Tichys Einblick
Diesseits des Hindukusch

Schengenvisa für Afghanen in der Türkei: Zahlen unbekannt

Afghanen können in der Türkei legal Visa für Deutschland erhalten. Wie viele damit einreisen, kann das Auswärtige Amt nicht sagen.

imago images / blickwinkel

Fünfzehn Jahre ist es her, dass der damalige Außenminister Joseph Fischer und Innenminister Otto Schily in der Visa-Affäre vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages erstmals live im deutschen Fernsehen Rede und Antwort stehen mussten. Demokratie live könnte man das nennen, als die Details darüber bekannt wurden, wie im Jahr 2000 Auslandsvertretungen via „Fischer-Erlass“ angewiesen wurden, Visa-Anträge „in dubio pro libertate“, also im Zweifel für die (Reise-)Freiheit auszustellen, ganz gleich, ob es erhebliche Zweifel daran gab, ob die Rückkehrbereitschaft der Antragsteller gegeben war.

Zehn Jahre später wurde eine weitere Visa-Affäre bekannt, als der Spiegel herausgefunden hatte, dass aus einigen deutschen Botschaften heraus systematisch Visa gegen Geld erteilt wurden.

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Nun ist nicht gleich jede Erleichterung in der Visa-Erteilung eine Affäre, aber was jetzt wiederum zehn Jahre später aus dem Auswärtigen Amt kommt, könnte sich zu einer solchen auswachsen, wenn tatsächlich Afghanen in großer Zahl die Möglichkeit bekommen haben, per Visa aus der Türkei legal nach Deutschland einzureisen, während sich die Bundesrepublik seit Jahren bemüht, Afghanen ohne Aufenthaltsberechtigung auszuweisen.

Es fing damit an, dass TE von der Pressestelle des Auswärtigen Amtes wissen wollte, wie viele Afghanen aus der Türkei ganz legal mit Visa nach Deutschland eingereist sind. Eine Frage, die ein Sprecher des Auswärtigen Amtes nicht beantworten konnte, weil eine „Erfassung nach Staatsangehörigkeit“ nicht erfolgen würde. „Insofern können wir diese Zahlen leider nicht zur Verfügung stellen.“

Man fragt sich da schon, welche Motivation dahinter steckt, dem nicht nachzugehen, wer beispielsweise über die Türkei mit Schengenvisum einreist? Auf der Internetseite der Deutschen Vertretungen in der Türkei steht es nach wie vor schwarz auf weiß unter „Visa für afghanische Staatsangehörige“: „Afghanische Staatsangehörige mit legalem Aufenthalt in der Türkei (d. h. Ikamet, Flüchtlingsausweis oder Visum) können Schengenvisaanträge in der Türkei beantragen. Schengenvisa, auch „C-Visa“ genannt, werden erteilt für Aufenthalte unter 90 Tagen zu Zwecken wie Besuchs- und Geschäftsreisen.“

Darauf folgen Hinweise zum korrekten Antrag, beispielsweise, dass Unterlagen auf deutsch oder englisch übersetzt werden müssen: „Wir empfehlen hierzu dringend, einen professionellen Übersetzungsservice zu nutzen. Unverständliche Übersetzungen können nicht verwendet werden und können zu einer Ablehnung führen.“

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Zu einer Ablehnung von Visaanträgen von Afghanen in der Türkei führt also nicht etwa per se der dringende Verdacht, dass Afghanen über die Türkei nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen, sondern wenn ein Papier schlampig übersetzt wurde?

Nehmen wir mal die Zahlen von 2019. Im vergangenen Jahr erteilten die Auswärtigen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland weltweit knapp zwei Millionen Schengenvisa. Und schauen wir uns hier die Zahlen aus der Türkei an, dann sind das allein für 2019 weit über 200.000 erteilte Schengenvisa: In Ankara wurden 60.582 Visa erteilt, in Istanbul 122.569 und in Izmir 39.096.

Ein Pressesprecher des Auswärtigen Amtes bittet darum, uns auch an das Bundesinnenministerium zu wenden. Das machen wir und wollen wissen, wie viele Asylbewerber im vergangenen Jahr und in den ersten Monaten 2020 Asylanträge gestellt haben, die mit Schengenvisa eingereist sind. Und im speziellen die genauen Zahlen der Asylanträge von Afghanen, die über die Türkei mit Visa nach Deutschland eingereist sind (die Antworten werden wir, sobald eingegangen, hier nachreichen).

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Wichtig in dem Zusammenhang ist vielleicht noch, dass das Auswärtige Amt nach einem Bombenanschlag auf die deutsche Auslandsvertretung in Afghanistan im Mai 2017 die Ausstellung von Schengenvisa in Afghanistan mindestens zeitweise ausgesetzt hatte und Ausweichregelungen für Afghanen eingeführt, die damals ihre Visa auch in den deutschen Vertretungen in Neu Delhi (Indien), Istanbul (Türkei) und Dubai (VAE) stellen konnten bzw. nach dem 15.Mai (Corona-Stopp) wieder stellen können.

Nicht vergessen werden darf hier die Visaerteilung zum Zwecke der Familienzusammenführungen der bereits in Deutschland anerkannten oder geduldeten Asylbewerber, so sie ihre Familie nachkommen lassen dürfen.

Aktuell ist das Visavergabeverfahren an den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei ausgesetzt. Das Bundesinnenministerium hatte am 17.März einen weitreichenden Einreisestopp aus Drittstaaten angeordnet und nach zwischenzeitlicher Verlängerung momentan bis 15. Mai befristet.

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Die deutschen Vertretungen in der Türkei bieten auf ihrer Internetseite übrigens einen interessanten Service an, wenn es da heißt: „Einige Fluggesellschaften bieten weitere Flüge nach Deutschland an, etwa SunExpress am 27., 28. und 29. April aus Ankara und Izmir.“ Es folgen Tipps, wie diese Flüge gebucht werden können. Es wäre also einmal interessant zu schauen, wer mit den genannten SunExpress-Flugzeugen und gegebenenfalls Schengenvisum einfliegt.

Die deutschen Vertretungen in der Türkei weisen weiter darauf hin, dass „für Entscheidungen über die Gestattung der Ausreise aus der Türkei die türkischen Behörden zuständig sind.“ Wie es mit der Gestattung der Einreise aussieht, dürfte allerdings die deutlich spannendere Frage sein. Deutschlands Sicherheit wurde einst am Hindukusch verteidigt – was für ein Bumerang ist daraus geworden.

Zuletzt noch ein Hinweis einer TE-Leserin, die an einen Artikel im Spiegel vom 11.09.2015  erinnert, indem es damals hieß: „Dazu kommen beunruhigende Nachrichten aus dem Ausland: (…) In Afghanistan, so wurde die deutsche Botschaft in Kabul wiedergegeben, gebe es Anzeichen, dass die Regierung eine Million Pässe ausgestellt habe, die die Ausreise nach Europa ermöglichten.“

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