Tichys Einblick
Italien und Deutschland

Drum prüfe, wer sich ewig bondet

Die alte Problematik, wie glaubwürdig eine EU ist, die bereitwillig ihre Regeln über Bord wirft, taucht ebenso auf, wie das finale europäische Dilemma: wie viel freier Markt und freier Handel ist sinnvoll, wenn die Welt staatskapitalistischen Protektionismus pflegt? Und wie chinesisch kann oder darf Europa werden, wenn es noch europäisch bleiben will?

imago Images

Mit jedem Tag, der verstreicht, erfährt die Corona-Krise einen Bedeutungswandel. Aus einer Pandemie wird die Chiffre für eine bevorstehende Rezession – oder sogar Depression. Clemens Fuest, der Chef des Ifo-Instituts, sprach bereits von Ausfalldimensionen, die man aus der Geschichte der Europäischen Union nicht kenne. Vor seinem Suizid betonte der hessische Finanzminister Thomas Schäfer in seiner letzten Rede vor dem Landtag, dass die bevorstehende „Jahrhundertaufgabe“ auch noch von Folgegenerationen bewältigt werden müsse. Sie sei „restlos unvergleichbar“ mit der letzten Finanzkrise. Milliardensummen im dreistelligen Bereich könnten die großen EU-Länder in die Knie zwingen. Das betrifft besonders Länder wie Italien und Spanien, deren „lockdown“ nicht nur länger andauert, sondern auch umfassender ist als der im föderalen Deutschland mit Sonderregelungen und Schlupflöchern.

Im Gegensatz zu Griechenland handelt es sich bei Italien sowohl volkswirtschaftlich, als auch hinsichtlich seiner Staatsschulden um ein Schwergewicht. Ministerpräsident Giuseppe Conte wendet sich in einem ARD-Interview an die Deutschen, italienische Bürgermeister werben in der FAZ für Corona-Bonds. In Italiens wichtigstem Wirtschaftsblatt, der Tageszeitung Il Sole 24 Ore, hat nunmehr Giorgio La Malfa eine Debatte um die Bonds angestoßen. La Malfa war von 1989 bis 1999 Abgeordneter im EU-Parlament und warnte bereits im Jahr 2000 vor dem Euro als Risiko. Der Keynesianer verortete das Wurzelübel darin, dass der Euro eine Währung ohne politische Deckung habe; die Europäische Zentralbank existiere ohne europäischen Staat. An diesem Konflikt könnten Euro und EU scheitern, so nicht auch die politische Einigung folge.

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Vor diesem Hintergrund ist auch La Malfas jetzige Position zu verstehen. In seinem Beitrag verweist der Sohn des einstigen italienischen Finanzministers Ugo La Malfa insbesondere auf die politischen Implikationen. Das Coronavirus trete in einer Phase auf, in welcher der weltweite Freihandel zurückgehe. „Nicht nur die Globalisierung wird haltmachen, sondern auch eine Wende hin zur Selbstversorgung wird entstehen“ analysiert La Malfa. Der neue Protektionismus falle in ökonomischer, handelstechnischer und finanzieller Sicht auf, begleitet von einer „aggressiveren Handelspolitik.“ La Malfa macht das für die Vereinigten Staaten, aber besonders für China fest. „Der [chinesische] Markt wird nicht nur – wie bereits jetzt – größtenteils unzugänglich bleiben, sondern [China] wird auch seine Bemühungen vergrößern, seine Produkte und Technologien zu exportieren.“

Europa könnte in dieser Situation unter die Räder kommen: Amerikaner und Chinesen schotteten sich gegenseitig ab und entdeckten den Alten Kontinent als Spielfläche, der nach La Malfas Worten „keine ausreichende Geschlossenheit und korrespondierende wirtschaftliche Kraft hat“. Der EU fehlen schlicht die machtpolitischen Instrumente, um die geeinte Finanz- und Wirtschaftskraft zu organisieren. Die „hervorragende Position“, die sich europäische Firmen in der Welt erstritten hätten, sei stark von einem internationalen Wirtschaftsgefüge abhängig, das in nachfolgenden Jahren zugunsten einer protektionistischen Ordnung weichen könnte. Der „reiche europäische Markt“ würden dann zum Fraß chinesischer und amerikanischer Industrien werden. „Welche Zukunft kann die deutsche Industrie in solch einer Situation – dazu allein – haben?“

La Malfa hat deswegen seinen Beitrag mit dem Titel „Die Schlüsselrolle der deutschen Industrie“ (Il ruolo chiave dell’industria tedesca) überschrieben. Die Hauptthese lautet, dass Deutschland, das sich bisher gegen weitergehende, wirtschaftspolitische Instrumente auf EU-Ebene wehrte, in eigenem Interesse handelt, wenn es jetzt einen „Marshallplan“ unterstützt, um die europäischen Verbündeten zu unterstützen. „An wen verkauft die deutsche Automobilindustrie, wenn sie nicht mehr in den chinesischen Markt eindringen und in den USA nicht mehr verkaufen kann?“ La Malfa stellt ein Europa in Aussicht, dass sich erholt hat und weiter produzieren kann; oder eines, dessen Länder verwüstet sind, von Staatsschulden verzehrt, und von politischen Kräften dominiert, die einem zwecklosen Nationalismus anhängen. Deutschland stünde dann auch als Wirtschaftsmacht komplett hilflos den beiden Supermächten gegenüber. Italien sei bereit, den nächsten Schritt mit Deutschland zu gehen, um gemeinsame politische Interessen zu wahren.

Auf den Vorstoß, der insbesondere den deutschen Verantwortungsträgern gelten soll, hat Markus C. Kerber geantwortet. Der Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik antwortete La Malfa über den eigenen Thinktank Europolis. Kerber setzt sich für eine bessere Ordnungspolitik in der Eurozone ein. Auf seiner Webseite beklagt Europolis einen „pathologischen Staatsinterventionismus französischer Politik“ der sich in der EU-Mentalität Bahn gebrochen habe. Entsprechend kritisch bewertet Kerber die Bond-Vorstöße Italiens; es handele sich um eine alte Idee, die Krise biete den Vorwand, diese nun doch endlich durchzubringen. Er antwortet dem italienischen Kollegen in seiner Muttersprache.

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Kerbers erstes Argument entspricht dem alten Motto: pacta sunt servanda. Deutschland hätte niemals die bisherigen Projekte mitbegleitet, hätte es sich nicht über Verträge abgesichert. Eine geänderte Finanzpolitik bricht Abmachungen, die mit Rücksicht auf deutsche Interessen geschlossen wurden. Darunter zählt die berühmte „No bail out“-Klausel, die ihre komplette Bedeutung verlieren würde, ginge Europa den von La Malfa vorgeschlagenen Weg. Die Vorschläge La Malfas rüttelten an der Währungsverfassung und seien ein „tödlicher Schlag“ gegen die Währungsunion. Der Artikel 122 (2) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union reiche für das in Italien bestehende Problem aus: demnach kann die EU einem Mitgliedsstaat „unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren“. Der Artikel nennt ausdrücklich „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignisse“ als mögliche Gründe.

Das zweite Argument ist wirtschaftlicher und politischer Natur. „Der Traum von Giorgio La Malfa, und mit ihm der von vielen anderen Europäisten, ist nicht nur ein Alptraum für Deutsche, Niederländer, Österreicher und Finnen, sondern wird auch der Beginn eines mehr oder minder offenen Kontrasts zwischen Süden und Norden sein“, schreibt Kerber weiter. „Corona-Bonds sind weder ein Impfstoff gegen das Coronavirus noch ein Anreiz für unsere Wirtschaften, sondern stattdessen der irreparable Beginn einer monetären Sezession in Europa.“ Sollten die obigen Staaten austreten, dann befände sich Italien in einem Boot mit Frankreich, Spanien, Griechenland und Zypern – eine Reise ins Unbekannte, von der Kerber als erklärter Italienfreund abrät.

Stattdessen plädiert Kerber dafür, die Annäherung Italiens und Deutschlands zu nutzen, nicht zuletzt, um den Einfluss französischer Ideen zurückzudrängen. Deutschland sei „zu stark“ mit Frankreich verbündet und nicht in der Lage, sich von der Pariser Vormundschaft zu emanzipieren. Diese sei unter Macron zu einer wahren „Geißel“ geworden. Stattdessen sollten Italien wie Deutschland die Chance nutzen, um sich gegen die „Paläste der Bürokratie und der Finanzen“ zu wenden und gemeinsam „Europa vor dem Suizid zu retten“. Kerber brachte dabei auch sein persönliches Mitleid, aber auch seine Achtung vor den Italienern zum Ausdruck, die in dieser Krise Disziplin zeigten. Deutschland wisse zu weinen und weine; mit Italien, für Italien – „aber nicht ohne die letzte Linie der Vernunft zu verteidigen“. Die italienischen Verantwortungsträger müssten lernen, den deutschen Gedanken wertzuschätzen und Deutschland als den besseren Partner beim Wiederaufbau der Wirtschaft zu erkennen.

Der Schlagabtausch zeigt dabei nicht nur verschiedene Mentalitäten, sondern auch verschiedene Herangehensweisen auf. Bei La Malfa folgt die Wirtschaft dem Primat der Politik und bedenkt geopolitischen Probleme; Kerber betont neben ökonomischen Aspekten auch die verfassungsrechtliche Frage. Die alte Problematik, wie glaubwürdig eine EU ist, die bereitwillig ihre Regeln über Bord wirft, taucht dabei ebenso auf, wie das finale europäische Dilemma: wie viel freier Markt und freier Handel ist sinnvoll, wenn die Welt staatskapitalistischen Protektionismus pflegt? Und wie chinesisch kann oder darf Europa werden, wenn es noch europäisch bleiben will?

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