Tichys Einblick
Seehofer

Von der bigotten Ausschlachtung einer vermeintlichen Steilvorlage

Real existierendes Paradoxon: Je mehr Moral und Anstand bemüht werden, desto mehr bleibt beides auf der Strecke.

Omer Messinger/AFP/Getty Images

Wer die Pressekonferenz des Innenministers zum „Masterplan Migration“ geschaut hat, der könnte sich schon über die anhaltende Heiterkeit des Horst Seehofer zu diesem ernsten Thema gewundert haben. Die ersten Deutungen mögen dahin gegangen sein, dass der Minister nach anstrengenden Wochen und auch für ihn persönlich existenzielle Fragen, hier den gut aufgelegten, den unbeeindruckten und standhaften Phoenix aus der Asche geben wollte. Wer im politischen Geschäft tätig ist, weiß noch besser, wie wichtig diese öffentlichen Vitalitätsbezeugungen sind. Noch mehr, wenn das offizielle Rentenalter schon überschritten ist.

Horst Seehofer wurde am 4. Juli 69 Jahre alt. Der 4. Juli 2018 datiert auch den vorgelegten Masterplan. Ein Geburtstagsgeschenk? Mehrfach in der Pressekonferenz musste Seehofer Journalistinnen darauf hinweisen, dass Forderungen des Koalitionspartners SPD, aufgestellt am 5. Juli, demnach nicht in diesem Masterplan aus dem Innenministerium auftauchen könnten, wie beispielsweise die SPD-Forderung, den Begriff „Transitzentren“ zu ersetzen durch „Transitverfahren“. Schon hier amüsiert sich Seehofer, nennt beide Begriffe und demonstriert in Gestik und Mimik, den Unterschied für läppisch zu halten.

Nach den einleitenden Worten der Pressesprecherin und Vortrag des Ministers zum Masterplan folgte die Fragerunde. Wörtlich hieß es da vom Minister: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ Hier ist der Inhalt interessant, weniger die Art und Weise des Vortrags. Seehofers Grundstimmung auf der Pressekonferenz (PK) war durchweg positiv. Wer hier insgesamt eine fehlende Ernsthaftigkeit diagnostizieren will, könnte nicht gänzlich daneben liegen. Der Spagat zwischen selbstsicherem Siegerauftreten und Thematik ist also durchaus problematisch.

Festgestellt werden muss, dass der Minister in dieser PK nicht ausschließlich auf der Sachebene agierte. Auch für die anwesenden Journalisten war klar: Es geht hier auch um Seehofer als Person, um das Amt des Ministers, um seine Glaubwürdigkeit und auch um den kritischen Blick auf Seehofer aus den Reihen der CSU, deren Parteichef Seehofer ja nach wie vor ist. Kurz gesagt: Eine PK, die das Corpus Delicti aus der Auseinandersetzung mit der Bundeskanzlerin vorstellt, aber eben nicht nur: Hier stellte sich auch Seehofer selbst vor. Und er wollte nicht nur Überlebender sein, sondern sich darüber hinaus durchgehend als lächelnder Gewinner präsentieren.

Nun hat offenbar einer der abgeschobenen neunundsechzig Afghanen nach der Ankunft in seiner Heimat Selbstmord begangen. Der nur 23 Jahre alt gewordene Afghane war in Deutschland rechtskräftig wegen Diebstahls, versuchter gefährlicher Körperverletzung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden, so jedenfalls erklärte es die Hamburger Ausländerbehörde. Es sollen sogar noch weitere Strafanzeigen beispielsweise wegen Raubes und gefährlicher Körperverletzung vorgelegen haben.

Der junge Mann war als Minderjähriger nach Deutschland gekommen, sein Asylantrag wurde 2012 rechtkräftig abgelehnt, ein eingereichter Widerspruch wurde von ihm nicht weiter verfolgt und 2017 sogar ganz eingestellt. BILD berichtete, auch eine begonnene Berufsausbildung sei nicht fortgeführt worden. Nach vorläufiger Duldung folgte die Abschiebung gemeinsam wohl mit achtundsechzig weiteren Afghanen.

Nun werden diese Abgeschobenen nicht einfach irgendwo im Kampfgebiet abgesetzt, sondern nach ihrer Ankunft von internationalen Organisationen betreut und untergebracht. In so einer Unterkunft hat sich der Mann erhängt. Für Horst Seehofer war das zutiefst bedauerlich, und er bat darum, damit „auch sachlich und rücksichtsvoll umgehen.“ Aber damit sind seine Aussagen auf der Pressekonferenz (PK) kontaminiert. Diese hatten sogar schon vor dem Selbstmord des Afghanen für Aufregung gesorgt. Eine Steilvorlage für seine Gegner aus einer durchaus auffällig heiter vorgetragenen PK.

Niemand würde nun ernsthaft in Abrede stellen, dass Horst Seehofer diese Anspielung auf die identischen Lebensjahre und die Zahl der Abgeschobenen noch vorgenommen hätte, wenn der Selbstmord schon passiert bzw. bekannt gewesen wäre. Dass dieser Zusammenhang nicht nur gaga, sondern völlig sinnfrei war, mag auch Seehofer im Moment des Vortrags erkannt haben oder spätestens wenige Minuten nach dem Gesagten. Humor geht sicher auch in Bayern anders.

So bleibt noch die grundsätzliche Frage, inwieweit und in welcher Form ein Minister öffentlich Mitgefühl aufbringen muss für die Schicksale von Abgeschobenen, die ja gegen ihren Willen an jenen Ort verbracht werden, der einmal ihre Heimat war und der in einigen Regionen nach wie vor von kriegerischen Handlungen und Terroranschlägen bedroht wird.

Würde es nun aber gegenüber den Abgeschobenen etwas ändern, wenn der Minister regelmäßig und mit jedem neuen Kontingent Abgeschobener sein Bedauern darüber ausdrücken würde, wo doch diese Abschiebungen von in Deutschland kriminell gewordenen Ausländern und anderen von einer großen Mehrheit der Bürger ebenso wie von einer Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag gefordert werden?

Wie bigott wäre so etwas, hier abzuschieben und gleichzeitig darüber aus dem Amt heraus sein Bedauern auszudrücken? Persönlich darf man das, aber dann sollte es dafür einen speziellen Anlass geben, sonst wäre es eine bigotte Litanei. Der Fall des durch Selbstmord gestorbenen Afghanen wäre möglicherweise so ein Moment des Bedauerns. Und Seehofer hat dieses Bedauern nachgereicht durchaus zum Ausdruck gebracht. Dass nun seine Aussagen in der PK damit kollidieren, kann er heute nicht mehr rückgängig machen.

Was allerdings der politische Gegner daraus macht, ist auf eine Weise hysterisch und noch einmal bigotter als es Seehofers Bedauern schon im Vorfeld gewesen wäre. Führende Politiker und Medienvertreter nutzen diese Gelegenheit, Seehofer auf vielfach hysterische Art und Weise den Rücktritt nahe zu legen. Moralisierend, maßlos, vernichtend. Und immer wegen Seehofers Empathielosigkeit, nicht wegen der vollzogenen Abschiebungen. Wirklich?

Kommunikationsexperte Hasso Mansfeld hat nicht hysterisch reagiert und kommentierte die große Empörung über Seehofers Äußerung in den sozialen Medien so:

„Real existierendes Paradoxon: Je mehr Moral und Anstand bemüht werden, desto mehr bleibt beides auf der Strecke. Die Menschlichkeit, die auf der eine Seite eingefordert wird, ist aber nicht dieselbe Menschlichkeit, mit der die selben Protagonisten über ihre politischen Gegner richten, oder?“

Dem ist nichts hinzuzufügen.