Tichys Einblick
Israel nimmt tausende Ukrainer auf

Flüchtlingshilfe: Warum Israel nur bestimmte Ukrainer einwandern lässt

Israel nimmt relativ zu seiner Größe viele Flüchtlinge aus der Ukraine auf, auch Putin-Gegner aus Russland. Aus existenziellen Erwägungen allerdings im Wesentlichen solche jüdischer Herkunft.

Die israelische Organisation United Hatzalah ließ 100 ukrainische Juden über Moldawien nach Israel ausfliegen.

IMAGO / Pacific Press Agency

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind rund 27.000 Flüchtlinge und Emigranten aus beiden Ländern in Israel gelandet. Der tägliche Zufluss reißt nicht ab. Damit kann sich der Judenstaat durchaus damit brüsten, gestrandeten Ukrainern und Putin-Gegnern aus Russland zumindest vorübergehend ein Dach über dem Kopf anzubieten. Aber hinter dem Zahlenwerk verbirgt sich ein Problempaket auf mehreren Ebenen.

Israel ist das einzige Land weltweit, das ausschließlich Juden bzw. Juden auch mit nichtjüdischen Ehepartnern – Kinder eingeschlossen – einwandern lässt. Damit ist der Zugang zur begehrten Sozialversicherung verbunden, die Arzt-, Krankenhausbehandlung und Altersversorgung umfasst. Jude ist in diesem Zusammenhang nur derjenige, der nachweislich mindestens ein jüdisches Eltern- oder Großelternteil benennen kann. Israel ist eine aufgeklärte Demokratie, aber das Recht basiert auf den Werten der jüdischen Thora, im Abendland eher als Altes Testament bekannt. Für westliche Ohren ein Widerspruch, tatsächlich aber ergänzen sich beide Seiten wohltuend. Die Freiheit der lautstarken Meinungsäußerung wird beispielsweise geradezu überbordend genutzt.

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Von Menachem Begin, Israels Ministerpräsident von 1977 bis 1982, ist der Satz sinngemäß überliefert: Seit dem Holocaust ist jede Flüchtlingswelle weltweit auch eine israelische Angelegenheit. Damals wollte der einst berühmt-berüchtigte Kämpfer gegen die britische Mandatsmacht vor der Staatsgründung signalisieren: Wir Israeli handeln humaner als der Rest der Welt gegenüber den Juden vor und während des 2. Weltkrieges. Mit der inhaltlichen Ausgestaltung tut sich Israel seit März 2022 allerdings schwer, nicht zuletzt wegen seiner Acht-Parteien-Koalitions-Regierung, die von ganz links bis rechtsnational reicht.

Die überwiegende Mehrheit unterstützt den Grundsatz: Israel ist der einzige jüdische Staat und das sollte er auch bleiben. Wenn Jerusalem diese historische Ausrichtung aufgibt, würde Israel seine mindestens 3000-jährige Identität verlieren. Außerdem muss der junge Staat, der sich seit seiner Gründung ununterbrochen im Kriegszustand befindet, stets streng prüfen, wer ins Land einreist. Die aktuelle Terrorwelle mit inzwischen schon 13 Ermordeten in einer Woche unterstreicht diese Notwendigkeit. Das Schicksal hat das Thema zusätzlich erschwert: Zwei der fünf Ermordeten des letzten Terroranschlags sind Ukrainer.

Es wird aber noch komplexer: Die Wirtschaftslobby des High-Tech-Landes will für ausgebildete Programmierer und ähnliche dringend gesuchte Berufe eine Sonderregelung. Israels Start-ups beschäftigen seit langem 20.000 gut ausgebildete Computer-Fachleute im ukrainischen Back-office. Das machte bis zum Kriegsbeginn zehn Prozent der israelischen Planstellen für Programmierer aus. All jenen wird seit einigen Tagen angeboten, auf der „Grünen Spur“ beschleunigt innerhalb weniger Tage einzureisen. Unabhängig von ihrer Herkunft. Bei allen anderen kann es Wochen dauern.

Hier bricht sich das in Israel praktizierte knallharte Leistungsprinzip Bahn, das für ein bis vor kurzem rohstoffarmes Land die App des Erfolgs ist. Bedeutet aber zwangsläufig, dass Leistungserbringer gegenüber den Verschlafenen im Vorteil sind, sein müssen. Israel ist ein soziales Land, kennt aber keine Hängematte, weder für Alt- oder Neubürger und schon gar nicht für Flüchtlinge. Helfen ist ohnehin eine der schwierigsten Disziplinen. Weil Menschen zu Zigtausenden noch dazu in einer fremden Umgebung zufriedenzustellen, eine Sisyphus-Aufgabe ist.

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Israel hat aber Erfahrung im Helfen: Während des langjährigen Bürgerkriegs im Libanon zwischen 1975 und 1990 öffnete Israel den schwerbewachten Zaun, startete das „Good-Fence“-Programm an seiner Nordgrenze und versorgte Verletzte und Kranke ohne Unterschied auf Herkunft und Religionszugehörigkeit. Nachdem sie wieder weitgehend auf den Beinen waren, wurden sie allerdings in ihr Heimatland zurückgeschickt. Das Gleiche geschah in den Anfangsjahren des 2011 begonnenen Bürgerkriegs in Syrien, das seit 1967 mit Israel die Golanhöhen teilt. Aktuell versorgt ein transportables israelisches Feld-Lazarett in der Nähe der westukrainischen Stadt Lviv Flüchtlinge und Kriegsverletzte. Am Wochenende meldeten die Ärzte die erste erfolgreiche Kaiserschnitt-Geburt.

Auf Kritik stieß unterdessen in Israel die Ankündigung der Innenministerin, eine Vertraute von Ministerpräsident Bennett, Ayelet Shaked, der Judenstaat könne höchstens 5.000 nichtjüdische Ukrainer aufnehmen. Bei 3,7 Millionen Flüchtlingen eine eher überschaubare Menge. Die politische Diskussion dazu könnte sich jedoch erübrigen. Denn Israel steht mit der EU im Wettbewerb, PC-Experten anzulocken. Länder wie Polen, Rumänien und Bulgarien bieten einen dreijährigen Aufenthalt, Arbeitserlaubnis und einen Steuerhöchstsatz von neun Prozent. In Israel sind die Abgaben drei- bis viermal so hoch.

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