Tichys Einblick
Leere wird gefüllt

Die Verehrung des heiligen Globulus. Und woran glaubst Du?

Erleben wir die Renaissance des Baders? Oder nur eine spätrömische Dekadenz aus einem nie da gewesenen europäischen Massenwohlstand heraus, wenn schon die Krankenkassen bereit sind, die Kosten für Globuli und Co zu übernehmen in der Annahme, der Glaube könne Berge versetzen?

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Ein guter Bekannter ist überzeugter Atheist. Und tatsächlich weiß er seine Ablehnung der theistischen Religion mit exzellenten Argumenten zu untermauern. Er versteht sich als eine Art Agnostiker und hat sich also damit abgefunden, dass sich das menschliche Wissen, Verstehen und Begreifen prinzipiell in engen Grenzen bewegt. Er liest regelmäßig eine Reihe wissenschaftlicher Publikationen und interessiert sich für Archäologie und Raumfahrt. So ungefähr sein Spektrum. Wenn er Fernsehen schaut, was selten passiert, dann lieber Dokumentationen als den abendfüllenden Hollywood-Blockbuster.

Nun ist dieser Mister Nüchternheit aber alles andere als eben das. Seine grundsätzliche Skepsis gegenüber endgültigen Antworten beschränkt sich nicht auf Religionen, er steht im Allgemeinen auch der Schulmedizin, etablierten Ernährungsempfehlungen und einem sich vielfach bewährtem Gesundheitssystem äußerst skeptisch gegenüber und wendet sich mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit alternativen Angeboten und Heilmethoden zu.

So hat er neulich – ich kann es hier nur so wiedergeben, wie beobachtet und verstanden – für einige tausend Euro eine merkwürdige Apparatur unter seiner Küchenspüle und eine weitere im Badezimmer installiert, die aus einer komplizierten Halterung und einer Reihe von Glaszylindern zu bestehen scheint, die mit reinem Quellwasser gefüllt sein sollen. Ohne mit der Wimper zu zucken erklärte mir der gute Bekannte, das so sein Leitungswasser quasi geimpft werden würde, weil das Quellwasser (in den Zylindern!) mit dem Wasser im Hahn beim Durchlaufen ständig Informationen austauschen würde und das Leitungswasser so bereichert werden würde.

Außerdem schneidet er sein Gemüse in der Küche auf einem speziellen Brett mit merkwürdigen Intarsien, das dank dieser Einlegarbeiten irgendetwas Positives an die verarbeitete Nahrung abgeben würde. Ich erinnere mich, als es noch Röhrenmonitore gab, steckte er mir schon damals einen kleinen gefalteten Zettel zu, den ich unter den Monitor legen solle, weil dieser die Strahlung reduzieren könnte. Auf dem Zettel waren eine Reihe merkwürdiger Zeichen aufgemalt mit Bleistift, sonst nichts. Kein Witz: Im Sommer malt er sich diese Zeichen mit dem Finger auf Mückenstiche, die dann angeblich nicht mehr jucken würden und quasi täglich übermalt er die Strichcodes seiner Einkäufe, als ginge es darum, den Fluch einer bösen Zigeunerin ungeschehen zu machen.

Im Badezimmer des Freundes wurde ebenfalls viel Geld investiert. Aber nicht in ein Whirlpool oder ähnliches, sondern in Regalmeter voller Gläschen für Alternativmedizin. Globuli, Schüsslersalze und Bachblüten reihen sich da aneinander und die Hände wäscht sich mein Freund schon lange nicht mehr mit Seife, sondern mit einem Edelstahlstück in Form einer Seife, weil diese Methode eine ebenso gute Reinigungsfunktion hätte.

Für mich aber die absolute Krönung dieser und weiterer Merkwürdigkeiten allerdings die Angewohntheit, teueres Bio-Gemüse zu kaufen, es zu kochen, dann aber das Gemüse wegzuschmeißen um lediglich das „so überaus wertvolle“ Kochwasser zu trinken. Hat er das aus einem seiner „Natur & Heilen“-Hefte (Slogan: „Die Seiten für ganzheitliche Gesundheit“), die sich im Flur stapeln vom Boden bis fast hinauf zur Garderobe?

Der Atheist, der Skeptiker, der Vernunftsmensch, der Humanist, der Logiker, der nüchterne Nachbar ist also durchaus nicht so nüchtern, wie es in vielen unterhaltenden wie lehrreichen Diskussionen über christliche Religion und das Leben an und für sich den Anschein macht.

Daraus ergibt sich also die Frage: Muss der Mensch an irgendetwas glauben? Kann er gar nicht anders? Ist er gar verdammt, ewig zu glauben? Sind diese spaßigen wie sündhaft teuren Quellwasserimpfungen unter der Spüle eine Altar, eine Art Religionsersatz, wenn diese Anschaffung sogar damit verteidigt wird, es gäbe Nachweise, dass solche Zylinder in einem umgekippten See versenkt, das Wasser auch hier wieder normalisiert haben, während standhaft und mit Händen und Füßen verneint wird, das Jesus mit letzteren über das Wasser laufen konnte?

Im vergangenen Jahr gab es auf ARD eine Themensendung mit dem Titel „Woran glaubst Du?“ Hier also bereits im Vorfeld die Annahme, dass jeder an irgendetwas glaubt. Die ARD Online-Redakteurin Carolin Albrand schrieb damals: „Der Schlüssel zum „Glauben“ liegt in der Evolution des menschlichen Bewusstseins. Im Kern aller Religionen steht der Wunsch nach Struktur.“ Und erst wenn Menschen sich ihrer Sterblichkeit bewusst würden, käme der Wunsch auf, „diesen beängstigenden Zustand (zumindest zeitweise) aufzuheben.“ Und offensichtlich geht das genauso gut, wenn man an einen fast zweitausend Jahre alten Messias glaubt, wie, wenn man an den Geist in der Flasche glaubt, der das Trinkwasser mit göttlicher Kraft auflädt, um so dem unweigerlich noch jeden ereilenden Tod zumindest noch ein paar Jährchen abzutrotzen.

Nun ist der westliche Mensch durchaus nicht per se zum Jünger des heiligen Globulus geworden, denn noch hat der christliche Glaube ein festes Fundament in vielen europäischen Völkern, aber immer öfter folgt auf das Stoßgebet zu Jesus eben stellvertretend für eine Reihe von Merkwürdigkeiten die Einnahme der kleinen Kügelchen, im festen Glauben, sie würden heilen ohne das es dafür auch nur den klitzekleinsten wissenschaftlichen Beleg gäbe.

Solche irrationalen Verhaltensweisen haben schon die mittelalterlichen Bader ausgenutzt, von denen einer so wunderbar beschrieben ist in Noah Gordons „Der Medicus“, als sie ihre Tinkturen aus Schlamm, Pfützenwasser und Froschblut an die Mittelaltermenschen gebracht haben, die fest zu glauben bereit waren, was ihnen kurz zuvor an Heilungsergebnissen vorgegaukelt wurde.

Ist also, was wir aktuell erleben die Renaissance des Baders? Oder doch nur eine spätrömische Dekadenz aus einem nie da gewesenen europäischen Massenwohlstand heraus, wenn schon die Krankenkassen bereit sind, die Kosten für Globuli und Co zu übernehmen in der Annahme, der Glaube könne Berge versetzen? Beispielsweise die AOK schreibt dazu in einer recht merkwürdigen Herleitung der Kostenübernahme:

„Homöopathie zählt zu den alternativen Behandlungsmethoden. Bis heute liegen keine eindeutigen Wirksamkeitsnachweise vor. Es gibt jedoch Ärzte und Patienten, die von der über 200 Jahre alten Heilkunst überzeugt sind und diese als Alternative zur klassischen Schulmedizin akzeptieren. Die AOK PLUS übernimmt hierfür einen Teil der Kosten.“

Und obwohl also die Kasse betont, dass es keine Wirksamkeitsnachweise gibt, werden Kostenübernahmen an Bedingungen geknüpft, wenn nur Vertragsärzte bezahlt werden, die „über eine Homöopathie-Zusatzqualifikation“ verfügen.

Nun wird niemand behaupten wollen, dass die Quellwasserimpfungen meines Freundes irgendjemandem Schaden zu fügen würden. Im Gegenteil: Hersteller und Vertreiber solcher Hokuspokus-Amaturen werden sich nach Verkauf sicher manch gutes Quellwasser aus der Flasche leisten können, was wiederum den Qullwasserabfüllern zu Gute kommt. So gesehen wird aus einer ziemlichen Spinnerei ein ganz realer und ausrechenbarer Mehrwert, was uns nun zuletzt wiederum zu der Frage führen könnte, ob es denn auch Marktwirtschaftsgläubige gibt.

Und tatsächlich kann man sagen, dass die moderne Marktwirtschaft sogar elementar auf Glaubenssätzen beruht, wenn die Weltwirtschaft nach wie vor für ihre Protagonisten ein Brief mit sieben Siegeln ist, dann, wenn auch hier komplizierte Algorithmen wie Ikonen der Moderne verehrt werden, wenn auch hier der Schlüssel zum „Glauben“ in der Evolution des menschlichen Bewusstseins liegt. Wer’s glaubt!