Tichys Einblick
Wahlkampf und alltägliche Gewalt

Die Rechte in Frankreich will nach den EU-Wahlen auch sofortige Neuwahlen in Paris erzwingen

In Frankreich hat der EU-Wahlkampf schon begonnen; das konservative Lager marschiert auf der Siegesstraße. Der Spitzenkandidat des rechten „RN“ fordert nach einem Wahlsieg seiner Partei auch Neuwahlen für die Nationalversammlung. Macron reagiert irritiert und senkt Strafen für die endemische Messerkriminalität.

Jordan Bardella, Vorsitzender der RN-Liste (Rassemblement National), bei einem Treffen vor der Europawahl 2024 in Royan, Frankreich, am 13. April 2024

picture alliance / abaca | Leoty/ANDBZ/ABACA

In Frankreich hat der EU-Wahlkampf schon begonnen, der in Deutschland noch ziemlich im Schlafwagen feststeckt. Dabei gäbe es auch hier genügend aktuelle Themen, die sich zu diskutieren lohnen. Aber das passiert in Deutschland weitaus seltener, auch weil man so sehr damit beschäftigt ist, die aussichtsreiche AfD auf die Strafbank zu setzen. In dieser Lage sind die verschiedenen Positionen zu Sachproblemen natürlich nicht mehr von Belang – jedenfalls aus Sicht vieler Medien, zumal der öffentlich-rechtlichen.

In Frankreich ist das anders, weil das nach deutschem Verständnis „rechte“ Rassemblement national (RN) eine inzwischen so gut verankerte Partei ist und sich das auch in der medialen Debatte niederschlägt. Allerdings werden inzwischen auch die Medien, die zur nationalen Rechten tendieren – vor allem der Fernsehsender CNews – von staatlichen Kontrolleuren ins Auge gefasst, was öffentlichen Sendern so noch nicht geschah. Für den Journalisten Robert Ménard, zugleich Bürgermeister von Béziers, ist das „ein echtes Problem für den Pluralismus, ein schlimmer Schlag gegen die Pressefreiheit“. Ménard hat gerade selbst Probleme, weil er es ablehnte, einen ausreisepflichtigen Algerier zu trauen.

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Die Umfragen zur EU-Wahl werden eindeutig vom Rassemblement national (RN) und seinem Spitzenkandidaten Jordan Bardella angeführt. Die französischen Parteien schicken ihre besten Leute nach Brüssel und Straßburg – das kann man von deutschen Parteien und ihren Kandidaten (man denke nur an Barley oder von der Leyen) nicht immer behaupten. Die aktuelle Ifop-Umfrage zeigt den RN bei 31,5 Prozent. Die Liste der Macron-Partei Renaissance folgt mit weitem Abstand bei 17,5 Prozent. Die Sozialisten stehen bei 11,5 Prozent. Es folgen die im EU-Vergleich relativ konservativen Républicains mit acht Prozent, die Grünen mit 7,5 Prozent und die radikale Linke (LFI) mit sieben Prozent.

Das Schlusslicht unter den realistischen Sitzanwärtern bildet Reconquête!, die Neugründung Éric Zemmours. Die Spitzenkandidatin Marion Maréchal bangt um den Einzug ihrer Partei ins EU-Parlament und hat kürzlich Bardella daran erinnert, wer seine eigentlichen Gegner sind. Nachdem die Zemmour-Partei einen halben Prozentpunkt nachgab, steht sie nun bei 5,5 Prozent und damit nahe an der Fünf-Prozent-Hürde. Natürlich ist der Wert an sich schon ein Erfolg für die junge Partei, der ja auch zum Einzug ins Parlament führen würde.

Bardella fordert Neuwahlen und ein Referendum

Kein Wunder sind die Schwierigkeiten der Regierungspartei. Macron will nun zumindest den zweiten Platz verteidigen. Die Regierung hat mit den Staatsfinanzen zu kämpfen, aber vor allem die innere Sicherheit scheint immer weniger gewährleistet. 120 Messerangriffe am Tag machen dem Land zu schaffen. Der Thinktank Institut pour la Justice hat eine Unterschriftenkampagne gegen die Angriffe und Straftaten gestartet. Demnach haben sich die physischen Angriffe in Frankreich seit 1988 versiebenfacht: von ungefähr 40.000 im Jahr 1988 auf mehr als 291.000 im letzten Jahr. In dieser Lage brachte auch der neue Premier Gabriel Attal keine Wende in den Umfragen. Seit seinem Antritt hat sich der Abstand zwischen RN und Renaissance eher noch vergrößert.

Gewinnt Bardella mit dem RN die EU-Wahlen, will er noch am Wahlabend die Auflösung der französischen Nationalversammlung fordern. „Die Europawahlen am 9. Juni sind ein Referendum für oder gegen den Zerfall Frankreichs“, sagte Bardella im Gespräch mit dem Journal du Dimanche. „Wenn wir als erste durchs Ziel gehen, muss die Nationalversammlung aufgelöst werden.“

Zudem müsse dann ein Referendum über die Einwanderung abgehalten werden, fuhr Bardella fort. Der Spitzenkandidat stilisiert die EU-Wahlen zu französischen Mid-Terms – mit Aussagekraft für den Ausgang der nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich, die allerdings erst für 2027 angesetzt sind. Am Dreierpatt zwischen der Linken, der Rechten und dem diffusen Sowohl-als-auch-Lager Macrons wird sich aber auch durch die EU-Wahlen nichts ändern.

Getrennt durch „Fragen der Identität“?

Éric Zemmour und den Kandidaten der Républicains Bellamy rief Bardella dazu auf, sich dem RN anzuschließen. Zumal bei Reconquête bestünde die Möglichkeit, dass die Stimmen verloren gingen: „Derzeit ist nur das Rassemblement national in der Lage, die nationalen Ideen zum Sieg zu führen. Reconquête und der patriotische Rand der Republikaner können das nicht.“ Im Département Seine-et-Marne sagte Bardella am Samstag aber auch: „Unser schlimmster Gegner ist die Wahlenthaltung. Die Franzosen, die am 9. Juni zu Hause bleiben, werden Emmanuel Macron ein Geschenk machen.“ Daneben will er seine Partei vor allem „normalisieren“, weil die Wähler immer denjenigen Kandidaten nicht wählen, der ihnen extrem erscheine.

Allerdings könnte auch das RN noch Verbündete in der Öffentlichkeit brauchen, wenn es in die Verantwortung kommt – vielleicht sogar die Républicains, die sich in vielen Programmpunkten angenähert haben. Daneben wenden manche (nicht zuletzt die Zemmouristen selbst) ein, dass das RN-Programm inzwischen abgeschliffen und nicht mehr im selben Maße eindeutig gegen den politischen Islam gerichtet sei wie früher. Das hob auch Marion Maréchal in einer Fernsehdiskussion hervor: Neben wirtschaftlichen Fragen seien es „Fragen der Identität“, die die beiden Parteien trennen.

Daneben forderte Maréchal ein Ausgangsverbot für alle Unter-15-Jährigen in den 1.362 Problemvierteln des Landes. In Béziers hat der parteilose Ménard ein nächtliches Ausgangsverbot für Unter-13-Jährige verhängt. Auch Bardella spricht über die Krise der inneren Sicherheit in Frankreich. Das Phänomen der Gewalt an Schulen und zwischen Jugendlichen führt er eindeutig auf „eine islamistische Ideologie“ zurück, die er als „fünfte Kolonne“ einer feindlichen Macht charakterisiert. Sein Lösungsvorschlag besteht aus drei Punkten: „abschrecken, bestrafen, zur Verantwortung ziehen“.

Neue Blüte der Internate

Dieses Rezept scheint auch die Macronie neu für sich gefunden zu haben. Premierminister Attal war in einem Internat zu Besuch, jener legendären, auch französischen Einrichtung zur Besserung ungezogener Knaben. Einen Neuling auf dem besuchten Internat befragt Attal, ob er sich in seiner neuen Schule wohlfühlen werde. Der Junge mit leichtem Vorstadt-Akzent verneint, er sehe schon, dass es grässlich sei. Seine Mutter habe ihn zu dieser Schule gezwungen. Über die Gründe ist er sich klar, aber Attal lässt ihn nicht sprechen, sondern glaubt schon zu wissen, dass es hier um ein bisschen zu viel Handy im Unterricht ging. Er wirkt wie ein strenger Vertrauenslehrer, der sich von dem Internat offenbar Wunderdinge für die Integration ganzer Stadtviertel verspricht.

Attal hatte schon in seiner Antrittsrede drei neue Leitsätze der republikanischen Pädagogik verkündet: „ Du zerbrichst, du reparierst; du verschmutzt, du putzt; du widersetzt dich der Autorität, man lehrt dich, sie zu respektieren.“ Diese wiederholt er nun landauf, landab. Und vielleicht wird es ja nützen. Nur helfen dürfte es der Macronie nicht bei den anstehenden Wahlen.

Im Hintergrund stehen die „vermischten Meldungen“

Den Hintergrund für die anstehende Wahlentscheidung bilden neben Nachrichten aus der Wirtschaft die vermischten Meldungen, die in Frankreich nun seit Jahren einen ganz bestimmten Charakter und auch Rang angenommen haben. Man interessiert sich vielleicht auch deshalb mehr für sie, weil man aus eigenem Erleben weiß, dass es sich nicht um absurde Ausnahmen und Einzelfälle handelt, sondern um den ganz alltäglichen Wahnsinn eines Landes, das von einem schlecht integrierten Bevölkerungsteil, hinzukommender Neu-Migration und fest eingewurzelter Bandenkriminalität heimgesucht wird.

Kopftuch, Ehrenmord, Attentate
Gewalt an Frankreichs Schulen: Eine verlorene Generation im Kampf mit sich
Nun wurde in Frankreichs Norden ein 22-Jähriger über eine Dating-Seite in einen Hinterhalt gelockt. Philippe aus Grande-Synthe in der Nähe von Dünkirchen glaubte, eine junge Frau zu treffen. In Wahrheit lief er seinen Häschern ins Messer. Auf einem Supermarkt-Parkplatz lauerten ihm zwei oder drei Minderjährige von 14 bis 15 Jahren auf, die der Justiz zum Teil schon bekannt waren. Ziel der Tat war ein Raub, dem Philippe zum Opfer fallen sollte. Doch die Täter brachten ihn kaltblütig um. Freunde von Philippe sprachen von einem „barbarischen Angriff“.

Daneben starb eine 14-jährige Elsässerin aus Souffelweyersheim an einem Herzstillstand im Umfeld einer Messerattacke. Und in der Mittelstadt Romans-sur-Isère, in eben jener Siedlung La Monnaie, aus der die Täter in der Messerstecherei von Crépol kamen, starb nun der 15-jährige Zakaria durch einen Messerstich, an der Place Hector Berlioz, benannt nach einem Heros der französischen Musik, der hier freilich etwas deplaziert wirkt. Zakaria, der in der Siedlung nur zu Besuch war, wurde anscheinend zum Kollateralopfer einer Rechnungsbegleichung zwischen zwei Gruppen, von denen eine wiederum nicht im Ort lebte. Sein Tod, ebenso wie der des 16-jährigen Thomas Perrotto, illustriert die Gewalt, die sich durch kriminelle Banden und meist Drogengeschäfte aus den Vorstädten allmählich ins gesamte Land ausbreitet. Gewalt und Mord treffen immer häufiger gänzlich Unbeteiligte. Man spricht von einem Gangrän, von einem Krebsgeschwür, das sich immer weiter ausbreitet.

Nur noch Geldstrafe für das Führen eines Messers

Die wegen „europäischer Kleidung“ ins Koma geprügelte, schwer verletzte Samara geht wieder zur Schule, wenn auch per Distanzunterricht. Gegen ihre drei Angreifer wird wegen „versuchten Mordes / Totschlags “ („tentative d’homicide volontaire“) ermittelt.

Das Justizministerium will laut einer Note vom 12. April eine andere Art der Bestrafung für das unerlaubte Führen von Messern ausprobieren, wie der Figaro berichtet. Statt einer vorläufigen Ingewahrsamnahme, die bisher durch den Deliktcharakter verpflichtend war, soll nur noch eine Geldbuße von 500 Euro erhoben werden, die sich sogar auf 400 Euro vermindert, wenn sie sofort bezahlt wird. Das soll die Sicherheitskräfte an dieser Stelle entlasten.

Es ist ein weiteres Signal in eine bekannte Richtung: Die Vielzahl an Straftaten kann anscheinend nicht mehr sinnvoll mit dem bestehenden Polizei- und Strafapparat bearbeitet werden. Wenn das Mitführen eines Messers zum Massenphänomen wird, dann hat der verpflichtende vorläufige Polizeigewahrsam immer weniger Sinn und erzeugt fast nur noch Kosten. Keiner der Eingesperrten wird davon beeindruckt sein, das kann man sich denken. Geldbußen könnten hier also einer besseren Abschreckung dienen. Wie immer wird aber die Praxis der Prüfstein dieser Neuregelung sein.