Tichys Einblick
Selbstbestimmung wieder auf der Tagesordnung

Corona-Zentralismus in Rom contra Autonomie in Südtirol

Mit der zentralistischen Corona-Notstandspolitik des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte brechen für Südtirol gleich zwei Selbstverständnisse wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Foto des Autors: Südtirol - Villnößer Geisler

Bereits seit acht Wochen steht das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben Südtirols, ebenso wie in ganz Italien, weitgehend still. Die Schulen sind gar seit dem 4. März geschlossen und sollen bis September nicht mehr ihre Tore öffnen. Für Sonntag, 26. April 2020 kündigte Ministerpräsident Giuseppe Conte den Übergang von Phase 1 in die, von Wirtschaft und Gesellschaft, lang erwartete Phase 2 an. Die angekündigten Lockerungen waren besonders für Südtirol, wo man den von Kanzler Sebastian Kurz in Österreich vorgelegten Öffnungsplan verfolgt, eine herbe Enttäuschung.

Über mehrere Notdekrete wurden in Italien mehr oder weniger über Nacht einige der härtesten Lockdown-Regeln Europas durchgedrückt. Eine Vielzahl von Bürgerrechten wurden handstreichartig außer Kraft gesetzt. Über drei Wochen vor Ostern durften die Bürger ihr Haus, abgesehen von dringenden Besorgungen, nicht mehr weiter als im Umkreis von 200 Metern verlassen.

Das schöne Frühlingswetter mit angenehmen Temperaturen von über 20°C hätte normalerweise Gartencafés, Eisdielen und Südtirols Hotels für das Ostergeschäft gefüllt. Dort, wo sonst das pralle Leben pulsiert, herrschte triste Leere. Gut besuchte Promenadenwege und beliebte Frühlingswanderwege blieben trotz frühsommerlicher Wetterbedingungen unwirklich leer. Eine harte Probe für die wanderfreudigen und bergverliebten Südtiroler.

Alte Erinnerungen werden wach

In Städten und Dörfern wurde die Präsenz von Polizei, Carabinieri und Finanzwache massiv erhöht. Willkürlich verhängte Strafen erregten zunehmend Unmut. Nicht das in mittel- und nordeuropäischen Ländern verbreitete Prinzip der Eigenverantwortung der Bürger diente als Leitprinzip, sondern allzu häufig Methoden von Einschüchterung und Polizeistaat. Während der Südtiroler in der Regel Vorschriften und Gesetze respektiert, geht der italienische Gesetzgeber davon aus, dass die Bürger generell durch Findigkeit und Kreativität den Staat zu hintergehen versuchen. Zwei häufig kollidierende Mentalitäten.

Dass in den Städten zusätzlich Einheiten des Militärs patrouillierten und Hubschrauber ihre Kreise zogen, weckte bei vielen Südtirolern, die noch die 60er Jahre erlebten, ungute Erinnerungen.

Es waren dies die Jahre, als Südtirol verzweifelt um Autonomie und wohl auch um Unabhängigkeit von Italien kämpfte. In der festgefahrenen Situation brachte der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky die Südtirolfrage gegen den Willen Italiens vor die UNO. Die Lage spitzte sich weiter zu, als Südtiroler Aktivisten, die nicht ganz unbegründet eine Italienisierung ihrer Heimat befürchteten, Hochspannungsmasten in die Luft jagten. Südtirol wurde daraufhin in ein italienisches Heerlager verwandelt. Die Einhaltung der Menschenrechte durch Polizei und Militär zählte während dieser Zeit nicht unbedingt zu den Hauptprioritäten. Erst die anschließenden Verhandlungen brachten Entspannung und mündeten 1969 in einen historischen Autonomiekompromiss unter dem damaligen Landeshauptmann Silvius Magnago.

Dieses sogenannte Autonomiepaket, das in einigen Bereichen Selbstverwaltung ermöglichte und den Südtiroler Landtag aufwertete, legte den Grundstein für Wohlstand und Wirtschaftsaufschwung. Aus einer armen Bergregion entwickelte sich durch Leistungsbereitschaft und bäuerlichen Fleiß eine der wohlhabendsten Regionen Europas.
Moderne Wirtschaftsregion

Während in den 60er Jahren noch ganze Jahrgänge bäuerlich geprägter Südtiroler Dörfer aufgrund einer, durch Italien fremdgesteuerten Industrie- und Wirtschaftspolitik, keine Jobs bekamen und vorwiegend im Deutschland des Wirtschaftswunders Arbeit fanden, hatte man Ende 2019 mit 2,9% Arbeitslosigkeit, faktisch Vollbeschäftigung. Das Pro-Kopf-Einkommen bewegt sich im Ranking der europäischen Regionen, kaufkraftbereinigt im oberen Mittelfeld. Zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren gibt es einen gesunden Mix, wesentlich ausgeglichener, als man von einer Tourismusregion vermuten würde. Die selbst in vielen Tälern und Landgemeinden ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung, die intakte Nahversorgung und gute Infrastruktur sind vor allem ein Verdienst der professionell betriebenen Tourismusbranche.

Südtirols Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur ist mit den meisten germanisch besiedelten Alpenregionen vergleichbar. Viele romanisch geprägte, alpine Regionen sind nach wie vor von Abwanderung, mangelnden Arbeitsmöglichkeiten und verfallenden Infrastrukturen, wie Dorfschule, Postamt oder Gasthaus, geprägt. Werner Bätzing, eine Koryphäe der Alpenforschung, zeichnet dieses Bild in seinem Standardwerk Die Alpen – Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, akribisch nach. Während in germanisch besiedelten Alpengebieten die regionale Selbstverwaltung eine zentrale Rolle spielt, werden die romanisch besiedelten Alpenregionen – mit Ausnahme des Schweizer Tessins – von den Zentralstaaten Frankreich und Italien als Randgebiete und Ergänzungsregionen metropolitaner Ballungsräume betrachtet.

Mit der zentralistischen Corona-Notstandspolitik des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte brechen für Südtirol gleich zwei Selbstverständnisse wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Mythos Vorzeigeautonomie wackelt

Einmal das, von der in Südtirol seit Kriegsende regierenden Südtiroler Volkspartei (SVP) transportierte Narrativ von der Vorzeigeautonomie. Ende der 60er Jahre erreichte man mit der Autonomielösung lediglich die zweitbeste Lösung. Der Traum vieler Südtiroler, einer Rückkehr nach Österreich, blieb dem Land zum dritten Male, nach erstem und zweitem Weltkrieg, verwehrt. Forderungen in diese Richtung – entweder einer Rückkehr nach Österreich oder Gründung eines unabhängigen Staates – sind seit dem Abschluss des Autonomieprozesses und der Streitbeilegung zwischen Italien und Österreich im Jahre 1992 nicht verstummt. Um diese Forderungen zu marginalisieren, diente unter anderem der Mythos von der Vorzeigeautonomie, die man immer noch weiter ausbauen könne, was während der 90er Jahre unter dem Slogan der dynamischen Autonomie auch immer wieder gelang.

Trotzdem bleibt Südtirols Autonomie hinter den Zuständigkeiten eines deutschen Bundeslandes zurück. So verfügt Südtirol zwar über einen üppig ausgestatteten Landeshaushalt, aber in Bereichen, wie z.B. der Schulpolitik oder dem Gesundheitswesen, hat die Verwaltung weitgehend römischen Vorgaben zu folgen. Von einer eigenen Landespolizei – in deutschen Bundesländern eine Selbstverständlichkeit – kann Südtirol ohnehin nur träumen. Pläne nach Vollautonomie, die beim Zentralstaat nur mehr wenige Befugnisse vorsehen und den Rest nach Südtirol übertragen, wurden von der SVP im Jahre 2013 zwar angedacht, aber nie seriös ausgearbeitet, geschweige denn in Rom verhandelt. Die Ergebnisse des sogenannten Südtirol-Konvents, der von 2016 bis 2017 tagte, und der mehrheitlich einen weitreichenden Ausbau der Südtirolautonomie empfahl, wurde von der Politik bis dato schubladisiert.

Die sich nun anbahnende wirtschaftliche Katastrophe trifft Südtirol ins Mark. Damit wankt ein zweites Selbstverständnis, das des seit den 60er Jahren kontinuierlichen Wirtschaftsaufschwunges und stetig steigenden Wohlstandes. Seit dem 10. März sind sämtliche Hotels geschlossen und Südtirols Vorzeigebranche taumelt am Abgrund. Der Tourismus bewegt sich infrastrukturell auf einem hohen Niveau. Regelmäßige Sanierungen, Ausbaumaßnahmen und Neubauten, die dem Baugewerbe und dem gut aufgestellten Handwerk einen wichtigen Teil der Aufträge sichern, werden aufgeschoben oder ganz storniert. Viele Hotelunternehmer haben Kredite in zweistelliger Millionenhöhe laufen. Sollte nach der verhagelten Frühlingssaison auch die Sommersaison ins Wasser fallen, dürfte der Deckel vollends in die Luft fliegen.

Autonomiepolitische Stagnation rächt sich

Wohl unter dem enormen Druck der Wirtschaftstreibenden wagt Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher, der sich selbst innerhalb der eigenen Partei häufig Vorwürfen ausgesetzt sieht, gegenüber Rom eine viel zu lasche Appeasement-Politik zu verfolgen, einen Aufstand gegenüber der Zentralregierung. Von Oppositionsparteien, wie der Südtiroler Freiheit (STF), die sich für eine Rückkehr nach Österreich engagiert oder den Südtiroler Freiheitlichen, die sprachgruppenübergreifend, einen unabhängigen Staat nach Schweizer Vorbild bevorzugen, kommt ohnehin regelmäßig Kritik aufgrund der laut ihnen zu wenig ambitionierten Autonomiepolitik. In der Tat kann seit etwa sieben Jahren, nach dem Ende der Ära von Altlandeshauptmann Luis Durnwalder, von einer bestimmten autonomiepolitischen Stagnation gesprochen werden.

Nun soll ein eigenes Landesgesetz auf den Weg gebracht werden, das unabhängig von den restriktiven Vorgaben Roms, eine sukzessive Öffnung des Wirtschaftslebens im Mai vorsieht. Philipp Achammer, der Parteiobmann der SVP appellierte nach den entsprechenden Parteibeschlüssen vom 27. April nochmals eindringlich an die anderen Parteien im Südtiroler Landtag, diesen eigenen Weg mitzutragen. Der italienische Regionenminister hat schon mal sein Nein zu den Plänen deponiert und rechtliche Schritte angedroht, während Giuseppe Conte sämtliche regionale Eigeninitiativen als völlig illegal deklarierte. Südtirol steht nicht alleine da. Auch im benachbarten wirtschaftsstarken Venetien steigt der Druck enorm und die von Mitte/Rechts regierte Region Kalabrien – süditalienisch temperamentvoll – will in Kürze Bars und Restaurants in Eigenregie öffnen.

Die Regierung in Rom erweckt zunehmend den Eindruck, völlig losgelöst von volkswirtschaftlichen Erwägungen auf ein sogenanntes technisch, wissenschaftliches Komitee vertrauend, die wirtschaftliche Existenzgrundlage des Landes zu zerstören. Ein V-förmiger Verlauf der Krise, von Politikern und regierungsnahen Medien erhofft, bleibt ohne rasche Normalisierung wohl ohnehin eine Chimäre.

Alle drei Sprachgruppen schauen über den Brenner

Vielen Südtirolern, die sich medial vorwiegend über österreichische und deutsche Medien informieren, schwant zusehends, dass Österreich und Deutschland nicht nur den medizinischen Part der Krise wesentlich besser bewältigt haben, sondern, dass etliche mittel-, nord- und auch osteuropäische Länder wirtschaftlich viel besser aus der Krise aussteigen könnten. Das Staatsdefizit Italiens könnte auf astronomische 160 bis180% des jährlichen Bruttoinlandsproduktes ansteigen. Eigentlich ist man damit als Staat bankrott.

Auch ein Vergleich mit dem hochverschuldeten, aber wettbewerbsfähigen und hochinnovativen Japan ändert an dieser Feststellung wenig. Selbst die Existenz der Einheitswährung Euro ist in dieser Krise alles andere als gesichert. Für Südtirol war der Euro trotz aller währungstechnischen Konstruktionsmängel immer auch Synonym für die schrittweise Überwindung der von vielen als Unrechtsgrenze empfundenen Staatsgrenze am Brenner. Nun verdichtet sich das bleierne Gefühl, diesmal definitiv auf der falschen Seite der Brennergrenze zu liegen.

Wenn die Sommersaison ausfällt, dürfte Südtirol in eine noch nie dagewesene Rezession oder gar Depression mit Wirtschaftsrückgängen im Bereich von 15 bis 25% fallen. Auch der nächste Landeshaushalt dürfte dann empfindlich gestutzt werden. Enorme Kürzungen in allen Bereichen wären für Südtirols Politik eine neue Negativerfahrung. Sollte gar die Situation eintreten, dass die historisch negativ konnotierte Brennergrenze geschlossen bleibt, während der österreichische Kanzler Kurz mit Deutschland und anderen Ländern eine bilaterale Grenzöffnung vereinbart, würde in Südtirol nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch der Dachstuhl lichterloh brennen. Deutsche Urlauber in Nordtirol und im Salzburger Land, während Südtirols Hotels unausgelastet unter der Rentabilitätsgrenze herumwirtschaften!

Mit der Europaregion Tirol, ein mit bisher wenig inhaltlichem Leben erfülltes Liebkind des Südtiroler Landeshauptmannes, würde bei einer symbolträchtig geschlossenen Brennergrenze ein weiterer Mythos der aktuellen Südtirolpolitik förmlich zerbröseln.

Unabhängigkeitsaffine Südtiroler, je nach politischer Großwetterlage an die 30% der 530.000 Einwohner, mit steigendem Anteil auch unter italienischsprachigen Südtirolern, sehen – nach den friedlichen Umbrüchen von 1989 bis 1991 mit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion und dem zwar gescheiterten, aber demokratiepolitisch wegweisendem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland von 2014 und den bis dato noch nicht von Erfolg gekrönten Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien – ohnehin, wie sich durch die Corona-Krise ein neues historisches Zeitfenster für die Loslösung von Italien öffnet.

Spätestens eine Mischung aus wirtschaftlichem Niedergang und autonomiepolitischer Demütigung aus Rom könnte das Fass zum Überlaufen bringen und eine bisher nicht für möglich gehaltene Dynamik auslösen. Ein demokratischer und friedlicher Prozess der Selbstbestimmung wäre durchaus erfolgversprechend, wenn er von der Mitte der Gesellschaft getragen wird und allen drei autochthonen, in Südtirol lebenden Sprachgruppen, glaubwürdig eine Win-win-Situation in Aussicht stellt.


Wolfgang Niederhofer lebt und arbeitet in Bozen.

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