Tichys Einblick
Abstimmung im Parlament umgangen

Frankreich: Stürzt Macrons Regierung über die Rente mit 64?

Während die Ampelkoalition sich ihr eigenes Wahlrecht zimmert, versucht es Macron in Frankreich erst einmal mit Am-Parlament-Vorbeiregieren. Ihre Rentenreform brachte die Regierung ohne Abstimmung durchs Parlament. Die Folge sind mehrere Misstrauensanträge, über die das Minderheitskonstrukt auch fallen könnte. Linke und Rechte könnten sich zusammentun.

IMAGO / NurPhoto

Am Donnerstag hat die französische Premierministerin Élisabeth Borne ein Gesetz zur Reform des Rentensystems für gültig erklärt, und das ganz ohne Mehrheit, sogar ohne jede Abstimmung in der Nationalversammlung. Wie kann das geschehen?, wird sich jeder mit der parlamentarischen Demokratie Vertraute fragen. In Frankreich ist es möglich, denn dort gibt es die sogenannte „nukleare Option“, den Artikel 49.3 der Verfassung, mit dem man ein Gesetz auch ohne Abstimmung verabschieden, eigentlich eher „erlassen“ kann.

Ihre Rede konnte Élisabeth Borne dabei nur schreiend halten. Zu störend waren die Chordarbietungen der Marseillaise aus der linken NUPES-Fraktion und das allgemeine Stimmengewirr. Die NUPES-Abgeordneten hielten ausdauernd ihre Transparente hoch, auf denen sie ihre Ablehnung der Rentenreform deutlich machten („64 Jahre – das heißt Nein“). Eigentlich ist so etwas auch in Frankreich nicht erlaubt, aber die Sitzungspräsidentin beließ es bei Ermahnungen. Offenbar wollte man keine Videos erzeugen, in denen den frei gewählten Abgeordneten mit Sicherheitsleuten zu Leibe gerückt wird.

Also rief Borne ihre Rede in den Saal hinaus: Man könne das Risiko nicht eingehen, diesen so schönen Kompromissvorschlag, den der Senat bereits durchgewinkt hatte, scheitern zu lassen. „Weil ich unserem Gesellschaftsmodell anhänge (hier gab es Hohn von der Linken) und weil ich an die parlamentarische Demokratie glaube, (…) deshalb bin ich bereit, meiner Verantwortung gerecht zu werden.“ Borne gab sich überzeugt, dass nun sowieso einer oder mehrere Misstrauensanträge aus den Reihen der Opposition folgen würden, so dass am Ende „die parlamentarische Demokratie das letzte Wort haben wird“. Dennoch hat Borne damit den normalen Parlamentsablauf umgangen und indirekt die Vertrauensfrage gestellt – in der Annahme, dass die konservativen Républicains ihr diesmal noch weiterhelfen werden.

Streiks, Proteste, Brände

Tatsächlich sind die Folgen des Parlaments-Patts weitaus schwerwiegender. Seit Wochen sind mehrere Gewerkschaften im Streik. Allein in Paris warten 10.000 Tonnen Müll darauf, eingesammelt zu werden. Die Total-Raffinerie in der Normandie will am Wochenende wieder den Streikt beginnen. Am Mittag schickte Innenminister Gérald Darmanin verstärkende Polizeieinheiten nach Rennes, wo es am Donnerstagabend zu Ausschreitungen gekommen war. In Paris und anderswo sind auch die Gelbwesten wieder dabei – unter spezieller Aufsicht der Polizei werden einige präventiv festgenommen. An vielen Stellen des Landes, brannte es dabei auf großen Plätzen, manchmal betraf das Puppen mit den Gesichtern Macrons, Bornes und anderer Regierungsmitglieder (so in Dijon). Das wird nun zur Klage des Präfekten führen. Daneben brennt auch der Müll, derart das Praktische mit Symbolischen verbindend.

Im Parlament ging am Freitagnachmittag zunächst ein „überparteilicher“ Antrag der kleinen Fraktion LIOT ein, den 91 Abgeordnete aus den eher linken Oppositionsfraktionen unterstützten, darunter auch die linke NUPES. Die Fraktion LIOT (auf deutsch etwa: Freiheiten, Unabhängige, Übersee und Territorien) besteht aus moderaten Linken wie Rechten und einigen Regionalvertretern aus Korsika und ist damit sozusagen eine neutrale (Mini-)Kraft in der Nationalversammlung. Am Ursprung dieses Antrags steht der liberale LIOT-Abgeordnete Charles de Courson, dessen Wort vielleicht insofern Gewicht hat, als er sich ursprünglich mit Finanzfragen beschäftigt hat. Könnte es sein, dass diese Rentenreform gar nicht in dem Maße finanzpolitisch notwendig und geboten ist, wie von Macron und den Seinen immer behauptet wird? De Courson gilt als geschworener Gegner des Vorhabens.

Kurz darauf gab es den Misstrauensantrag des Rassemblement national (RN), dessen Vertreterin Laure Lavalette sagte, man werde allen Misstrauensanträgen zustimmen, egal, von wem sie gestellt wurden. Misstrauensanträge gegen Macrons Regierung gab es dabei schon viele in diesem Parlament ohne klare Mehrheit. Bisher führten sie aber nicht zu einer Front gegen Macron, weil Linke und Rechte nicht zusammen stimmen wollten. Das könnte sich nun ändern. Marine Le Pen erwartet, dass jene, die der Reform nicht ihre Zustimmung geben wollten, nun konsequenterweise den Misstrauensanträgen zustimmen werden. Allerdings könnte Staatspräsident Macron auch von einem Scheitern Bornes unbeschadet bleiben. Er könnte einfach eine neue Regierungsbildung beauftragen. Le Pen wertet schon das Ziehen des Artikels 49.3 als Niederlage für Macron und fürchtet sich natürlich nicht vor Neuwahlen.

Den Vorschlag der Macron-Minderheit zur Rentenreform findet Le Pen nicht nur ungerecht und „brutal“, sondern auch finanziell nicht durchdacht. Das und die Praktikabilität ihrer eigenen Vorschläge werden andere – die französischen Wähler – bewerten müssen. Aber als Tatsache steht zunächst einmal die Gegnerschaft einer soliden Mehrheit der Franzosen fest, was den Inhalt des neuen Rentengesetzes und das Vorgehen der Regierung in dieser Sache angeht.

Breite Mehrheit gegen Vorhaben und Vorgehen der Regierung

74 Prozent der Franzosen lehnen das Durchwinken der Rentenreform ohne Abstimmung ab, so eine Umfrage, die der Figaro veröffentlicht. Das gilt sogar für die Wähler der konservativen Républicains, die doch der Reform in der Sache oft zustimmen: 56 Prozent von ihnen lehnen die Verabschiedung des Gesetzes ohne Abstimmung im Parlament ab. Nur 26 Prozent der Franzosen finden das Vorgehen mehr oder weniger akzeptabel. Dabei gingen diesem Verfahren der macronistischen Regierungsminderheit im Parlament bereits andere Paragraphen-Tricks voraus, die man an dieser Stelle nicht im Detail erklären muss: die Artikel 47.1 und 44.3. Kurz gesagt, konnten so die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments und des Senats auf ein Minimum beschränkt werden.

Neben diesen prozeduralen, demokratietheoretischen Einwänden haben 67 Prozent der Franzosen auch ganz konkret etwas gegen diese Rentenreform. 62 Prozent gehen davon aus, dass „die Demokratie“ in diesem Fall „nicht respektiert wurde“. Alles läuft also auf eine Krise der repräsentativen Demokratie zu – ein Bild, das vervollständigt wird von den Straßenprotesten von mehr als zwei Millionen Menschen. Wiederum 60 Prozent der Franzosen glauben, dass man den Protest, diese „soziale Bewegung“ auch dann fortsetzen müsse, wenn das Gesetz bereits beschlossen ist. Die Zustimmung zu dieser Forderung stammt ebenso aus den linken Reihen von La France insoumise (LFI) wie aus jenen des Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen.

Am achten Aktionstag der Gewerkschaften gegen das Gesetz sind laut dem Innenministerium 480.000 Menschen in ganz Frankreich auf die Straße gegangen. Laut dem Gewerkschaftsbund CGT waren es 1,7 Millionen. Wie gesagt, brannten dabei häufig französische Straßen und Plätze. Der Figaro verzeichnet penibel die im Regierungsviertel angebrachten Graffiti mit vage revolutionärem Inhalt, etwa: „Der Schatten der Guillotine nähert sich“. Oder auch: „Verzieh dich, verächtlicher Kindskönig.“ Paradox mutet manches Transparent an, etwa wenn ein junger Mann in Rennes das Schild hochhält, dass er wohl schon vor Rentenantritt „eine Tote“ sein werde. Handelt es sich am Ende um einen genderfluiden Protestler? Andernorts demonstrieren Gymnasiasten aus Solidarität mit ihren Lehrern und Eltern.

Le Pen fordert ein Referendum zur Rentenfrage

Marine Le Pen und das RN fordern inzwischen statt der Parlamentsabstimmung ein Referendum über das strittige Rentenprojekt. Einem Referendum müssten ein Fünftel der Abgeordneten und zehn Prozent der Wahlbürger, also knapp fünf Millionen Franzosen, zustimmen. Daneben betont Le Pen in einem Tweet, dass auch Premierministerin Élisabeth Borne darauf verwiesen habe, dass die Ablehnung eines nun abzustimmenden Misstrauensvotums – etwa durch die konservativen Républicains – einer Zustimmung zu Macrons Rentenreform gleichkäme.

Das dürfte charakteristisch für den Punkt sein, an dem sich Land und Parlament gerade befinden: Präsident Macron sah sich bis jetzt außer Stande, eine neue Regierungsmehrheit, etwa mit den Konservativen, zu schmieden, vor allem weil die Républicains sich nicht das Image der globalistischen Macronie anheften wollen. So kommt es über wichtige Sachfragen wie diese Rentenreform zum Eklat. Doch für einen Misstrauensantrag will der Républicains-Chef Éric Ciotti seine Abgeordneten nicht ins Feld ziehen lassen. Es bliebe dann wohl bei der bisherigen Regierung, auch wenn es einzelne Abweichler von der Ciotti-Linie geben könnte.

Man kann die Reform selbst dabei in der Sache richtig finden, zumindest aus deutscher Perspektive und im Vergleich mit dem hiesigen Rentenalter, das seit langem höher liegt. Macrons Regierung will das Rentenalter bis 2030 schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben. Die Auswirkungen in einem anderen Land mit insgesamt anderer Sozialgesetzgebung und Gesellschaftsstruktur sind aber zu beachten. In jedem Fall gilt: In einer Demokratie müssen eben Mehrheiten organisiert werden, und wer das nicht schafft, kann kaum mehr von sich behaupten, das Volk zu vertreten, ob als Präsident oder als Premier.

Marine Le Pen dürfte durch ihre sozial ausgewogene Positionierung nicht nur in dieser Frage über die Arbeiterschaft hinaus auch auf die französische Mittelschicht als Wählerreservoir zugreifen. Marine Le Pen schlägt vor, keinen Franzosen länger als 42 Jahre auf seine Rente warten zu lassen und will bei dem bisherigen Rentenalter als Norm bleiben. Am Montag ab 16 Uhr wird über beide Misstrauensanträge abgestimmt.

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