Tichys Einblick

Erdogans politisch-nationalistische Doppelstrategie als Machterhalt

Die neue Verhaftungswelle von HDP-Politikern und die militärische Einmischung im Bergkarabach-Konflikt sind Teil von Erdogans Doppelstrategie, um seine Macht zu erhalten.

imago images / Xinhua

Die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan regiert nun seit beinahe 20 Jahren und veränderte das ganze Land. Erdogan verwandelte die Republik Türkei in einen Ein-Mann-Staat auf diktatorischem Niveau und sicherte sich bis heute seine Macht. Doch sein regierungssystemisch aufgebauter Schutz ist bisher keine absolute Machtgarantie – Erdogan ist dies bewusst. Die politische Wende der Gezi-Park-Proteste stellen zugleich den Beginn Erdogans politisch-nationalistischer Doppelstrategie dar. Die neue aktuelle Verhaftungswelle von HDP-Politikern und die militärische Einmischung in den Konflikt von Armenien und Aserbaidschan ist eine neue, aggressivere Auflage dieser.

Neue Verhaftungen als Wahlkampfvorbereitungen

Gegen 82 oppositionelle Politiker der pro-kurdischen HDP wurden Haftbefehle erlassen, von denen über 19 Politiker bisher verhaftet wurden. Als Grund werden die Proteste vom Oktober 2014 im Südosten der Türkei angegeben, als HDP-Vertreter zu Demonstrationen zum Schutz der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane aufriefen, da diese von der Terrormiliz Islamischer Staat bedrängt wurde. Über 40 Menschen kamen bei Zusammenstößen verschiedener Gruppen ums Leben – beteiligt waren prokurdische Demonstranten, die Polizei, IS- und PKK-Anhänger, türkische Nationalisten und die islamistische, sogenannte kurdische Hisbollah. Die damaligen HDP-Vorsitzenden, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, wurden verhaftet. Der Umstand, dass, obwohl dies sechs Jahre zurück liegt, nun auf einen Schlag dutzende Haftbefehle erlassen werden, offenbart: Es geht nicht um die Proteste, sondern um Wahlkampfvorbereitungen, um Erdogans Machterhalt.

In den letzten Jahren sind bereits wichtige Abgeordnete aus der AKP ausgetreten, was jene Partei instabil macht. Die junge Bevölkerung wünscht sich eine andere Türkei als Erdogan. Die Unzufriedenheit über antidemokratische und wirtschaftliche Verhältnisse nimmt stetig zu, Widerstand zeichnet sich auf den türkischen Straßen ab. Die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP sind zwei starke Oppositionsparteien, die sich bereits miteinander solidarisiert haben. Sie beide als eine Kombination stellen eine Bedrohung für den Machterhalt der AKP dar. Die neue Verhaftungswelle stellt nichts anderes als eine frühe Wahlkampfvorbereitung dar. Das Ziel ist nicht nur, die HDP weiter zu demontieren, sondern auch eine ausschlaggebende Kooperation zwischen CHP und HDP gezielt zu verhindern.

Systematische Ausschalten von Opposition

Dies hat gute Gründe. Im Jahr 2019 konnte die CHP durch die Zusammenarbeit mit der HDP einen wichtigen Wahlerfolg verzeichnen, indem in westtürkischen Städten keine eigenen HDP-Kandidaten aufgestellt wurden und stattdessen für CHP-Kandidaten gestimmt werden sollte. Dieser Erfolg offenbarte, dass wenn CHP und HDP zusammenarbeiten, beide für die Regierungspartei AKP gefährlich werden. Besonders die HDP spielt eine entscheidende Rolle im Kräfteverhältnis. Doch die CHP verfügt über eine rigide Einstellung gegenüber den Kurden und der pro-kurdischen HDP. Als eine Beschützerpartei der kemalistischen Staatsideologie ist ein Grundcharakteristikum der CHP der türkische Nationalismus. Da die Kurden-Frage als Gefahr für die national-territoriale Einheit verstanden wird, existiert innerhalb der CHP und bei ihren Wählern Kurdenfeindlichkeit.

Die AKP und Erdogan wissen um diese ideologische Oppositionsschwäche der CHP, weshalb sie gezielt versucht wird, die Oppositionen HDP und CHP gegeneinander auszuspielen. Auch aus diesem Grund wurden die neuen Verhaftungen propagandistisch in einem Zusammenhang mit der PKK und den Kurden gebracht.

Beginn der Doppelstrategie

Dieser Rückgriff auf 2014 ist kein zufällig gewählter Anknüpfungspunkt und verrät umso mehr Erdogans seitdem begonnene Doppelstrategie. Denn zu dieser Zeit stand Erdogan ebenfalls innenpolitisch unter enormem Druck. Trotz der zunehmenden Gleichschaltung der Medien verzeichnete die HDP Erfolg ab. Als die prokurdischen Demonstranten von 2014 unzufrieden mit der Politik bezüglich des IS waren, nutzte Erdogan die Situation der Kurden zugunsten seines drohenden Machtverlustes aus. Nicht die Wahlen 2015, sondern die Proteste 2014 waren bereits der Wendepunkt in der Kurden-Frage. Erdogans Antwort bestand einerseits darin, Gewalt anzuwenden, sodass kurdische Demonstranten und türkische Sicherheitskräfte blutig aneinander stießen. Andererseits hetzte Erdogan seitdem exzessiv gegen die Kurden, kurdische Kämpfer in Syrien sowie die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK und diffamierte kurdischstämmige Menschen und prokurdische Politikern als Terroristen oder Unterstützer.

Auch die 2015 begangenen IS-Anschläge in Ankara auf HDP-Veranstaltungen haben mit dieser Wende zu tun. Denn aufgrund der nun offensichtlichen Zusammenarbeit der Türkei und dem IS verstärkt sich die damalige Vermutung, dass die türkische Regierung im Wissen über die Terroristen und Vorbereitungen diese Anschläge bewusst nicht verhinderte. Diese IS-Attentate dienten Erdogan vielmehr als Instrument, um die Kurden politisch zu demontieren. So propagierte Erdogan, hinter den Anschlägen würde der IS zusammen mit der PKK stehen. Das Ziel war es, seine neue Strategie der Kurden-Frage zu rechtfertigen. Diese war, die nationalistische Karte zu ziehen und jene Frage 2015 militärisch zu lösen. Eine Karte, die vielmehr als Joker diente, da die AKP bei den Parlamentswahlen zum ersten Mal ihre absolute Mehrheit verlor und die HDP die 10%-Hürde überstieg. Und diese Strategie ging auf. Die AKP und Erdogan gewannen an neuer Beliebtheit hinzu.

Politisch-nationalistische Doppelstrategie

Die Wahlen 2015 waren bereits für Erdogan eine Schmach. Doch die Kommunalwahlen 2019 zeigten ihm noch deutlicher, welche Macht das Volk hat, wenn es wählt. In Istanbul hatte der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoğlu, die Bürgermeisterwahl gewonnen. Erdogan wollte sich Istanbul als Machtfokus nicht nehmen lassen und inszenierte Dank seines Einflusses auf die Hohe Wahlkommission eine Wahlmanipulation, wodurch zum ersten mal Wahlen aberkannt wurden. Die Schmach wurde dadurch für ihn größer, da die Niederlage für die AKP noch größer wurde: Imamoğlu gewann mit etwa einer halben Million dazu gewonnen Stimmen. Seitdem weiß Erdogan, dass ihm ein Präsidialsystem, die Gleichschaltung von Medien, die Kontrolle über Justiz und die Exekutive in seiner Hand nicht seine Macht garantieren können: Die türkische Bevölkerung kann er nicht kontrollieren, dessen Widerstand wächst.

Seine Antwort darauf ist zum einen die Strategie der politischen Willkür. So ließ er nach den Protesten 2014 HDP-Politiker systematisch verhaften, nach den Wahlen 2019 CHP- und HDP-Bürgermeister absetzen und verhaften und ersetzte sie mit staatlichen Zwangsverwaltern, die AKP-Funktionäre sind. Nach derselben Methode wird momentan wieder verstärkt mit HDP-Bürgermeistern verfahren. Der gängige Vorwurf: Bürgermeister würden Terroristen, gemeint ist die PKK, unterstützen.

Zum anderen ist Erdogans Antwort eine Strategie der nationalistischen Karte. Die spielt er seit den Protesten 2014 gegen die Kurden auf vielfache Weisen, auch und besonders militärisch. Aufgrund des drohenden Machtverlustes durch die an Stärke gewinnendepro-kurdische HDP und die kemalistische CHP versucht Erdogan durch eine aktive nationalistisch-gewaltsame Politik Beliebtheit zu gewinnen und das nationalistisch Lager, also die rechtsextreme, nationalistische MHP und die kemalistische CHP, hinter sich zu vereinen. Mit dieser nationalistischen Karte trieb er schon 2014/15 einen Keil zwischen HDP und CHP.

Diese Karte ist nur so erfolgreich, weil er gleichzeitig die andere Strategie einsetzt, durch welche systematisch versucht wird, die Oppositionspartei HDP auszuschalten, indem willkürlich gegen HDP-Politiker in Form von Verhaftungen, Razzien und Absetzungen von Bürgermeistern vorgegangen wird.

Kurden- und Armenierfrage – Instrumente des Machterhalts

Der momentane Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan kommt für Erdogans Doppelstrategie wie gerufen. Seit Jahren wurde die türkische Gesellschaft von Erdogan, der AKP und gleichgeschalteten Medien propagandistisch auf solch einen militärischen Schlag gegen die Armenier vorbereitet. Genau wie gegen Kurden wurde auch gegen Armenier gehetzt. Vorher wurde der nationalistische Joker gegen die Kurden politisch und militärisch eingesetzt. Nun wird diese Karte zusätzlich gegen die Armenier ausgespielt. Seine Doppelstrategie erreicht eine neue Dimension. Bei Erdogan wird türkischer Nationalismus zur brutalen Wirklichkeit. Gewaltsam geht er gegen kurdische und armenische Völker vor. Erdogan nutzte IS-Dschihadisten in Nordostsyrien, um kurdische Kämpfer hinzurichten, nun nutzt er wieder Dschichadisten, aber um gegen Armenier zu kämpfen. Der türkische Präsident realisiert aus einem nationalistisch-ideologischen Kampf einen blutigen Wahlkampf. Neben der Kurdenfrage erschafft er eine Armenierfrage und spaltet die Gesellschaft in seinem Land. Wieder setzt er darauf, die nationalistische Lager hinter sich vereinen zu können.

Türkische Außenpolitik ist per se unter Erdogans Alleinherrschaft Innenpolitik, weswegen türkische Medien gerade auf Hochtouren fahren. So wird nun der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan wegen seiner Antikriegsposition durch ganzseitige Anzeigen türkischer Medien zum Vaterlandsverräter und Staatsfeind deklariert – ein Beispiel, das belegt, wie die nationalistische Karte eingesetzt wird, um die HDP zu zerlegen. Die Anti-Armenier-Politik eignet sich genauso gut wie die Anti-Kurden-Politik als entscheidendes Instrument gegen die wichtige Oppositionspartei HDP, um die Macht zu erhalten. Diese zwei Strategien Erdogans funktionieren nur zusammen für den Weg zur sicheren absoluten Macht.

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