Tichys Einblick
Macron eingemauert

Macron ohne eigene Mehrheit, die Linken schwächer, Le Pen stärker als gedacht

In Frankreich kamen weder Macron noch das Linksbündnis NUPES in die Nähe einer eigenen Mehrheit. Dafür konnte Marine Le Pens Partei ihre Abgeordnetenzahl mehr als verzehnfachen. Die Suche nach politischen Partnern beginnt eher frostig in einem Land, das nicht an Regierungskoalitionen gewöhnt ist.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michel Spingler

Ist Frankreich nun unregierbar? Die französischen Wähler haben jedenfalls bewiesen, dass sie als Souverän ernstzunehmen sind. Ihre Wahlentscheidung war unabhängig, auch von den Umfragen, die ein rosiges Bild für die linksgrüne NUPES zeichneten und Macron nahe an der absoluten Mehrheit sahen.

Gemäß dem am Montagmorgen verkündeten Ergebnis hat Emmanuel Macron seine Mehrheit im Parlament verloren. Das Parteienbündnis „Ensemble!“, das den gerade neugewählten Präsidenten unterstützt, konnte am Ende 245 Sitze erringen. 289 wären zur Erreichung der absoluten Mehrheit notwendig. Vor fünf Jahren hatte Macron aus dem Stand 350 Mandate erringen können beziehungsweise von seinen Kandidaten gewinnen lassen, darunter auch Hochburgen seiner heutigen Gegner in allen Landesteilen. Diese Vorschusslorbeeren sind nun aufgebraucht.

Das Linksbündnis NUPES, das sich hinter dem radikalen Sozialisten Jean-Luc Mélenchon versammelt hat, ist erwartungsgemäß zur zweiten Kraft geworden. Aber auch Mélenchon hat sein Ziel einer linken Mehrheit deutlich verfehlt und blieb hinter den hochgesteckten Erwartungen der Demoskopie zurück. Bis zu 220 Sitze für die Linksgrünen waren bis zuletzt für möglich gehalten worden. Es wurden am Ende 131 Sitze. Die Linken haben sich allerdings auch damit schon gegenüber der Sitzverteilung von 2017 verdreifacht.

Die eigentliche Überraschung ist das gute Abschneiden des Rassemblement national (RN), der Partei Marine Le Pens, der zuletzt deutlich weniger Sitze vorausgesagt wurden, als sie nun gewinnen konnte. Es ist ein historischer Sieg für das RN, das so viele Sitze im nationalen Parlament wie nie zuvor gewann. Bisher waren die im Jahr 1986 gewonnenen 35 Sitze im damals wie heute gleichgroßen Parlament das Maximum gewesen. Das RN machte nun einen Sprung und konnte sich von acht auf nun 89 Sitze mehr als verzehnfachen. Auch die Zeit als „arme Partei“, die auf Kredite (auch aus Russland) angewiesen war, müsste damit vorbei sein. Durch den gewachsenen Stimmenanteil bei den Parlamentswahlen hat das RN Anspruch auf staatliche Zuschüsse. Die dann doch kleinste Fraktion stellt das Mitte-Rechts-Bündnis (Union de la droite et du centre), deren Hauptbestandteil die konservativen Républicains sind, mit 64 Sitzen.

Damit hat erstmals seit 30 Jahren ein Präsident keine eigene Mehrheit im Parlament. Premierministerin Élisabeth Borne bezeichnete das Macron-Bündnis „Ensemble!“, das aus drei Parteien besteht, trotz der Verluste als „zentrale Kraft in der Nationalversammlung“ und zeigte sich bereit, „eine besondere Verantwortung“ zu übernehmen. Ab dem heutigen Tag will sie versuchen, eine „handlungsfähige Mehrheit“ im Parlament zu finden, die nötig sein wird, um die Gesetzesvorhaben auch des Präsidenten durchzubringen.

Ein erstes, wenn auch allgemeines Vorhaben verkündete Borne, die selbst um Haaresbreite, mit 52 Prozent im Wahlkreis Calvados gewählt wurde, auch schon: Die Kaufkraft der Franzosen soll noch im Laufe des Sommers gestärkt werden. Als Prioritäten nannte Borne daneben die Unabhängigkeit oder Souveränität Frankreichs im Energiesektor und bei der Lebensmittelversorgung. Die angestrebte Mehrheit für den Präsidenten ist gleichwohl alles andere als sicher. Schon hört man einige Stimmen, die sich für eine Parlamentsauflösung und Neuwahlen aussprechen.

Le Pen fordert Vizepräsidentenamt und den Vorsitz im Finanzausschuss

Die Karte des neuen Frankreich ist bunt. Auch unabhängige Links- und Rechts-Kandidaten konnten dank dem Mehrheitswahlrecht Wahlkreise gewinnen. Paris ist rot (NUPES) und gelb (Ensemble) mit zwei dunkelblauen, also konservativen Einsprengseln. Insgesamt haben sich diese drei Wahlbündnisse im Westen durchgesetzt. Le Pens RN konnte im deindustrialisierten Norden und an der Mittelmeerküste zahlreiche ihrer traditionellen Hochburgen befestigen und gewinnen, sich daneben aber auch bis an die südliche Atlantikküste nördlich von Bordeaux durchkämpfen. Die Partei gewann dabei häufig in ländlichen Gegenden, aber etwa auch im direkten Umfeld von Paris (gleich jenseits der Vorstädte). Auffällig ist, wie fast die gesamte Mittelmeerküste, mit der Ausnahme von einem Dutzend Wahlkreisen, an das Rassemblement fiel.

Marine Le Pen sagte, ihre nun mit Fraktionsstatus ausgestattete Parlamentsgruppe werde „alles verlangen, auf das wir ein Recht haben“. Dazu gehöre das Amt eines Vizepräsidenten der Nationalversammlung und der Vorsitz im Finanzausschuss. Le Pen glaubt, dass sich das Linksbündnis NUPES am Ende als „Hochstapelei“ erweisen und nicht als Gesamtfraktion konstituieren wird. Damit wäre die RN-Gruppe die größte Oppositionsfraktion. Daneben kündigte Le Pen an, sich nun ganz der Parlamentsarbeit zu widmen und nicht erneut den Parteivorsitz anzustreben: Sie sei positiv von der Mobilisierung ihrer Wähler überrascht worden. Die Folge sei, dass „die Zuwanderung, die (innere) Unsicherheit und der Kampf gegen den Islamismus“ als Themen nicht aus der Nationalversammlung verschwänden.

Das Präsidentenbündnis gibt sich indes kompromissbereit. Die LREM-Abgeordnete Aurore Bergé. die früher auch für ein Kopftuchverbot im Unterricht eintrat, dann wieder den Impfstatus von Schülern abfragen wollte, sagte: „Kompromisse kann es im politischen Leben geben.“ Man werde aber nicht um sie betteln. Bergé erwartet nun eine „vollkommen neue politische Konfiguration“, freilich unter Führung ihrer Fraktion.

Mélenchon-Genosse klagt: Macron hat zu selten die „republikanische Front“ ausgerufen

Offen ist auch, wer das Linksbündnis NUPES, so es denn einig bleibt, im Parlament anführen wird. Der drittplazierte Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon ist nun nicht mehr im Parlament vertreten, er war gar nicht erst angetreten. Damit ist er so etwas wie der freischwebende Geist über den linksgrünen Wassern. Aufs Altenteil will sich der Siebzigjährige offenbar noch nicht verabschieden, doch sagt er seiner Fraktion zahlreiche „Anführer im Plural“ voraus.

Mit der „Macronie“ zeigen sich die Linken – konkret der Deputierte Adrien Quatennens von „La France insoumise“ – allerdings unzufrieden. Zu selten hätten die Macron-Kandidaten zu einer „republikanischen Front“ aufgerufen, wo ein Duell zwischen NUPES und Rassemblement national ausgefochten wurde. Das war am Sonntag in 62 Wahlkreisen der Fall, doch nur sieben Mal habe das Macron-Lager zur Wahl des NUPES-Kandidaten aufgerufen. Eines muss man den Macronisten also lassen: Auch wenn sie verlieren, wissen sie mit ihren Kräften zu haushalten. Für linksradikale Kandidaten rufen sie keine „republikanische Front“ aus.

Steht die neue Nationalversammlung nun weiter links, wie viele vermuteten? Ist sie etatistischer, wie der Meinungsforscher Jérôme Fourquet (Ifop) im Figaro voraussagte? Das wird auch vom Zusammenspiel zwischen „Ensemble“, NUPES und Le Pens RN-Fraktion abhängen. Rein theoretisch wäre eine Mehrheit gegen diesen Etatismus, der auch Le Pens Partei zum Teil charakterisiert, möglich: Eine Kohabitation mit den Konservativen wäre wohl am ehesten im Sinne Macrons, der die „linke Gefahr“ einstweilen durch Signale in Richtung Windkraftausbau im Zaum halten konnte.

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