamentsmehrheit Erlangen können wie in Hongkong? Welche anderen Strategien gibt es, erfolgreich Einfluss auf die Politik zu üben?

Wir haben in der Tat ein hoffnungsloses undemokratisches politisches System. Genau deshalb haben wir keine andere Wahl, als unsere politische Bewegung fortzusetzen und den Druck durch weitere tagtägliche Demonstrationen zu erhöhen. Ich befürchte, dass wir ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verlieren werden.

Ihre Bewegung begann einst aufgrund der Einführung jenes “Auslieferungsgesetzes”, aufgrund dessen verurteilte Straftäter nach China ausgeliefert hätten werden dürfen. Inzwischen geht es vielmehr um die Zukunft der “ein Land, zwei Systeme”-Doktrin. Ist 2047 näher als wir vielleicht denken?

China ist nicht bekannt dafür, die eigene Verfassung zu respektieren, weshalb diese Doktrin unmittelbar bedroht ist. Wir müssen alles tun, um unser eigenes System zu bewahren und nicht einfach irgendeine Stadt innerhalb Chinas zu werden. Wir möchten vielmehr der letzte Fleck in China sein, der mit einer funktionierenden Gewaltenteilung regiert wird.

Wäre eine Verlängerung der 2047er Frist zum jetzigen Zeitpunkt ein Kompromiss, die Gemüter in Hongkong zu besänftigen?

Die Frist über 2047 zu verlängern würde ein Amendment zum bestehenden Gesetz bedeuten. Dies würde sicher auf eine Weise geschehen, die China zusätzlichen Einfluss über Hongkong erlauben würde. Doch selbst wenn eine Fristverlängerung gelingen sollte, glaube ich nicht, dass China sich an jene Frist halten oder gar aufhören würde, sich in unsere internen Angelegenheiten einzumischen.

Wenn das “Hong Konger System” sich als erfolgreicher als das “China System” herausstellen sollte, könnte dies langfristig eine Bedrohung des chinesischen Systems und des Machterhalts für Beijing darstellen. Wie würden Sie die Kommunistische Partei vom Gegenteil überzeugen wollen?

Ein tyrannisches System wird niemals von sich aus nach Demokratie verlangen wollen. Das ginge nur vom chinesischen Volk aus.

Was wäre Ihre bevorzugte Lösung für Hongkong?

Dass unsere fünf Forderungen erfüllt werden, von denen bislang nur eine (Abschaffung des Auslieferungsgesetzes) erfüllt wurde. Die dringendste dieser Forderungen wäre eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Wir können es einfach nicht akzeptieren, in einem Polizeistaat zu leben, weshalb wir unser System reparieren müssen, dass so etwas nie wieder passieren kann. Alle inhaftierten Demonstranten sollten Amnestie erhalten. Wir werden keine Kompromisse eingehen, sondern für Gerechtigkeit kämpfen.

In Europa gab es in letzter Zeit ebenso gegen die Regierung gerichtete Proteste. Macron hat angeblich niemals den Ausdruck “Gilets Jaunes” benutzt, um den Demonstranten so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu geben. Kommt Ihnen so etwas bekannt vor?

Die kommunistische Partei hat uns als gewalttätige Aufständige verunglimpft, die nach der Unabhängigkeit Hong Kongs streben würden. Diese Gehirnwäsche hat leider innerhalb Chinas aufgrund der Internetzensur und des Verbots der Meinungsfreiheit funktionieren können.

Was halten Sie von den Gesetzen gegen Hassrede im Internet, die zunächst Deutschland eingeführt hat und nun eifrige Nachahmer in Weißrussland, Russland und Singapur gefunden hat?

Ich glaube nicht, dass ein Gesetz zur Einschränkung von Redefreiheit gut für die Menschen wäre. In Hongkong wäre es nur ein weiterer Weg für die Regierung, Gesetze gegen Menschen zu erlassen, die sie ablehnen. Die pan-demokratische Partei und die Demonstranten würden darunter leiden.

Wie bewerten Sie Begriffe wie “gewalttätig”, “chaotisch” oder “unsere Wirtschaft braucht Stabilität” in Verbindung mit der Berichterstattung über Ihre Bewegung und die Demonstrationen?

Das sind Ausdrücke, die von den Regierungen in Beijing und Hongkong verwendet werden, um die jetzige Situation uns in die Schuhe zu schieben. Doch die Bevölkerung Hong Kongs kennt sehr wohl die Hintergründe der vielen Zusammenstöße und weiß über die brutalen und willkürlichen Angriffe der Polizei Bescheid. Kurzfristig mag die Situation chaotisch erscheinen. Langfristig wird es ein besseres System für alle sein. Ebenso für die Wirtschaft, indem dadurch bspw. das Recht auf Eigentum garantiert würde.

Ist es nicht unvermeidlich, dass die Medien über kurz oder lang das Interesse an den Demonstrationen verlieren werden, was der Regierung in die Hände spielen dürfte? Verlangt dieses Muster nicht nach kritischen, mutigen Journalisten oder Medien, die an einer wahrhaftigen politischen Debatte interessiert sind?

Es gibt jede Menge hervorragende Journalisten in Hongkong, die die Wahrheit berichten. Was mich eher beunruhigt ist der Einfluss Beijing zugeneigter Investoren in unseren größeren Medienhäusern. Hier besteht durchaus die schleichende Gefahr von Propaganda. Zumal, wenn China sich weiter medialen Einfluss zukaufen würde. Ein weiteres Problem ist die Dauer unserer Bewegung – nun schon über fünf Monate. Journalisten dürfen nicht den Überblick über diesen Prozess verlieren, um nicht der Propagandamaschinerie Chinas anheim zu fallen, indem sie sich nur auf gewalttätiges Verhalten konzentrieren und die Gründe hierbei zu übersehen. Vor allem Fernsehjournalisten müssen sich dieser Falle bewusst sein.

Immer mehr Europäer sympathisieren mit dem Schweizer Modell der direkten Demokratie, bei dem die Bürger mehr Macht dank zahlreicher Referenden erhalten. Westliche Politiker außerhalb der Schweiz argumentieren gerne, ein solches System würde nur in einem kleinen Land wie der Schweiz funktionieren können. Ist Hongkong Ihrer Meinung nach klein genug?

Ich bin in dieser Frage kein Experte, aber in Hongkong wäre ich im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen auf jeden Fall für die Möglichkeit eines Referendums. Die Mehrheit der Bevölkerung hat zwar für pan-demokratische Parteien gestimmt, die in unserem System dennoch in der Minderheit bleiben. Sicher würde es bei einem Referendum eine Mehrheit für eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt oder die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts geben. China würde das jedoch niemals zulassen. (sie lacht) Im Jahr 2010 gab es bei uns einen Versuch ein echtes Referendum zu erzwingen, als alle fünf „legislatives councelors“ der fünf Bezirke gleichzeitig ihren Rücktritt einreichten. Doch das Referendum zur Neubesetzung geriet zur Farce mit geringer Wahlbeteiligung, weil Peking es den Kandidaten des pan-demokratischen Lagers untersagte, eigene Kandidaten aufzustellen.

Frau Leung, Wir danken für das Gespräch.


Hintergrund: Bonnie Leung war bis September „Vice-Covenor“ der „Civil Human Rights Front“, derjenigen Protestbewegung, die hinter der Kampagne gegen das Auslieferungsgesetz steht. An ihren Demonstrationen nahmen mehrmals über eine Million Menschen teil. Sie ist gewählte „District Councillor“ für die pro-demokratische Partei „Civic Party“.


Sebastian Gehr berät und begleitet Medienunternehmen und -dienstleister bei internationalen Expansionsprojekten. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und war Produktmanager des englischsprachigen „Handelsblatt Global“ Magazins.

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