Tichys Einblick
Vor dem Bund-Länder-Gipfel

Unklare Ampel-Pläne zu Grenzverfahren – Faeser schweigt zu sicheren Drittstaaten

Gemeint als „Filter light“ gegen unberechtigte Asylanträge, könnte der Ampel-Plan für EU-Grenzverfahren die Migrationsströme noch schneller nach Deutschland lenken. Wollte Faeser nur Verwirrung stiften vor dem Bund-Länder-Gipfel am 10. Mai? Zur Ausweitung der sicheren Drittstaaten schweigt die Ministerin.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Deutscher Bundestag, Berlin, 28.04.2023

IMAGO / Future Image

Die Ampelkoalition gerät unter Druck – auf europäischer Ebene genauso wie aus dem Kreis der deutschen Kommunen. Das ist zumindest, was man uns glauben machen will: dass die Ampel in entscheidenden Punkten nachgeben wird, damit ein gerechteres EU-Asylsystem entstehen kann. Auch Nancy Faeser schlägt in diese Kerbe, wenn sie von einem „historischen Momentum“ in der Asylpolitik spricht. Ein Momentum ist, wenn etwas in Bewegung, in Schwung gerät, eine Art neue Gründerzeit für neue, gute Werte und Verfahren.

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Faeser berichtet von Vorverhandlungen zwischen vier ausgewählten EU-Partnern. Italien und Spanien als Erstankunftsländer verhandeln mit Deutschland und Frankreich als wahrscheinlichen Sekundärzielen. Das deutsch-französische Paar wurde also erweitert durch zwei Länder im Süden, die von den Migrationsströmen betroffen sind. Dagegen wurde das östliche Europa vom Baltikum bis zur Ägäis anscheinend ausgeklammert. Parteipolitisch reichen die Gesprächspartner damit von einer links-sozialistischen Minderheitsregierung (Spanien) über einen liberal-globalistischen Minderheitspräsidenten (Frankreich) und die deutsche Ampel bis zur Rechte-Mitte-Regierung Italiens (die beiden letzteren verfügen jeweils über eine Mehrheit im nationalen Parlament). Laut Welt sind auch Schweden und Belgien als derzeitiges und baldiges Land der Ratspräsidentschaft in die Hintergrund-Gruppe eingebunden.

Was weiß man nun sicher? Die Ampel will, so erfuhr die Welt, „irreguläre Migration begrenzen und legale Migrationswege ermöglichen“. Das wussten wir schon und ahnten, darin stecke eine Umwidmung von illegaler in legale Migration. Man versucht das gerade im Fall Tunesien, wo die drei Ampelpartner legale Einfache-Arbeiter-Kontingente einführen wollen, wie sie schon für den Westbalkan gelten. Dadurch will man angeblich die illegale Migration aus diesen Regionen und Ländern verringern.

Prozentwerte, die ein Skandal sind

Daneben gefällt den Ampelanern – vor allem Olaf Scholz und Faeser – die „Identifizierung, Registrierung und Überprüfung von Menschen bereits an den EU-Außengrenzen“ ausnehmend gut. Die „Registrierung zum frühestmöglichen Zeitpunkt“, von der Innenministerin Faeser nun spricht, ist schon lange Gesetz in der EU. Nur diese Regierung ist eben nicht darauf spezialisiert, die Einreisenden aus anderen EU-Ländern an den Grenzen zu kontrollieren, so dass daraus Zurückweisungen folgen könnten. Faeser weigert sich standhaft, mehr Kontrollen an den deutschen Außengrenzen einzuführen, und ruft ihre Kritiker zum Anerkennen dieser „Realitäten“ auf.

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Zentral an dem Vorschlag ist die Überprüfung. Sie soll in Gewahrsams- oder Transitzentren an den Außengrenzen stattfinden, die dann als extraterritorial gelten. Die Migranten hätten damit aus rechtlicher Sicht noch nicht EU-Boden betreten. Was Horst Seehofer vor fünf Jahren einmal für Deutschland forderte, soll nun zur EU-Politik der „Fortschrittskoalition“ werden, wenn die Grünen am Ende mitmachen. Aber auch die Durchführung eines Grenzverfahrens sagt noch nichts über dessen Ausgang aus. Vor allem ist unklar, wie die Verfahren genau beschaffen sein werden. Laut dem SPD-Innensprecher im Bundestag Sebastian Hartmann soll es darum gehen, zu prüfen, ob „ein Asylverfahren überhaupt Aussicht auf Erfolg hat“.

Laut dem existierenden Vorschlag der EU-Kommission sollen Antragsteller aus Staaten mit geringer Anerkennungsquote (unter 20 Prozent) ihr gesamtes Asylverfahren direkt an der Grenze durchlaufen. Die Ampel fordert das Gleiche, aber schon ab einer Anerkennungsquote von 15 Prozent. Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion Gottfried Curio zeigt sich offen für den Plan von Verfahren an der Außengrenze, fordert aber zugleich die Unterbindung „aller anderen, bisherigen Wege der illegalen Migration in Staaten der EU“, also wohl die Sicherung der Grenzen, aber auch die Ausschaltung der Sekundärmigration.

Schneller nach Deutschland durch Grenzverfahren?

Doch der eigentliche Skandal beginnt bei den genannten Prozentwerten: In beiden Fällen wären nämlich Syrer, Iraker und Afghanen überhaupt nicht betroffen. Sogar bei türkischen Staatsbürgern liegt die Anerkennungsquote über den 20 Prozent der EU-Gruppe. Für die häufigsten Asylbewerbernationalitäten in Deutschland würde sich also praktisch nichts verändern. Das finden auch Bundespolizeigewerkschafter wie Heiko Teggatz zu Recht „absurd“.

Der Ampel-Clou folgt ohnehin nach dieser Erstauslese der geeigneten Kandidaten an der Außengrenze. Denn im Anschluss sollen „solidarische Mitgliedsstaaten einen Teil der Menschen aufnehmen“, so der Deutschlandfunk. Oder im zähen Faeser-Sprech: „Im Zuge des Ausgleichs im europäischen Asylsystem wird es dann darum gehen, dass auf der anderen Seite eben die Solidarität der anderen Staaten ist, dass wir dann auch diejenigen, die die Schutzquote erfüllen, auch aufnehmen.“ Alles das sei eine „neue Neuigkeit“, wobei man natürlich stets darauf achten müsse, dass es „für die Menschen auch menschenwürdig ist“. Die ‚alte Altigkeit‘ bleibt allerdings, dass Faeser & Co. Familien und „unbegleitete Jugendliche“ ohne jede Prüfung ihrer Asylwürdigkeit aufnehmen wollen.

Stephan Thomae von der FDP glaubt dennoch, dass durch ein solches System „weniger Menschen als Asylbewerber in die EU“ kommen, die sonst aus wirtschaftlichen Gründen kämen. Ihnen will er dann aber trotzdem mit der FDP-Chancenkarte Zugang gewähren. SPD-Hartmann wünscht sich außerdem, dass in der gesamten EU rechtsstaatliche Verfahren nach gleichen Regeln und auf identischem Niveau angeboten werden sollen. Der SPD-Rechtsstaat kümmert sich vor allem und zuerst um die, die ihm noch gar nicht angehören. Das ist man auch den Grünen schuldig, die sonst am Ende noch die Errichtung einer Anti-Asyl-Diktatur im Innern der EU erkennen.

Politik des Kontrafaktischen, abgekoppelt von der Realität

All das ist bereits sattsam bekannt, und es hat bisher stets dazu geführt, dass die Bundesrepublik einen Großteil der Schutzberechtigten (oder auch nicht Berechtigten) aufnahm. Das reichte von einem Viertel (so offiziell) bis zu deutlich mehr. Es bleibt dabei: Im Grunde gibt es nur eine Richtung im gesamten System, und die zielt auf das Zentrum Europas, nicht von dort weg. Diese ganze Politik ist in einer Weise abgekoppelt von der Realität, dass man getrost vom Kontrafaktischen sprechen kann.

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Widerstand ist außerdem von den Grünen zu erwarten. So will Aminata Touré, grüne Integrationsministerin in Schleswig-Holstein, nicht lassen vom derzeitigen System der kruden Sekundärmigration, die einen Teil der illegalen Wanderungsrouten ins Innere des europäischen Kontinents verlegt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass die Mittelmeerstaaten so entlastet werden und zugleich „menschenwürdige Unterbringung“ gelingen soll. Außerdem widersprechen Verfahren an der EU-Grenze ihrer Meinung nach „dem Grundgedanken des deutschen Asylrechts“, das ja bekanntlich darauf ausgelegt ist, die Bedrängten dieser Welt in einen Staat zu pressen.

Touré spricht fast schon mit Bedacht nicht vom Text des deutschen Asylrechts, denn der besagt etwas ganz anderes. Der Text des deutschen Grundgesetzes ebenso wie der Genfer Flüchtlingskonvention legt durchaus ein Verfahren im ersten sicheren Staat nahe, das ein „Flüchtling“ erreicht, ob es nun inner- oder außerhalb der EU liegt. Und dabei hatte eine Gruppe von grünen Kommunalpolitikern – darunter der nun öffentlich demolierte Boris Palmer und der Miltenberger Landrat Jens Marco Scherf – genau das in einem Papier gefordert: dass nämlich die Verfahren an den Grenzen der EU, vielleicht jenseits davon, stattfinden müssten, um eine Überforderung der Kommunen zu vermeiden.

Asylverfahren in Drittstaaten als großer Joker

Daneben erzeugen zwei andere Themen deutlich mehr Lärm in der grünen Widerstandsblase. Zum einen hat die Innenministerin in sehr unklarer Weise von „rechtsstaatlichen Migrationsabkommen mit Drittstaaten“ gesprochen. Man darf das nicht mit den Grenzverfahren verwechseln. Wenn die ein Filter sein sollen, um nur die Menschen mit mittlerer bis nicht ganz verschwindender Asylwahrscheinlichkeit direkt nach Deutschland (oder andere willige EU-Länder) zu führen, dann kommt das Schutzverfahren in einem Drittstaat womöglich einem neuen Einfallstor direkt ins deutsche Asylsystem gleich.

Doch links-grüne Kritiker Faesers lesen aus dem Vorschlag heraus, dass die Ampel „nach britischem Vorbild Asylverfahren in Diktaturen außerhalb der EU“ auslagern wolle. Das Recht auf Asyl würde dadurch abgeschafft. Aber darüber und über Faesers Gedanken ist nichts Sicheres bekannt. Die Ministerin: „Ob die Feststellung eines Schutzstatus in Drittstaaten möglich ist, das prüfen wir.“ Noch spricht nichts dafür, dass eine Innenministerin Faeser Asylbewerber aus Deutschland in ein Flugzeug setzen könnte, das dann Tunis oder Kigali ansteuert – als freundliche Destinationen mit angeschlossener Erstaufnahme.

SPD- und CDU-Regierungschefs wollen mehr sichere Drittstaaten

Einen scharfen Angriff gegen die Grünen und andere Teile der Ampel leistete sich derweil der CDU-Ministerpräsident von Sachsen Michael Kretschmer, der die grüne Haltung in der Frage einer Ausweitung der Liste sicherer Drittstaaten laut dts kritisierte: „Die Grünen leisten keinen einzigen Beitrag dazu, die illegale Migration nach Deutschland in den Griff zu bekommen. Sie stellen Ideologie über die Interessen des Landes.“ Man habe ein „akutes Problem“, das inzwischen „alle Bürgermeister und Landräte in Deutschland über Parteigrenzen hinweg“ bestätigen.

Neben Kretschmer, der sich sogar „Druck aus Berlin“ auf die grün mitregierten Länder (darunter auch sein eigenes) wünscht, hatte auch der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) für die Bestimmung von Georgien, Marokko, Algerien, Tunesien und Indien zu sicheren Herkunftsstaaten aufgerufen, weil Bewerber aus diesen Ländern für „eine Vielzahl von Asylverfahren mit einer äußerst niedrigen Schutzquote“ sorgen.

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Auch der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) sieht die Regelungen als „veraltet“ an und impliziert so, eine Modernisierung der Liste müsse her. Und der SPD-Regierungschef von Brandenburg, Dietmar Woidke, sagte der FAZ etwas Ähnliches, dass der politische Schritt der Listenerweiterung „nun endlich erfolgen“ und die Debatte so beendet werden solle. Bestimmte Länder wollte aber Woidke, der wie Kretschmer in einer Kenia-Koalition auch mit den Grünen regiert, nicht nennen. Im Koalitionsausschuss sollen die Grünen strikt gegen jede Ausweitung opponiert haben.

Von Faeser gibt es zu diesem Punkt gar keine Aussagen, was darauf schließen lässt, dass sie hier die Linie der Grünen teilt und befestigen will. Die grünen Kritiker – der Europa-Abgeordnete Erik Marquardt, Mitglied der Grünen und diverser NGOs – meinen, dass die Innenministerin „Menschen aus Syrien und Afghanistan über sichere Drittstaatskonzepte keinen Zugang mehr zu Asylverfahren“ gönnen will. Vermutlich kann nichts weiter von der Realität entfernt sein. Marquard hat inzwischen zu Protokoll gegeben, dass er den ganzen Faeser-Vorschlag für Vor-Gipfel-Getöse hält. Den Ländern und Kommunen wolle Faeser damit „die Botschaft senden, dass man alles im Griff habe“. Auch die Union im Bundestag geht laut Innensprecher Throm davon aus, dass Faeser „die Öffentlichkeit wieder mal an der Nase herumführt“.

Laut dem Spiegel glaubt Faeser noch immer nicht daran, dass „der starke Anstieg der Asylbewerberzahlen“ Deutschland überfordern könnte. Stattdessen verwies sie auf den kommenden Bund-Länder-Gipfel am 10. Mai und sagte: „Wir schultern diesen großen humanitären Kraftakt gemeinsam.“ Danke fürs Wording, also keine große Migrationskrise, nur ein großer humanitärer Kraftakt. Faeser nähert sich der Realität, wenn auch in ihrer verquasten Umgekehrt-Sprache. Dabei bleiben Ziele und Verfahren wie immer völlig unklar.

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