Tichys Einblick
Ruhe vor dem Sturm

Griechenland rüstet sich für steigenden Migrationsdruck

Die griechische Regierung versucht auch während der Pandemie, die Migrantenlager auf den Ägäis-Inseln zu entlasten. Auf dem Festland regt sich Widerstand dagegen. Auch im Lager Moria ist die Lage angespannt.

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An der griechisch-türkischen Grenze war der vergangene Monat eine Zeit der Entspannung. Der griechische Asyl- und Migrationsminister Notis Mitarakis konnte eine rundum positive Bilanz ziehen. Allerdings ging die deutliche Verminderung des Migrationsdrucks wohl vor allem auf das Konto der Pandemie und der starken Sicherheitsvorkehrungen gegen sie zurück. Im April gab es demnach nur 76 illegale Grenzübertritte auf Inseln und Festland. Das entspricht einem Rückgang von etwa 97% gegenüber April 2019. Noch im Januar dieses Jahres hatte man 3.700 Migranten auf Inseln und Festland aufgegriffen. Im Februar (2.767) und März (2.581) gingen die Zahlen leicht zurück.

Die wilde Immigration setzte sich also auch im Windschatten der Evros-Krise, wenn auch auf niedrigem Niveau, fort. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob der Strategiewechsel des griechischen Küstenschutzes eine Veränderung bewirken kann. Insgesamt verzeichnete Griechenland 9.137 Grenzübertritte in den ersten vier Monaten des Jahres. Frontex kam in seinem Bericht allerdings auf die etwas höhere Zahl von 10.300. Ein Drittel davon seien Afghanen gewesen, gefolgt von Syrern und türkischen Staatsangehörigen.

Die Erwartung der Grenzschutzagentur Frontex, dass es bald zu vermehrten Migrationsströmen kommen könnte, ist natürlich auch für die Inseln von Belang. Seit Wochen werden Migranten aus verschiedenen Lagern an die Westküste der Türkei gefahren und in der Nähe von Smyrna ihrem Schicksal überlassen (TE berichtete). In verschiedenen Lagern direkt gegenüber von Lesbos und Chios warten sie seitdem darauf, dass die örtlichen Schleuser ihre Arbeit wiederaufnehmen bzw. ihnen Boote überlassen werden. Inzwischen sind auch Karten aufgetaucht, auf denen die Einrichtungen von NGOs auf Lesbos verzeichnet sind. Wie eine Perlenschnur sind diese »Refugees welcome«-Hotspots an der der Türkei gegenüberliegenden Küste aufgereiht und warten offenbar nur auf die Neuankömmlinge.

Weniger Ankünfte, gesteigerte »Entlastungsfahrten«

Was im April auch ausblieb, waren natürlich Abschiebungen und freiwillige Ausreisen abgelehnter Asylbewerber: Nur drei freiwillige Rückkehrer gab es (im Februar waren es immerhin 286). In die Türkei konnte wegen der Pandemie gar nicht mehr abgeschoben werden. Dabei will die griechische Verwaltung bei den Asylverfahren gut vorgelegt haben: Statt 4.000 Entscheidungen pro Monat wie zu früheren Zeiten ermöglichte eine neue Asylgesetzgebung angeblich 7.000 Entscheidungen im März oder gar 16.000 im April. Auch das sei ein Beitrag zur Entlastung der Inseln; doch das Land, das derzeit abgelehnte Bewerber aufnimmt, muss man wohl noch erfinden.

Was dann noch bleibt, ist die Verlagerung der Migranten auf das Festland. Inzwischen sind 11.825 Personen von den Inseln auf das Festland verbracht worden. Dort gibt es aber auch nicht genügend Aufnahmelager, so dass auch leerstehende Hotels angemietet werden. Ein solches Hotel beim makedonischen Pella wurde allerdings bereits Opfer einer anonymen Brandstiftung, noch bevor die Migranten dorthin gebracht werden konnten. In den kleinen Provinzstädten ist man sich der Tatsache bewusst, dass die Regierung und verschiedene NGOs Migranten in allen Regionen des Landes verteilt und unterbringt. Viele Menschen sind nicht unbedingt einverstanden.

In den Empfangs- und Identifikationszentren auf den Inseln verbleiben laut Ministerium gut 35.000 Personen. Die Entlastung der Inseln soll nach dem Willen der örtlichen Gemeinschaften zügig weitergehen. Der rebellische Gouverneur Kostas Moutzouris sieht sich in dieser Frage einem stetigen Druck seiner Bürger ausgesetzt und verkündet folglich jede »Entlastungsfahrt« als Erfolg in den sozialen Medien. Es wird aber noch viele solcher Fahrten geben müssen, bis die Inseln wieder aufatmen können. Die vollständige Entlastung, wie sie Moutzouris fordert, ist noch sehr weit weg und ist nicht einmal sehr wahrscheinlich. Die Athener Regierung scheint im Gegenteil die Erkundung von geeigneten Standorten für neue sogenannte »geschlossene Einrichtungen« fortzusetzen.

Mit dem wärmer werdenden Wetter erwarten die griechischen Behörden den Anstieg der Schleusertätigkeit. Dafür will man gerüstet sein. Im Mai sind bisher zwei Migrantenboote auf Lesbos angekommen, mit 51 und 19 Insassen, die unmittelbar für 14 Tage unter Quarantäne gestellt wurden. Zwei der Neuankömmlinge wurden inzwischen positiv getestet. Gouverneur Moutzouris sprach von einer Beobachtungslücke im Nordwesten der Insel, die schleunigst wieder von der Küstenwache zu schließen sei. Die griechische Küstenwache folgt seit dem März einer neuen Strategie unter dem Motto »aggressive Überwachung«. Einige dutzend Bootslandungen hat man so angeblich schon verhindert, einige Boote in die Arme der türkischen Küstenwache getrieben.

Parallele Leben

Unterdessen bleiben die konkreten Zustände auf den Grenzinseln wie auf dem Festland hochproblematisch. Immer wieder kam es in den vergangenen Wochen zu Bränden in den Aufnahmelagern, ohne dass immer zu verfolgen wäre, wer sie ausgelöst hat. Die Rede ist von mafiösen Strukturen und Schutzgelderpressungen unter den Bewohnern selbst. Auf Samos brannte eine ganze Einrichtung für 500 Bewohner ab. Die nun obdachlosen Migranten zelten seitdem auf verschiedenen offenen Plätzen und bevölkern auch den Hauptort der Insel, beispielsweise um ihre monatliche Bewilligung am Bankautomaten abzuheben. Natürlicherweise sind die Samier über die wilden Lager in unmittelbarer Siedlungsnähe besorgt. Gouverneur Moutzouris forderte den sofortigen Abtransport der 500 Asylbewerber, die schon seit fünf Jahren eine Belastung für die Einheimischen darstellten, jetzt aber handle es sich um eine »gesundheitspolitische Bombe«.

In den Wochen zuvor hatte der Fall eines 55-jährigen Bauern auf der Hauptinsel Lesbos für Aufsehen gesorgt, der seinen Besitz mit dem Gewehr gegen Plünderer verteidigte. Der Familienvater hatte von wiederholtem Viehraub berichtet und kam letztlich mit einer Bewährungsstrafe davon. Er musste sich dazu verpflichten, sich von seiner Weide fernzuhalten, und darf das Land vorerst nicht verlassen (das dürfte er verschmerzen). Im Migrantenlager Moria gibt es laut verschiedenen Twitter-Benutzern eine illegale Schlachterei, in der die Bewohner die erbeuteten Tiere schlachten.

Wieder ist auch eine christliche Kapelle in der Nähe des Lagers Moria der Verwüstung zum Opfer gefallen. Griechische Twitterer weisen bei diesen Vorfällen gelegentlich auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1954 hin, nach deren zweitem Artikel Flüchtlinge dem aufnehmenden Land gegenüber in der Pflicht stehen und sich natürlich an die geltenden Gesetze und Bestimmungen halten müssen (Artikel 2, auf S. 156 des Dokuments).

Pakistanische und afghanische Gangs lieferten sich derweil Kämpfe in Athen und der Nähe von Korinth. Bei Korinth starben dabei Bandenmitglieder durch Messerstiche. Ein Verfahren gegen 14 Bandenmitglieder wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Totschlags und Raubs wurde eingeleitet. Ein Bauer aus der Nähe von Theben berichtet vom Messerangriff eines Asylbewerbers.

Umbau eines Olivenhains

Unterdessen geht offenbar auch der ›Umbau‹ des verwilderten Olivenhains bei Moria weiter. Eine niederländische NGO bearbeitet das Land zusammen mit der Migranteninitiative Moria White Helmets unter dem Motto »Digging towards dignity«. Nachdem man die Plantage terrassiert hat, sollen auf dem Grund neue Unterkünfte für Migranten entstehen. Die Rede ist von »unserem neuen Land«, so die Moria White Helmets. Das Lager Moria soll wachsen, egal was die Einheimischen davon halten. Übrigens führt das Moria Corona Awareness Team, eine weitere Migranteninitiative, die Abholzung von Bäumen auf einige Bäckereien im Lager und deren Brennholzbedarf zurück.

Aus dem Dialog der niederländischen NGO »Movement on the Ground« mit anderen Facebook-Nutzern wird deutlich: Der Olivenhain in unmittelbarer Nachbarschaft des Lagers wird seit Jahren in Mitleidenschaft gezogen. Aus ihm ist seit der Errichtung der Aufnahmeeinrichtung kein Gewinn mehr zu ziehen. Die NGO mietet das Land nun von den Besitzern und will offenbar dauerhafte, ja sogar elektrifizierte Einrichtungen darauf errichten, obwohl das griechische Baurecht das nicht unbedingt hergibt.

Auf der Website von »Movement on the Ground« kann man nicht nur eine Spende für das Projekt »Dignified Olive Grove« (deutsch etwa »Würdiger Olivenhain«) hinterlassen, sondern erfährt auch, dass die NGO schon seit 2015 mit Gruppen zusammenarbeitete, die sich für »sichere Überfahrten nach Lesbos« einsetzen.

Heute sieht sie eine ihrer Aufgaben darin, eine »ruhigere Atmosphäre für die Einheimischen auf Lesbos und Samos« herzustellen. Angesichts der bekannten Stimmung unter den Einheimischen sicher keine einfache Aufgabe. Man könnte diese Art von harmoniösem Singsang aber auch als Versuch werten, über die Konflikte auf den Ägäis-Inseln hinwegzureden.

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