Tichys Einblick

Brexit: Der Deal ist noch lange nicht tot

Eine inkompetente und selbstsüchtige politische Klasse in Großbritannien tut alles, um das Ergebnis der Volksabstimmung nicht umsetzen zu müssen. Die aktuelle Konstellation im Parlament kommt ihnen dabei sehr entgegen. Premierministerin May kann sich nur halten, weil ihre Gegner einen Premier Corbyn noch mehr fürchten.

BEN STANSALL/AFP/Getty Images

Ich hatte noch nie viel für die plebiszitäre Demokratie übrig. Regierungen halten Volksabstimmungen ab, wenn sie eine Legitimation durch das Volk für etwas erhalten wollen, was sie längst beschlossen haben. Die britische Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union folgte genau diesem Muster. Die Regierung des jämmerlichen David Cameron wollte die britische EU-Mitgliedschaft ein für alle Mal besiegeln und die Gegner innerhalb seiner eigenen Partei, die mit Revolte drohten, zum Schweigen bringen. Das einzige Problem mit dieser Volksabstimmung war, dass die Bevölkerung die falsche Antwort gab.

Sie gab die falsche Antwort, weil sie Mr. Cameron zutiefst misstraute und weil der amerikanische Präsident Obama ihn unterstützte. Wenn Cameron und Obama bloß geschwiegen hätten, wäre es zu einem anderen Ergebnis gekommen. Aber natürlich können sich Politiker überhaupt nicht vorstellen, dass Schweigen die beste Politik sein könnte, ebenso wie sie sich nicht vorstellen können, dass man ihnen nicht traut und sie nicht mag.

Kurz nach der Volksabstimmung erschien in der französischen Zeitung Le Figaro eine Karikatur. Darauf waren zwei französische Bauern zu sehen, die über den Kanal nach England blickten. Einer sagt dem anderen: „Da drüben machen sie alles anders. Sie respektieren die Ergebnisse.“

Das stimmt nur teilweise. Es trifft zu, dass es die europäische Tradition ist, ein Referendum abzuhalten und dann die Ergebnisse zu missachten, oder so lange weiter abstimmen zu lassen bis sich die Bevölkerung vor lauter Langeweile unterwirft. Aber es stimmt nicht ganz, dass die britische politische Klasse so sehr den Wünschen der Mehrheit der Wähler – die mit der Mehrheit der Bevölkerung nicht identisch ist – gehorcht, dass sie ihr blind folgen würde. Sie ist dazu verfassungsmäßig auch nicht verpflichtet. Volksabstimmungen haben in unserer Verfassung keinen Platz, und es gibt keine verfassungsmäßige Verpflichtung für die Regierung, den Ergebnissen eines Plebiszits zu folgen oder sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Dessen ungeachtet hat diese Volksabstimmung gezeigt, was die kulturell und politisch dominierende Klasse von der Mehrheitsmeinung wirklich hält: nämlich, dass sie – so weit wie es nur geht – missachtet werden sollte. Jene, die für den Verbleib in der Union waren, widersprachen anfangs nicht der Idee des Plebiszits, da sie davon ausgingen, dass sie gewinnen würden. Nachdem sie verloren hatten, fingen sie an eine zweite Volksabstimmung zu verlangen, um das Ergebnis umzustoßen, und diese zweite Abstimmung nannten sie die Abstimmung des „Volkes“ („people’s“ vote), als ob zur vorigen Abstimmung nicht alle zugelassen worden wären. Offensichtlich benutzten sie das Wort „Volk“ in einem speziellen, quasi-technischen Sinne. Jene, die gegen sie stimmten, gehörten nicht wirklich zum Volke: Sie waren vielmehr so etwas wie Volksfeinde. Wenn jedoch jene gewonnen hätten, die in der EU verbleiben wollten, hätten die Wähler, die für den Austritt waren, das Ergebnis ohne Proteste akzeptiert, und auch keine zweite Abstimmung verlangt – egal wie leidenschaftlich sie auch den Austritt befürworteten. Eigenartiger Weise sind aber sie diejenigen, die bezichtigt werden, keinen Bürgersinn zu besitzen.

Kurz nachdem er an die Macht gekommen war, sagte Präsident Macron, dass bei einem ähnlichen Plebiszit in Frankreich eine noch größere Mehrheit als in Großbritannien für den Austritt aus der EU gestimmt hätte. Seine Antwort auf diese Tatsache (wenn es denn eine war), war die Stärkung jener Aspekte der EU, die die französische Bevölkerung besonders verabscheute. Damit erlaubte er unwillkürlich eine Einsicht in die Pläne der politischen Klasse, wie die Bevölkerung zu behandeln sei: Sie sollte so verwaltet werden, dass sie, statt konsultiert zu werden, vielmehr den Ansichten der weisen Männer folgt. Und wenn die Bevölkerung nicht mochte, was sie bekam, so bliebe ihr am Ende nichts anderes übrig, als zu mögen, was sie bekam.

Austritt ohne auszutreten

Aber dafür zu stimmen, die EU zu verlassen, war eine Sache, und die Verwirklichung des Austritts eine andere. Innerhalb der politischen Klasse waren jene, die den Austritt befürworteten, immer schon in der Minderheit, selbst unter den Konservativen. Die deshalb eine Frau mit der Führung der Partei und der Regierung beauftragten, die sich schon als Ministerin als ausnehmend inkompetent erwiesen und niemals an der Politik geglaubt hatte, die sie angeblich zu verwirklichen versucht hat, nämlich den Austritt Großbritanniens aus der EU. Ihre einzige bekannte Begabung war, die Macht zu erobern, an ihr zu hängen und sie auszuüben.

So musste Mrs. May etwas verhandeln, woran weder sie, noch ihre Partei tatsächlich glaubten. Und wenn ich an Verschwörungstheorien glaubte, würde ich annehmen, dass das, was sie und große Teile ihrer Partei tatsächlich wollten, ein Scheinaustritt aus der Union war, ein Austritt de jure vielleicht, aber nicht de facto. Und es war genau dieser „Kompromiss“, den Mrs. May lieferte.

Fast zwei Jahre lang wurden keinerlei Vorbereitungen für den Austritt ohne einen Vertrag getroffen, obwohl diese Vorbereitungen ein wichtiges Druckmittel bei den Verhandlungen gewesen wären. Selbstverständlich war von Anfang an das Ziel der Europäischen Union offensichtlich – oder sollte es zumindest sein –: Großbritannien sollte wegen des Austritts leiden. Denn wenn nicht, würde der schon vorhandene Zweifel über den Wert der Union in den Mitgliedsländern noch stärker werden. Da jedoch Mrs. May und die Mehrheit ihrer Partei den Austritt sowieso nicht wollten, hatten sie keinen Grund, eine starke Verhandlungsposition anzustreben. Also war das Ergebnis ihrer Verhandlungen ein Austritt ohne auszutreten.

Zur Zeit kann man noch nicht sagen, ob die vernichtende Niederlage von Mrs. May im britischen Parlament eine echte Niederlage war – wahrscheinlich war sie es nicht. Sie hielt es nicht für nötig zurückzutreten, obwohl sie die schwerste Niederlage der Parlamentsgeschichte erlitten hatte. Der Spruch von Mrs. Thatcher in einer schwierigen Lage ist berühmt geworden: „The lady is not for turning“ (die Dame kehrt nicht um). Mrs. May könnte entsprechend sagen: „The lady is not for resigning” (die Dame tritt nicht ab). Und als Folge der gegenwärtigen besonderen politischen Situation könnte sie sich sogar als politischer Phönix erweisen, wie schwach ihre Fähigkeiten auch sein mögen.

Labour unter Corbyn – eine Katastrophe

Eine der politischen Karten, die sie in der Hand hat, ist die gegenwärtige Führung der oppositionellen Labour-Partei. Traditionell wurde diese von der parlamentarischen Vertretung der Partei gewählt und so entsprechend gemäßigt gehalten. Aber dann öffnete man das Verfahren für die Mitgliedschaft, ja sogar für Sympathisanten, und so gewannen die extremistischsten Aktivisten die Oberhand – wie nicht anders zu erwarten war. Das Ergebnis ist, dass die Labour-Partei zur Zeit von einem antisemitischen Verehrer der Hamas, von Hugo Chavez und der IRA geführt wird, sein Stellvertreter bewundert Lenin und Mao. Das ist ein Segen für Mrs. May, weil kein Konservativer eine Labour-Regierung wünscht, egal wie sehr er auch die EU verlassen mag. Es ist eine Tatsache, dass gemessen an der Aussicht einer Labour-Regierung der Brexit eine triviale Angelegenheit ist.

Sollten infolge einer Amtsenthebung von Mrs. May neue allgemeine Wahlen notwendig werden, gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit (nicht unbedingt die Gewissheit), dass Mr. Corbyn sie gewinnen würde. Er ist ein wirtschaftlicher Populist. Sein Programm ist: Verstaatlichung die Versorger und Preiskontrollen, Erhöhung der Steuern für Reiche, Besteuerung des Kapitals, den Obdachlosen „Häuser geben“, die Staatsausgaben erhöhen, die Einkünfte zu deckeln und ähnliches mehr. Viele sind zu jung oder zu uninformiert, um zu wissen, dass all dies schon einmal versucht wurde, und welche Folgen es hatte und erneut haben würde. Konsequenzen, die Mr. Corbyn natürlich begrüßen würde, weil sie die Macht seiner Partei und die Möglichkeiten der politischen Bevormundung stärken würde. In Zeiten des Mangels ist der Verteilende der König.

Natürlich will Mr. Corbyn den Sturz von Mrs. May und ihrer Regierung. Aber er hat seine eigenen Probleme mit dem Brexit, und deshalb kann es selbst jetzt, in dieser späten Phase, niemand, auch nicht der Labour-Vorsitzende sagen, welche Politik die Partei im Falle einer Machteroberung verfolgen würde. Eine große Zahl von Labour-Abgeordneten kommt von Wahlbezirken, die mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt haben. Sollte die Partei den Brexit grundsätzlich zurückweisen, besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass diese Abgeordneten nicht wiedergewählt werden. Auf der anderen Seite ist die Partei als Ganzes mehr gegen als für den Brexit. Und so befindet sich die Labour-Partei in der merkwürdigen Situation, dass sie zwar gegen Mrs. May aber nicht gegen ihre Politik ist, so lange sie eine Art Kompromiss zwischen bleiben und gehen bedeutet. Außerdem, sollte die Labour-Partei an die Macht gelangen, würde sie in der Frage des Brexit sehr schnell genauso zerrissen sein wie die Konservativen, die sich dann daran machten sie zu stürzen.

Überlebenskünstlerin May

Mrs. May überlebte die Vertrauensabstimmung in Anbetracht ihrer großen parlamentarischen Mehrheit und der Niederlage nur einen Tag vorher mit einem überraschenden Stimmanteil. Selbst die Democratic Unionist Party, von der ihre parlamentarische Mehrheit abhängt, und die das von ihr ausgehandelte Abkommen wegen seiner irischen Bezüge hasst, stimmte für sie, weil sie Corbyn, den Verehrer der IRA, noch mehr hasst. Nichts illustriert besser die Annahme, Politik sei die Wahl zwischen zwei Übeln. Die Fraktion jener im Parlament, die einen Brexit ohne Abkommen befürworten, ist sehr klein. Auch wenn Mrs. May fast von allen verachtet wird, ist sie nicht so verhasst wie Macron in Frankreich. Ob es für einen Politiker besser ist, verachtet als gehasst zu werden, sei dahingestellt – aber Mrs. May hat durchaus eine starke Hand. Der Deal ist – was Großbritannien betrifft – noch lange nicht tot.

Die Menschen in Großbritannien sind inzwischen zu müde, um über den Brexit zu reden und meiden das Thema. Während der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine französische Karikatur über eine Dinnerparty. Die schlaue Gastgeberin warnt die Teilnehmer, man möge während des Dinners nicht über die Affäre sprechen. Eine zweite Karikatur zeigt ein komplettes Chaos im Esszimmer: umgekippte Stühle, zertrümmertes Geschirr und so weiter. Die Bildunterschrift lautet: „Sie sprachen darüber“.

So ähnlich geht es heute in Großbritannien zu. Wenn man darüber spricht, gibt es viel Hitze aber wenig Licht. Freunde, die wissen, dass sie verschiedener Meinung sind, meiden das Thema, weil sie glauben, dass wer etwas anderes denkt als sie, dies aus ehrlosen Gründen tue. Jene, die für den Austritt sind, sind xenophobe Dumpfbacken, wer bleiben möchte, ist ein Nutznießer der korrupten, egoistischen, wohlhabenden Klasse, die die Vorteile des europäischen bürokratischen Korporatismus für sich nutzt, obwohl dieser die Hälfte der Einwohner zu wirtschaftlicher Stagnation und viel Schlimmerem verurteilt.

Die Vorhersagen über die Folgen des Brexit schwanken zwischen einer absoluten Katastrophe und einer kaum merkbaren Veränderung. Bis jetzt haben die Weltuntergangspropheten, die einen sofortigen Zusammenbruch nach der Volksabstimmung vorhergesagt hatten, nicht Recht behalten. Aber – wie mein Finanzberater nicht aufhört zu betonen – die Leistungen der Vergangenheit sind kein Hinweis auf zukünftige Leistungen. Vor zwei Tagen behauptete die New York Times in einer Headline, Mrs. Mays Niederlage im Parlament habe Großbritannien ins Chaos gestürzt. Ich habe davon bisher nichts gemerkt. Aber wenn einer fälschlicher Weise „Wolf“ schreit, bedeutet es noch nicht, dass es draußen keine Wölfe gibt.

Für die Europäische Union (und nicht für Europa) ist es entscheidend, das Leben für Großbritannien so schwer zu machen wie nur möglich. Politik hat Vorrang vor der Ökonomie, ebenso wie seinerzeit bei der Einführung des Euro. An Großbritannien muss ein Exempel statuiert werden, auch wenn es ein bisschen mehr Elend für Frankreich und die anderen bedeutet.

Obwohl ich den Brexit aus politischen und weniger aus ökonomischen Gründen unterstützt habe (eine immer größere Union bedeutet immer weniger Freiheit und mehr Autoritarismus), wusste ich immer schon, dass die grundlegendsten und ernsthaftesten Probleme Großbritanniens nichts mit seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu tun haben. Sie werden vielmehr verursacht durch das sehr niedrige Bildungs- und Kulturniveau der Bevölkerung und die absolute Wertlosigkeit, Feigheit und Inkompetenz seiner politischen und bürokratischen Elite.


Aus dem Englischen übersetzt von Krisztina Koenen.