Tichys Einblick
Terror auf der London Bridge

Begangen von einem verurteilten Dschihadisten auf Freigang

Die Fußfessel nützte nichts. Den jüngsten Londoner Terroranschlag hat ein verurteilter Islamist begangen, der seit einem knappen Jahr auf Bewährung war und an der Cambridge University über seine Rehabilitation berichten sollte.

Chris J Ratcliffe/Getty Images

Man sieht einen Mann, der – ein Messer in der verletzten Hand – auf die Kamera zuläuft. Es ist nicht der Terrorist, sondern einer der Männer, die ihn ausschalteten. Eines der beiden Messer, die sich der Kriminelle an beide Hände geklebt hatte, hat dieser Mann ihm entrissen und scheint nun noch immer um sein Leben zu rennen, während er Dritten die weiterhin bestehende Gefahr signalisiert, sie mit seiner freien Hand weg winkt. Denn der Terrorist trägt auch noch einen Gürtel, der nach Selbstmordattentat aussieht. Wie bei den drei Attentätern des Terroranschlags am 3. Juni 2017 in London, die mit Westen bekleidet waren, handelte es sich auch bei dem Sprengstoffgürtel um eine Attrappe.

Ein anderer Zivilist ließ sich nicht einmal dadurch abhalten: Man sieht ihn über den Gewalttäter gebeugt, der kurz zuvor zwei Menschen erstochen haben soll. Nur mit Mühe können die herbeigeeilten Polizisten den Helfer loseisen, um einen Schuss auf den Terroristen abzufeuern. Die Todesstrafe gibt es in Großbritannien seit 1965 nicht mehr, doch bei Terroristen und anderen Gewalttätern hat die Polizei das Recht zum »shoot-to-kill«, was in dem Land allgemein geteilt wird. (Jeremy Corbyn, das ist wahr, hat einst Probleme damit geäußert; doch die gesetzliche Regelung besagt, dass es sich, wie hierzulande auch, um Notwehr handeln muss.)

Dem zivilen Helfer, der sich auch durch den vermeintlichen Sprengstoffgürtel nicht von seinem Eifer abhalten ließ, wurden auf Twitter bereits Freibier lebenslang und eine Ritterschaft versprochen (Tweets am Ende des Artikels). Das ist so englisch volkstümliche Art. Zuvor hatte der Mann gar einen Narwalstoßzahn benutzt, um den Terroristen in Schach zu halten.

Bei dem Angreifer handelt es sich um Usam Khan (28), der 2012 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Zelle verurteilt wurde, 2018 aber auf Bewährung freikam. Seitdem trug er eine elektronische Fußfessel, die jede seiner Bewegungen an die Behörden übermittelte.

Angreifer nahm an Rehabilitationskonferenz teil

Die Umstände des Anschlags kann man sich naiver kaum ausdenken: Der verurteilte Terrorist war im Zentrum von London, um an einer Konferenz des kriminologischen Instituts der University of Cambridge zur »Rehabilitation von Sträflingen« teilzunehmen. Am Freitagmittag, gegen 14 Uhr Ortszeit, betrat er die Fishmongers’ Hall – den Tagungsort und Sitz der Londoner Fischhändlergilde an der London Bridge – und drohte damit, die vermeintliche Sprengladung in seinem Gürtel zu zünden. Im folgenden attackierte er die Anwesenden mit den Messern an seinen Händen. Ein Mann und eine Frau starben, drei seiner Opfer wurden zum Teil schwer verletzt. Die Terrorabwehr blieb zunächst den Londonern überlassen. Hinter Usman Khan († 28) liegt ein dschihadistischer Sumpf von über 20.000 Gefährdern allein in Großbritannien, den die Regierung noch lange nicht trockengelegt hat.

Der Narwalzahn – ein Objekt, das man als Horn des Einhorns kennt – war in der Fischhändler-Halle ausgestellt. Offenbar mit seiner Hilfe – daneben kam auch ein Feuerlöscher zum Einsatz – schafften es die beiden todesmutigen Helfer, den Mann aus dem Gebäude zu drängen. Einer der beiden, ein Herr Luckasz, arbeitet als Portier in der Fishmongers’ Hall und ist polnischer Herkunft. Der andere Helfer – offenbar ein Beamter der Londoner Polizei in Zivil – pries Luckasz als Helden: »Obwohl er selbst verwundet war, schlug er weiter auf den Terroristen ein.« Zahlreiche Londoner konnten den Anschlag von öffentlichen Bussen aus, die auf der London Bridge zum Halt gekommen waren, verfolgen und filmen. Schon 2017 waren am selben Ort acht Menschen bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen.

Fassen wir zusammen: Ein verurteilter Terrorist kommt nach acht Jahren Haft frei, wird zu einer kriminologischen Konferenz im Herzen Londons eingeladen und nutzt dieses Top-Ereignis prompt zu einem neuen Anschlag. Doch warum war Usam Khan überhaupt im Dezember 2018 vorzeitig auf Bewährung freigekommen? Hatte man wirklich Hinweise, dass er sich damals von der islamistischen Ideologie abgewandt hatte? Wer entschied darüber? Immerhin war Khan 2010 als Mitglied einer von Al-Qaida inspirierten Terrorzelle aufgeflogen.

Wer entschied über Khans Bewährung?

Die islamistische Zelle hatte damals unter anderem einen Anschlag auf die Londoner Börse geplant und plante ein Terrorlager für britische Muslime, getarnt als religiöse Schule (Madrasa), im pakistanischen Kaschmir. Dafür wollte man möglichst viel Geld sammeln. Khan sagte aus, dass man allein durch die britische Arbeitslosenhilfe ein Vielfaches dessen erhielt, was in Pakistan durch Arbeit möglich wäre. Über seine Ziele äußerte er sich damals: »Möglich ist der Sieg, den wir uns erhoffen, möglich sind aber auch der Märtyrertod und die Haft.«

Während vier seiner Komplizen zugaben, den Anschlag auf die Londoner Börse geplant zu haben, gestand Khan damals die Beteiligung an terroristischen Planungen im allgemeinen. Trotzdem galt Khan als einer der »ernstzunehmenden Dschihadisten« der Gruppe und wurde zu »lebenslänglich« verurteilt. Später wurde die Haftzeit durch ein Berufungsgericht auf 16 Jahre gesenkt, so dass der gebürtige Pakistani im Dezember 2018 – nach knapp acht Jahren Haftzeit – halbwegs regulär freikam. Allerdings wurde er, wie die »Daily Mail« berichtet, »automatisch« aus der Haft entlassen, das heißt, ohne dass die eigentlich damit zu befassende Bewährungskommission angehört worden war.

Boris Johnson, der seinen Wahlkampf zeitweilig unterbrach, stellte die vorzeitigen Entlassungen gefährlicher Krimineller, besonders von Terroristen, in Frage. Großbritannien werde sich durch solche Ereignisse nicht »einschüchtern, entzweien oder entmutigen« lassen. Erst vor drei Wochen war die Terrorgefahr durch die britischen Sicherheitskräfte von »ernst« auf »erheblich« gesenkt worden.

Gefolgsmann eines hasspredigenden Freigängers

Usman Khan gilt als Schüler und Gefolgsmann des bekannten islamistischen Hasspredigers Anjem Choudary, der einst die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und vom 7. Juli 2005 in London (52 Tote, mehr als 700 Verletzte) begrüßte und seither die westliche Welt vom Scharia-Islam überzeugen will. 2016 wurde Choudary schließlich wegen IS-Propaganda verurteilt, kam aber ebenfalls schon 2018 auf Bewährung frei. Im Mai 2017 – nach dem Anschlag bei einem Ariana-Grande-Konzert in Manchester – hatten die britischen Geheimdienste von 23.000 dschihadistischen Gefährdern berichtet, von denen damals freilich nur 3.000 überwacht wurden.

Update: Als eines der Anschlagsopfer wurde nun Chris Merritt (†25) bekannt. Merritt war Cambridge-Absolvent und einer der Organisatoren der Tagung. Seit seinem Studium setzte er sich für Fairness gegenüber Häftlingen ein.

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