Tichys Einblick
Cancel Culture an den Universitäten

London will die Rede- und Forschungsfreiheit stärken

An britischen Universitäten florieren Zensur und Selbstzensur, Absagen und Schikanen gegen mißliebige Ansichten. Die Regierung Johnson will das jetzt ändern: Ein nationaler Ombudsmann für Rede- und Forschungsfreiheit soll her. Noch wichtiger könnte das gestärkte Klagerecht werden.

Der britische Bildungsminister Gavin Williamson

picture alliance / empics | Aaron Chown

Eigentlich sollten alle Studenten des Somerville College in Oxford bis zum letzten Freitag einen Test zu unbewussten Vorurteilen ablegen. Der Test kann angeblich in 15 Minuten abgeschlossen werden. Aber um ihn zu bestehen, musste man eine 100-Prozent-Wertung erreichen, was wohl einer richtigen Antwort auf jede der Fragen entspricht, also nicht etwa »x von y Punkten«. Denn natürlich geht es um »100 Prozent«. Man ist entweder Schwarz oder Weiß, Gut oder Übel.

Was ist nun aber richtig und was falsch, was gut und schlecht? Das weiß offenbar die College-Leitung. Eine der Fragen lautete, wie die Daily Mail berichtet, so: »Sich seiner persönlichen Gefühle über bestimmte Gruppen oder Individuen bewusst zu werden, ist ein nützlicher Ausgangspunkt, um unbewusste Vorteile zu überwinden. Ist diese Methode ergiebig oder unergiebig für die Thematisierung Ihrer persönlichen Vorurteile?« Die notwendige Antwort war: »Ja, sie ist ergiebig.« Ja und amen. So kommt, auf leisen Sohlen, der Autoritarismus auf.

Und genau das störte ein am College eingeschriebenes Mitglied der Free Speech Union, eine Vereinigung öffentlicher und nicht-öffentlicher Personen zum Schutz der Redefreiheit, die der Journalist Toby Young vor einem Jahr gegründet hat. Young, Autor einer Kolumne im Spectator, schrieb der College-Leitung einen Brief.  Die diensthabende Baroness korrigierte sich und sprach nun davon, dass auch ein Abschneiden unter »100 Prozent« zu nichts weiter als einem entspannten Gespräch über die berührten Themen führen werde.

Die College-Leitung mag jetzt zurückrudern. Aber dass derlei obligatorische Gewissensprüfungen und lockere »Gespräche« einen Effekt auf viele Studenten haben, ist wohl kaum zu bestreiten. Schließlich gehört zur Redefreiheit nicht nur, dass man über seine Ansichten frei entscheiden kann, sondern auch darüber, wann und wo man sie äußert. Antirassismus-Aktivisten kritisierten, dass die Anti-Vorurteils-Kurse ohnehin nur ein Feigenblatt für Institutionen sind, die zeigen wollen, dass sie etwas gegen Rassismus unternehmen.

Ein Maßnahmenpaket gegen die Cancel Culture

Die britische Regierung will das Problem nun in der Breite angehen, mit einem Aktionsplan für »Rede- und Forschungsfreiheit«, den Bildungsminister Gavin Williamson vorgestellt hat. Der größte Teil der angekündigten Maßnahmen entspricht dabei eher einem Good-Will-Paket, das die Anwendung und Respektierung bestehender Rechte und Garantien stärken will. Einzelnes könnte aber durchaus Folgen zeigen. Insgesamt werden die Hochschulen noch eindringlicher als bisher aufgefordert, die Redefreiheit zu ermöglichen und sicherzustellen. Dass es dazu heute des Staates bedarf, ist allerdings die eigentliche Ironie. Seit ihrer Gründung waren europäische Universitäten stolz auf den Freiraum, den sie der individuellen Rede und freien Forschung auch in schwierigen Zeiten gewährten. Nun braucht es anscheinend Her Majesty’s Government, um die britischen Universitäten an ihr Königsrecht zu erinnern.

Konkret soll es einen »Free Speech and Academic Freedom Champion«, also eine Art Fürsprecher der Rede- und Forschungsfreiheit bei der Hochschulbehörde (Office for Students) geben. Daneben sollen die Universitäten dazu verpflichtet werden, »aktiv« für die Redefreiheit einzutreten. Diese Verpflichtung soll ebenso für die Studentenvereinigungen gelten, die sogenannten »students’ unions«, die man wohl mit den hiesigen AStAs vergleichen kann. Auch bei Einstellungen und Beförderungen soll auf die akademische Freiheit geachtet werden.

Studenten-Union: »Ständig positive Schritte für tausende Veranstaltungen«

Wie man all das kontrollieren will, bleibt allerdings noch im Dunkeln. Lässt sich Freiheit von oben verordnen? Müssten sich Universitäten als autonome Körperschaften nicht gegen einen solchen »Durchgriff« der nationalen Regierung zur Wehr setzen? Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Ausweitung der Klagemöglichkeiten gegen Verletzungen der Redefreiheit. Ein solches Klagerecht würde den Konflikt, um den es geht, am besten abbilden. Denn es ist der Einzelne, der sich von einer – eigentlich der Freiheit verpflichteten – Organisation gegängelt sieht.

Der Bericht des Bildungsministeriums macht den Eindruck, dass daneben vor allem das Eingriffsrecht der Hochschulbehörde gestärkt werden soll. »Bisher«, heißt es da, »gab es wenig regulierende Maßnahmen des Office of Students, was die Rede- und Forschungsfreiheit angeht«. Dabei haben sich die Fälle in den letzten Jahren auch aus Sicht des Zeitungslesers merklich gehäuft. Das Ministerium spricht von »einer bedeutsamen Anzahl von Vorfällen« seit 2019.

Der nationale Studentenverband (National Union of Students, NUS) gab bereits eine Kostprobe seiner Sicht der Dinge ab. Die Vizepräsidentin für Bildungsfragen, Hillary Gyebi-Ababio, ließ verlauten: »Es gibt keine Hinweise auf eine Redefreiheitskrise an den Universitäten. Die Studentenvereinigungen unternehmen ständig positive Schritte, um jedes Jahr tausende Veranstaltungen stattfinden zu lassen.« Wobei das »Positive« an diesen Schritten wohl Ansichtssache ist. Im übrigen sagt die Anzahl der Veranstaltungen (»tausende«) nichts darüber aus, ob vielleicht einige aufgrund von Zensur und Cancel Culture nicht stattfinden konnten. Das NUSStatement argumentiert mit Quantität, wo Qualität gefordert ist.

Auf der Website der Organisation findet sich eine Handreichung zur eigenen »No Platform Policy«, in der sechs – wohl sämtlich nationalistische oder islamistische – Organisationen als ausschließungswürdig angezeigt werden, natürlich alles im Namen von »multiculturalism and equality«. Interessant ist hier zunächst einmal der Brauch, dass auf nationaler Ebene erste Ausschlusskriterien an die Hand gegeben werden, die dann lokal erweitert werden.

Ein Drittel der Universitäten hat bereits Meinungen unterdrückt

Eine Rangliste des Online-Magazins Spiked aus dem Jahr 2018  erkannte »aktive Zensur« bei einem Drittel der Universitäten und bei knapp der Hälfte der Studentenvereinigungen. Das kann bedeuten, dass alle oder bestimmte Religionsgemeinschaften geschont werden müssen, wodurch beispielsweise Kritik am Islam erschwert wird, oder dass bestimmte Pronomina vorgeschrieben oder »transphobische« Aussagen grundsätzlich verboten werden. Sogar akademische Gesellschaften, die sich aktiv für freie Rede einsetzten, wurden zu Opfern von mehr oder minder repressiven Maßnahmen.

Je tiefer man bohrt, desto mehr Fälle findet man. Hier eine Auswahl:

• Im März 2020 konnte die Oxford-Professorin Selina Todd nicht am International Women’s Festival ihrer eigenen Universität teilnehmen, weil manche ihrer Standpunkte gewissen Transgender-Aktivisten nicht passten. Auch Ex-Frauenministerin Amber Rudd durfte nicht in Oxford sprechen. Sie forderte die Studenten auf, sich stärker im politischen Diskurs zu engagieren.

• Ein Jahr zuvor galt der Soziologe und Intelligenzforscher Noah Carl als unzumutbar für Studenten der Cambridge University.

• Wenig später erfuhr der kanadische Psychologe Jordan Peterson über Twitter davon, dass Cambridge auch seine Dienste nicht mehr brauchte. Er hatte sich neben einem Fan in einem T-Shirt mit der Aufschrift »I’m a proud Islamophobe« photographieren lassen.

• Im Frühjahr 2018 konnte eine von der Libertarian Society organisierte Podiumsdiskussion am Londoner King’s College nicht stattfinden, weil die örtliche Antifa etwas gegen den »klassischen Liberalen« (Eigenbeschreibung), Kritiker der Identitätspolitik und »AntiFeministen« (Fremdbeschreibung) Carl Benjamin hatte. Sein Gesprächspartner Yaron Brook, Direktor des Ayn Rand Institute im kalifornischen Santa Ana, blieb dabei: »Wir werden uns nicht vom Kampf gegen die autoritäre Natur von ›safe spaces‹ und No-platform-Praktiken abhalten lassen. Die Freiheit wird immer siegen.« Ein halbes Jahr früher durfte die Geschäftsfrau und Feministin Linda Bellos nicht an der Cambridge University sprechen, weil das gastgebende Peterhouse College Anspruch darauf erhob, seinen Studenten auch ein »Zuhause« zu sein. Folglich hatte deren Wohlbefinden Vorrang vor der Redefreiheit. Das verstand noch nicht einmal der linke Guardian. Auch Bellos hatte die Trans-Orthodoxie in Frage gestellt. Sie wollte sich nicht von ehemaligen Männern sagen lassen, was Feminismus ist.

• Und schon 2015 durfte sich die Frauenrechtlerin Julie Bindel nicht an der Universität Manchester mit Milo Yiannopoulos unterhalten. Bindel erkannte schon damals des Pudels Kern und sprach von »safe spaces, zu denen kein Übel Zutritt hat«.

Bildungsminister Williamson stellt klar, dass es um mehr als nur abgesagte Diskussionsforen mit »umstrittenen« Teilnehmern geht. Das ist das klassische »no-platforming«, doch daneben wurden Studenten aus Kursen ausgeschlossen, zu schlecht benotet, Dozenten entlassen und bedroht, es gab angeblich Geldprämien für Denunzianten, und die Opfer von Meinungs-Mobs wurden nicht immer von den Universitäten unterstützt. Mit Einschüchterungsversuchen und Schikanen (»intimidation or harassment«) auch bei minderen Verstößen gegen die empfundene Korrektheit war zu rechnen.

»Emotionale Sicherheit« vs. Freiheit der Rede und Forschung

Tatsächlich sah ein Viertel der Studenten laut einer Studie des King’s College in London Gewalt als angemessene Reaktion auf bestimmte sprachliche Äußerungen. Die Krise der Redefreiheit an den Hochschulen des Landes, aber auch in der breiteren Gesellschaft, beschreibt Williamson so: »Es gibt einige in unserer Gesellschaft, die ›emotionale Sicherheit‹ höher bewerten als Redefreiheit und dabei Sprache mit Gewalt gleichsetzen.« Und hier ist Williamson eindeutig: Diese Ansichten seien verfehlt und gefährlich, unterdrücken die freie Meinungsäußerung und verunklaren die Grenze zur wirklichen Gewalt.

Das Meinungsklima im Lande und an den Hochschulen wird die britische Regierung nicht so leicht drehen können, aber sie kann Universitätsleitungen dazu verpflichten, die Meinungsfreiheit zu achten und sie nicht zu untergraben. Das kann Vorgaben über akzeptable und angeblich nichtakzeptable Äußerungen betreffen, oder das Recht von Studentenvereinigungen zu bestimmen, wer auf dem Campus sprechen darf und wer nicht.

Manchmal geht der Druck so weit, dass Forschungsergebnisse nicht veröffentlicht werden können oder zurückgezogen werden müssen. Dann ist die Forschungsfreiheit berührt, dank der Forscher und Studenten neue Ideen diskutieren und gängige Auffassungen kritisieren können. Doch wo es früher als verdienstvoll galt, für die Freiheit aufzustehen, unterschreibe man heute lieber Rücktrittsforderungen und Vorschläge zum Entzug von Finanzmitteln, so Williamson. Dem stellt sein Bericht die Notwendigkeit gegenüber, dass die Mitglieder einer Universität eine Bandbreite verschiedener Ansichten äußern können, ohne Zensur befürchten zu müssen, aber auch ohne den Glauben, eine »Selbstzensur« sei nötig.

»Diese Regierung steht eindeutig auf der Seite der Rede- und Forschungsfreiheit, auf der Seite der Freiheit und der Werte der Aufklärung.« Der Satz erhält besondere Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die Universität Edinburgh vor nicht allzu langer Zeit den bedeutenden Aufklärer David Hume wegen einigen Bemerkungen über Menschenrassen cancelte. Der David Hume Tower der Universität soll nun vielleicht nach Africanus Horton, dem ersten schwarzen Absolventen der Universität, benannt werden.

Derweil erinnert Gavin Williamson daran, dass auch gleiche Rechte für Frauen, Homosexuelle oder Schwarze einst zu den Neuerungen gehörten, die an westlichen Universitäten frei diskutiert und immer wieder auch gegen Widerstand eingefordert wurden. Als Beispiel nennt er den Südstaatler und Historiker John Spencer Bassett, der im Jahr 1903 von dem Bekenntnis seiner Universität zur Redefreiheit profitierte. Als er einen schwarzen Gelehrten als den zweitgrößten Mann im amerikanischen Süden nach General Lee bezeichnete, forderten viele seine Entlassung. Doch der Stiftungsrat wollte sich nicht damit abfinden, dass ausgerechnet Universitätsprofessoren weniger Freiheit genießen sollen als alle anderen Amerikaner. Dasselbe müsste für Europäer, ob mit Lehrstuhl oder ohne, auch gelten.