Tichys Einblick
Hellas am Wendepunkt

Gelingt in Griechenland der Richtungswechsel?

Die eher rar gesäten liberalen Kommentatoren des modernen Hellas begrüßen die Steuersenkungen ebenso wie die Bereitschaft zu staatlichen Investitionen und das marktwirtschaftliche Klima, das nun im Kabinett herrsche.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Unter dem neuen Premier Kyriakos Mitsotakis ringen freier Markt und Klientelpolitik miteinander. Vom Gelingen eines tiefgreifenden Umbaus der griechischen Wirtschaftsstrukturen hängt der Erfolg des Landes, vielleicht der EU ab.

Christine Lagarde ist zum Glück noch nicht ganz in ihrem neuen Job angekommen. Noch Direktorin des Internationalen Währungsfonds, sprach sie nun in Brüssel vor dem ECON-Ausschuss für Wirtschafts- und Währungsangelegenheiten des EU-Parlaments und stellte allerdings eine mögliche Folge ihrer jüngst erfolgten Berufung zur EZB-Präsidentin deutlich heraus: Der Griechenland abverlangte primäre Haushaltsüberschuss – das heißt ohne Zinslast –, so die seit langem mit der Staatsschuldenkrise befasste Französin, sei bei 3,5 % zu hoch angesetzt. Ein Überschuss von 1,2 bis 2 % würde Griechenland besser beim Wachstum unterstützen. Die konservative Tageszeitung »Kathimerini« titelte sogleich: »Lagarde unterstützt Athen«. Solche Hinweise nimmt natürlich auch der griechische Finanzminister, der sonst unauffällige Christos Staikouras, dankend auf. Sie bedeuten allerdings, dass das Land nach Abzug der Zinsentgelte erneut in die roten Zahlen rutschte.

Das wäre insofern nichts Neues, als auch Portugal und Spanien sich auf diesem Wege – mindestens dem äußeren Anschein nach – zu einer neuen wirtschaftlichen Blüte gemausert haben. Mit einem soliden Wachstum von 2 % kann Spanien in diesem Jahr aufwarten; freilich spiegelt das dortige Haushaltsdefizit diesen Wert im negativen Bereich. Nun hat der griechische Premier seinen iberischen Kollegen gegenüber den Vorzug, dass er eindeutig auf marktwirtschaftliche Lösungen setzen müsste – zumindest, wenn er den politischen Anschauungen seiner einflussreichen Familie und seinen eigenen folgen sollte. Die Familie Mitsotakis, der auch die ehemalige Außenministerin Dora Bakogianni angehört, darf als die dynastische Heimat des Wirtschaftsliberalismus in der griechischen Politik angesehen werden. So gründete Bakogianni (heute wie einst zur konservativen Nea Dimokratia gehörend), nachdem sie im Mai 2010 gegen ihre Partei für das erste Rettungs- und Sparpaket gestimmt hatte, mit Unterstützung Guy Verhofstadts eine kurzlebige liberale Formation, die jedoch nur in ihrer kretischen Heimat einige Achtungserfolge erringen konnte. Auch Kyriakos Mitsotakis hat sich bereits am Abbau einer ebenso allgemein anerkannten wie omnipräsenten Ineffizienz des griechischen Staatswesens beteiligt, als er 2013 Minister für Verwaltungsreform unter Antonis Samaras wurde. Seine damalige kluge Politik, nach der jeder Staatsbedienstete die eigene Notwendigkeit nachweisen musste, andernfalls er versetzt wurde, führte zu einigen Erfolgen, zuletzt aber auch zu öffentlichem Unmut, als die Reinigungskräfte des Finanzministeriums ausgelagert werden sollten.

Eine Ironie der Geschichte wollte es, dass gerade dem verstorbenen Patriarchen und einstigen Premier Konstantinos Mitsotakis (1918–2017) die Annahme geldwerter Vorteile von Firmen wie der ehrwürdigen Siemens AG nachgesagt und lange nachgetragen wurde. (Mitsotakis Senior hat die Vorwürfe zeitlebens zurückgewiesen.) Was darin eigetlich deutlich wird, ist die bleibende Gefahr, die nicht allein der familiäre und parteipolitische Nepotismus in Griechenland darstellt, sondern vielmehr und tiefer noch das klientelistische Denken, das nicht allein die Regierenden seit alters her beherrscht, sondern eine grundierende Mentalitätsschicht der neugriechischen Geschichte bildet. In den kleinlichen Verdächtigungen gegen die Familie des heutigen Premiers zeigte sich immer auch der Neid der Zukurzgekommenen, die sicher ebenso gern von geschenkten Haushaltsgeräten profitiert hätten, wären sie denn in der Lage gewesen, diese zu erlangen. Die schneidende Aussage des sozialistischen Großpolitikers Theodoros Pangalos aus dem Jahr 2010 hätte hier kathartisch wirken müssen, als er zu den aufgezehrten Staatsmilliarden sagte: »Wir haben sie alle zusammen verbraucht.«

Auch der neugewählte Premier Kyriakos Mitsotakis versucht sein Volk nun mit »Überraschungen« bei Laune zu halten, die eigentlich unüblich für einen so frühen Zeitpunkt in der Legislaturperiode sind und seinen Willen (vielleicht die Not) zur baldigen Konjunkturbelebung verdeutlichen. Schon im Juli hatte er eine deutliche Senkung der vielgeschmähten Sondergrundsteuer angekündigt. Im August folgte dann – im Medium eines Tweets – die Ankündigung, dass die seit vier Jahren währenden Kapitalverkehrskontrollen, die einst durch das verunglückte Krisenmanagement der Regierung Tsipras–Varoufakis eingeführt worden waren, definitiv beendet seien. Zudem sollen nun zwei einst von der Troika eingeführte Sondersteuern – eine Abgabe für Selbständige und der griechische Solidaritätszuschlag von bis zu 10 % – medienwirksam abgeschafft werden, um so zugleich die individuelle Wirtschaftstätigkeit zu stimulieren. Sie waren einst zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung eingeführt worden, als ein freilich eher grobkörniges Mittel, die Steuerlast gerechter zu verteilen.

Die eher rar gesäten liberalen Kommentatoren des modernen Hellas begrüßen die Steuersenkungen ebenso wie die Bereitschaft zu staatlichen Investitionen und das marktwirtschaftliche Klima, das nun im Kabinett herrsche, zuletzt auch die Stärkung der öffentlichen Sicherheit, die stellenweise durch politischen wie unpolitischen Anarchismus arg gelitten hat. Doch ist auch ihnen bewusst, dass das klientelistische System in Wirtschaft und Politik des Landes noch keineswegs geschlagen am Boden liegt, vielmehr, wie man im Griechischen sagt, »lebt und regiert«. Das geht bis in die Regierung Mitsotakis hinein, die nicht gänzlich auf Vertreter des Parteiflügels um den ordnungspolitisch wenig zuverlässigen Kostas Karamanlis verzichten mochte. Auch Mitsotakis selbst hat sich bereits einige Sünden erlaubt: So sind ihm die von Tsipras und Syriza als reiner Staatsfunk neugegründeten Radio- und Fernsehsender direkt unterstellt. Auch sonst scheint der Premier eine sehr weitgehende Kontrolle des Staatsapparates anzustreben, wovon man sich im besten Falle einen Zuwachs an Effizienz erhoffen möchte, im schlimmsten die Durchdringung der Ämter und Behörden mit einer neuen Bürokratenklasse befürchten muss.

Nun sind Rom und Athen sicher nicht an einem Tag erbaut worden. Und die fortwährende Alimentierung Griechenlands durch die EU-Partner macht natürlich einiges möglich. Doch hängt eben vom Gelingen eines tiefgreifenden Umbaus der griechischen Wirtschaftsstrukturen der Erfolg dieses Staatswesens und – denkt man an die Worte einer vermächtnisreichen Kanzlerin – auch derjenige EU-Europas ab.

Unterdessen hat ein gewisser Erdoğan mit der Öffnung der türkischen Grenzen für den Fall gedroht, dass sein Land keine weitergehende Unterstützung bei der Unterbringung syrischer Flüchtlinge erhält. Schon jetzt ist das chronisch überbelegte griechische Lager bei dem Dorf Moria auf der ägäischen Insel Lesbos der Schauplatz rhythmisch wiederkehrender Revolten und Ausschreitungen, auf welche die unterfinanzierten Sicherheitskräfte nur mit dem landesüblichen Tränengas und letztlich der Verbringung der Migranten auf den Kontinent reagieren können.

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