Tichys Einblick
Drohung Erdogans

Migrantenansturm befürchtet: Griechenland versetzt Grenztruppen in erhöhte Bereitschaft

Die Außengrenzen-Krise hat nun auch Folgen für weitere Länder der EU. Nach neuen Drohungen Erdogans mit illegalen Migranten hat Griechenland seinen Grenzschutz in Alarmbereitschaft versetzt. Erdogans Türkei verfolgt vermutlich strategische Ziele.

Griechische Soldaten patrouillieren im Gebiet des Evros, März 2020

IMAGO / ZUMA Wire

Die aus Minsk orchestrierte Außengrenzenkrise betrifft schon längst nicht nur die engere Region zwischen Mittel- und Osteuropa, Deutschland und Weißrussland. Sie hat auch Auswirkungen auf alle Außengrenzen der Europäischen Union. Das zeigt sich nun sehr konkret im Südosten Europas, wo ein ähnlicher hybrider Grenzkonflikt schon vor gut anderthalb Jahren ausbrach und seitdem unter der Oberfläche weiter schwelt.

Die beiden Krisen – die am Evros im März 2020 und die heutige an der polnisch-weißrussischen Grenze – sind zudem durch einen wichtigen Spieler miteinander verbunden. Wie Recherchen der Bild zeigten – im Grunde reichte dafür ein Blick auf die internationalen Flugpläne –, erreichten allein 30 Flüge pro Woche Weißrussland über die türkischen Flughafen Istanbul und Antalya. Und auch wenn die türkische Führung bestreitet, mit diesen Flügen zur Migrationskrise in Weißrussland beigetragen zu haben, liegt genau das natürlich auf der Hand. Schnell kamen nun auch die Zugeständnisse der türkischen Luftfahrtbehörde auf Bitten von EU-Vertretern zustande, diesem Flugverkehr verschiedene Riegel vorzuschieben.

Allerdings sendete Erdogan im selben Moment ein ganz anderes Signal an die EU und speziell an das benachbarte Griechenland. Es war ausgerechnet eine Pressekonferenz zusammen mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán, in der Erdogan offen damit drohte, erneut die Grenzen zu Griechenland für illegale Migranten zu öffnen. Wörtlich sagte der türkische Präsident: »Wenn wir unsere Grenzen öffnen, weiß ich nicht, was in Griechenland passieren wird, was Griechenland tun wird.« Griechenland sei im übrigen ein Land, das Flüchtlingsboote im Mittelmeer versenke und so Menschen zu Tode kommen lasse, behauptete der Machthaber von Ankara.

Erdogan zeigt sich gereizt durch US-Militärpräsenz

Allen seriösen Nachrichten zufolge tun die griechischen Küstenschützer das Gegenteil des von Erdogan behaupteten. Immer wieder in den letzten Wochen und Monaten haben griechischen Küstenschützer von Booten berichtet, die trotz eines gemeinsamen Schutzmandats, das auch die Türken für ihre Küsten erfüllen sollten, teils griechische Gewässer erreichten und in der Folge von griechischen Einheiten gerettet werden mussten. Zuletzt hatte man ein größeres Boot in der Nähe Kretas aufgelesen und zu einer der Ägäis-Inseln geschleppt. Das Boot war vermutlich auf dem Weg nach Italien.

Erdogan verriet daneben merkliche Gereiztheit wegen des Ausbaus der amerikanischen Truppenpräsenz in Griechenland, wobei er die neue Basis in Alexandroupolis (unweit der Evros-Grenze) nur als eine kleine Provinz in einem viel größeren Bild bezeichnete. Was sich an diesem Engagement der Amerikaner zeigt, das auch die Basis auf Kreta und weitere in Nordgriechenland betrifft, ist die fortgesetzte Erosion der Vertrauensbasis zwischen den USA und der heutigen Türkei. Auch der Streit über das Agieren in Nordsyrien dürfte dazu beigetragen haben.

Die griechische Regierung stellte klar, was keiner anders erwarten konnte: Natürlich würde Griechenland seine Grenzen im Falle einer solchen hybriden Attacke aus der Türkei »mit Entschiedenheit« verteidigen. Einen Tag nach der Entgleisung Erdogans versetzte der griechische Generalstab die Streitkräfte des Landes in erhöhte Bereitschaft. Umgehend wurden verschiedene Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um die Land- und Seegrenzen des Landes zu schützen. Erhöhte Migrantenflüsse in einer bestimmten Region sollen sofort den Streitkräften übermittelt werden. Zudem wird sich der Generalstab in der nahen Zukunft eng mit Küstenwache und Grenzpolizei abstimmen.

Jerusalemer Studie: Türkei destabilisiert das östliche Mittelmeer

Unterdessen besagt eine Studie des „Jerusalem Institute for Strategy and Security“ in Israel, dass der türkische Irredentismus – das Streben des Landes nach alter osmanischer Größe – heute den gesamten Nahen Osten und das östliche Mittelmeer gefährdet. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass die Türkei heute kein »vertrauenswürdiges Mitglied der NATO« sei. Den Ausschluss des Landes aus dem Verteidigungsbund fordern die Autoren dennoch nicht, wohl aber eine »strengere Haltung« ihm gegenüber. Auch eine nukleare Zusammenarbeit mit dem Iran wird in den Raum gestellt. Eine Allianz Israels mit Ägypten, Griechenland, Frankreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Zypern soll ein Gegengewicht bilden.

2016 hatte Erdogan erstmals in einer Rede den Vertrag von Sèvres von 1920 als große Niederlage beschrieben, seitdem leide er an einem »Sèvres-Syndrom«. In dem Friedensvertrag der Türkei mit den Westmächten und Griechenland, der später durch andere ersetzt wurde, hatte die Türkei große Teile Kleinasiens verloren. Tatsächlich tut Erdogan aber im Verhältnis zu Griechenland mehr: Er plädiert offen für eine Revision des gültigen Vertrags von Lausanne von 1922, der unter anderem die Grenzziehung in der Ägäis festlegt. Hauptkritikpunkt der Israelis an Erdogan bleibt natürlich: das freundschaftliche Verhältnis seiner Regierung zu Hamas und Muslimbruderschaft.

Man muss vielleicht damit beginnen, die Migrationskrisen an den Außengrenzen der EU in solchen Zusammenhängen zu sehen, um das ganze Ausmaß des möglichen Schadens zu ermessen. Kurz gesagt: Widersteht man Erdogan in der Migrationsfrage nicht, dann gibt man ihm ein probates Mittel in die Hand, um seine Gegner in der Region und darüber hinaus mit diesem Instrument zu martern und zu beschäftigen, bevor man überhaupt von den finanziellen und kulturellen Belastungen spricht, die aus unordentlichen Grenzen am Ende resultieren.

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