Tichys Einblick
Corona-Aufarbeitung

Gottesdienstverbote in Corona-Zeit waren „illiberal, undemokratisch und unverhältnismäßig“

Der ehemalige EU-Kommissar Ján Figeľ zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er ficht an, dass die Gottesdienstverbote rechtens gewesen seien. Es ist ein Präzedenzfall in der Corona-Aufarbeitung.

ADF International

Es ist schon eine interessante Konstellation. Ein ehemaliger Sonderbeauftragter für Religionsfragen zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ján Figeľ, von 2004 bis 2009 EU-Kommissar und von 2016 bis 2019 EU-Sonderbeauftragter für Religionsfragen, klagt gegen die Gottesdienstverbote in der Corona-Zeit. Zuvorderst geht es um die Verbote in seiner slowakischen Heimat. Doch es ist ein Präzedenzfall für 46 europäische Länder – und damit auch für Deutschland.

Figeľ war Kommissar für Schulwesen und Kultur, später slowakischer Verkehrsminister. Er gehört der katholisch-konservativen Christlich-Demokratischen Bewegung an und war bis 2016 deren Vorsitzender. Bereits seit zwei Jahren klagt er gegen die 2021 beschlossenen Einschränkungen und Verbote für Gottesdienste in der Slowakei. Die slowakische Bischofskonferenz hat die Initiative begrüßt.

Rekord bei Kirchenaustritten
Kirche ohne Volk
 Diese Woche hat der Christdemokrat dem Gericht seine rechtlichen Argumente dargelegt. Figeľ wird durch die Menschenrechtsorganisation ADF International und den slowakischen Anwalt Martin Timcsak vertreten. Als ehemaligem Sonderbeauftragten der EU sei ihm klar, dass „die EU nicht glaubhaft für Religionsfreiheit einstehen kann, wenn die Mitgliedsstaaten Grundrechte im eigenen Land verletzen“.

„Religionsfreiheit verdient als Menschenrecht den höchsten Schutz. Gottesdienste und religiöse Versammlungen zu verbieten ist zutiefst illiberal und undemokratisch. Gottesdienstverbote sind unverhältnismäßig. Die Argumente, die wir dem Gericht vorgelegt haben, zeigen klar, dass pauschale Gottesdienstverbote eine Verletzung des internationalen Rechts auf Religionsfreiheit darstellen,“ sagte Figeľ.

Adina Portaru von ADF International unterstützte die Verteidigung der Religionsfreiheit. „Das Völkerrecht schützt Religionsfreiheit als ein Recht, das allen zugute kommt – Menschen mit und ohne Glauben. Wichtige Grundfreiheiten gelten für alle. In Krisenzeiten müssen Grundrechte geschützt und nicht aufgeweicht werden“, so Portaru.

Die slowakische Regierung verteidigt ihr Vorgehen damit, dass Religion „individuell“ gelebt werden könne. Sie rechtfertigte ihr Vorgehen zudem, dass es „digitale Glaubensangebote“ wie etwa Livestreams von Gottesdiensten gegeben hätte. Figeľ hält dagegen, dass die Religionsfreiheit ausdrücklich auch die gemeinschaftliche Religionsausübung schütze.

„Es war offensichtlich, dass Gottesdienste auch während der Pandemie sicher gefeiert werden konnten. Pauschalverbote ignorieren die zentrale Rolle von Religion im Leben gläubiger Menschen. Für Gläubige kann der Gottesdienst – spirituelle Nahrung – so wichtig sein wie Essen und Trinken. Deswegen hat die Religionsfreiheit im europäischen Recht und in unserer Verfassung einen besonderen Schutz. Ich erwarte, dass der EGMR dies ganzheitlich und unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der Menschenrechte in einer demokratischen Gesellschaft betrachten wird,“ sagte Figeľ bei der Einreichung der Argumente.

Der Fall ist deswegen spannend, weil die Aufarbeitung der Corona-Jahre damit wieder zu einem europaweiten Thema wird. Figeľ dürfte sich damit nicht nur Feinde bei Vertretern anderer europäischer Regierungen, sondern auch Amtsträgern der Kirchen machen. Der Fall könnte das erste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Gottesdienstverboten während Corona nach sich ziehen. Der Präzedenzfall hätte dann Auswirkungen auf 46 europäische Staaten mit 676 Millionen Einwohnern.

Anzeige