Tichys Einblick
Wortverdreherei

Wolfgang Schäuble kritisiert „Kapitänin” der Sea-Watch 3

Mit Kritik hat das wenig zu tun. In etwa so wenig, wie das Engagement der Nichtregierungsorganisationen vor der nordafrikanischen Küste mit Seenotrettung zu tun hat. Jeder weiß es, aber keiner sagt was: Mit solchen Redeverdrehungen wird Demokratie beschädigt.

imago images / Jürgen Heinrich

Man hätte die Uhr danach stellen können, bis aus den Reihen der großen Koalition einer auftaucht, der die Wähler wieder einfangen soll, die sich einmal mehr angewidert weggedreht hatten, als vom Bundesminister bis zum Bundespräsidenten jeder meinte, sich hervortun zu müssen mit einer Art emotionaler Solidarität in Sachen Seenotrettung, für die Sea-Watch 3 und die von Italien auf Lampedusa festgesetzte Carola Rackete, die Kapitänin genannt wird: Zu Recht. Kapitän ist eine Berufs- wie Amtsbezeichnung. Kapitänin eine Erfindung.

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Dieses Mal zog Wolfgang Schäuble das kurze Streichholz und positionierte sich kritisch. Schäubles Ziel bestand wohl darin, im fahlen Lichte dieser Carola-Rackete-Heiligenschein-Einheitsfront abdriftende Wähler irgendwie wieder einzufangen.

Wolfgang Schäuble (CDU) als Gegenpart zum Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD), der sich im ZDF-Sommerinterview gerade eine Ungeheuerlichkeit geleistet hatte, als er sein Amt dahingehend missbrauchte, Werbung für ein Spendenkonto für eine private Organisation zu machen, deren Vorzeige-Ikone in Italien gerade im schwarzen Lara-Croft-Tank-Top als Streiterin für das Gute vor Gericht steht.

Schäuble gibt in Bild den einsamen Rufer in der Wüste, indem er einen kritischen Blick auf die erzwungene Anlandung der Sea-Watch 3 in einem Hafen der italienischen Insel Lampedusa wirft.

Zwischenzeitlich demonstrieren schon linksgrüne Aktivisten vor der italienischen Botschaft in Berlin, Mahnwachen wurden eingerichtet, man will erst weichen, wenn Kapitänin Carola Rackete frei gekommen ist. Die Mahnwache wurde angemeldet bis Sonnabend. Wird sich jemand nackt an das Tor ketten? Wird es solche oder andere medienwirksame Bilder geben? Nein, dazu sollte es gar nicht kommen: 1968 ist vorbei, es geht nicht darum, etwa vor der amerikanischen Botschaft gegen das Napalmmorden in Vietnam zu demonstrieren, wenn schon wenige Stunden später vor der italienischen Botschaft und mit Abzug der Presse keine Mahnwache mehr steht, wie überrascht der Tagesspiegel berichtet:

»Gerade mal drei Stunden später jedoch, gegen 10.30 Uhr, wurde der Protest vorerst wieder beendet, wie Kirsten Müller-von der Heyden später am Telefon sagte: „Wir haben die Veranstaltung beendet, weil alle andere Verpflichtungen haben oder zur Arbeit müssen.“ Das war zwar anders geplant. „Aber Hauptsache wir waren da.“«

Aber immerhin: Die #freeDeniz-Plakate sind jetzt #freeRackete-Plakate und die kann man ja auch virtuell versenden oder als Profilbild verwenden, die muss man nicht auf Pappe durch Berlin tragen, viel zu heiß, viel zu langweilig, viel zu engagiert.

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Weil das Thema Seenotrettung nun aber in die Welt der deutschen Gefühligkeiten, der überbordenden Emotionen überführt ist, wenn Deutsche, der Sea-Watch, Böhmermann und Steinmeier ihre Solidarität bekunden, wenn sie kurz davor zu stehen glauben, in den Geschichtsbüchern so etwas, wie einen Heldenstatus der Nächstenliebe reserviert zu bekommen, nimmt sich die Neue Züricher Zeitung aus dem Nachbarland Schweiz ein Herz und erinnert die vor ihrem eigenen Gutmeinen erglühten Heiligenanwärter aus Deutschland daran, um was es hier eigentlich geht:

„Gäbe Italien dem deutschen moralischen Imperativ und Leuten wie Rackete einfach nach, dann wäre leicht absehbar, was geschähe. Die wohlmeinenden Retter auf dem Mittelmeer würden wieder im grossen Stil zu den impliziten Partnern der libyschen Schlepper. Diese könnten wieder viel mehr Migranten auf seeuntüchtigen Booten aufs offene Meer hinausführen, im Wissen, dass die Menschen mit grösserer Wahrscheinlichkeit von einem Rettungsschiff aufgenommen und nach Italien geführt würden. (…) Frau Rackete scheint sich nicht so viele Gedanken zu machen über die systemischen Gesetzmässigkeiten des Schlepperwesens und über Risikokalkül und Anreize beim Migrationsentscheid.“

Wird sich diese stringente Argumentation am Ende doch als Haltung durchsetzen? Jedenfalls scheint der Furor derer, die sich ohne persönliches Risiko mit der festgenommenen Sea-Watch-„Kapitänin” solidarisieren, schon den kritischen Punkt überschritten zu haben: Zuviel Getrommel, zu wenig Überzeugungskraft, zu heiß im Juli, wie vor der italienischen Botschaft in Berlin, aber auch verdammt zu nah an den Landtagswahlen in Ostdeutschland, also muss Wolfgang Schäuble mal kurz ran und das Tempo rausnehmen, schließlich will man ja nicht, dass dieses erfolgreiche Thema, das sich so fantastisch dazu geeignet hatte, linksgrüne Deutungshoheit zu zementieren, plötzlich zum Rohrkrepierer wird, wenn immer mehr begreifen, was die NZZ so klug wie verständlich aufgeschrieben hat.

Schäuble zu Bild: „Dass man Menschen, die in Seenot sind, retten muss, darüber kann man ja nicht ernsthaft diskutieren. Aber auch Seenotrettungs-Organisationen müssen falsche Signale vermeiden und selbstkritisch diskutieren, ob sie nicht auch das Geschäft der Schlepper befördern. Das gehört zur Wahrheit dazu.“

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Und wenn die „Kapitänin” der Sea Watch gegen italienische Gesetze verstoßen haben sollte, wäre gegen ein Gerichtsverfahren im Prinzip nichts einzuwenden. Italien sei ein Rechtsstaat. Aber er hoffe, so Schäuble weiter, dass es andere Lösungen für den Fall geben würde und die „Kapitänin” möglichst schnell wieder freigelassen werde. Da wird das vermeintliche Wendemanöver zur Verschleierung. Welche „anderen Lösungen“ soll es für Rechtsbruch geben? In Italien scheint jedenfalls der Rechtsstaat noch in besserem Zustand zu sein als in Deutschland, wo wohl Urteile nach Befinden der Regierung und ihrer populistischen Neigung gefällt werden sollen.

Was für eine durchsichtige Strategie: Nicht, dass man etwas gegen Meinungsvielfalt innerhalb der Koalition haben kann, aber dann sollte bitte erkennbar werden, dass diese Debatten geführt werden und daraus im Idealfalle fundierte Haltungen entstehen, die auf Einsichten basieren – aber diese Debatten gibt es nicht.

Es gibt keine breite Diskussion in den Parteien oder innerhalb der GroKo, an denen die Bevölkerung partizipieren könnte, wie es in Demokratien die Ideallinie wäre. Schäubles Ausfallschritt will so eine Pluralität nur suggerieren, sie existiert nicht. Er will Denkverbote verschleiern, welche die Gräben in der Gesellschaft immer tiefer ziehen. Warum? Weil so eine Spaltung erwünscht ist: Lieber bringt man die Bürger gegeneinander auf –  hetzt West gegen Ost auf, reich gegen arm, links gegen rechts, arbeitend gegen arbeitslos –  bevor das man das Risiko einginge, mit einer zweifelhaften Agenda selbst plötzlich im Fokus der negativen Aufmerksamkeit zu stehen und Angriffsflächen zu bieten.

Nein, Wolfgang Schäuble kritisiert nicht die Haltung des Bundespräsidenten, nicht die der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und ihrer Böhmermanns, nicht die der Regierung, nicht die des Außenministers – die der Grünen, der Linken und der Gewerkschaften auch nicht. Mit Kritik hat das wenig zu tun. In etwa so wenig, wie das Engagement der Nichtregierungsorganisationen vor der nordafrikanischen Küste mit Seenotrettung zu tun hat. Jeder weiß es, aber keiner sagt was: Mit solchen du weiteren Redeverboten wird Demokratie beschädigt. Da kann Schäuble noch so viel reden.

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