Tichys Einblick
"Aktion #lichtfenster"

Im Gegen das Vergessen hat Steinmeier sehr Wichtiges vergessen

Der Bundespräsident erklärt seine Kerzen-Aktion so: „Wir zeigen unser Mitgefühl mit denen, die einsam sterben und denen, die um sie trauern. Wir trauern mit ihnen und wollen zeigen, wir stehen zusammen - gerade in diesen dunklen Zeiten. Dafür steht das Licht, das uns den Weg in hellere Tage weist."

picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Menschen sterben, vorwiegend alte, großteils in Altenheimen und auf Intensivstationen. Einige von ihnen ganz alleine und ohne die Nähe von Verwandten, die sie auf diesem letzten Weg begleiten könnten. Zu groß sei die Gefahr einer weiteren Verbreitung des Corona-Virus sagen jene, welche diese Isolation der Sterbenden veranlassen. Dennoch ist die sogenannte Übersterblichkeit noch nicht so ausgeprägt, dass man anhand einer bestimmten Zahl von Toten von einer pandemischen Katastrophe sprechen muss. Mag sein, dass dieser  Umstand auch den Corona-Maßnahmen der Regierung zu verdanken ist, die Notwendigkeit dafür werden spätere Generationen aufarbeiten, die mit den Folgen zu leben haben. Oder hat sie die Lage insgesamt unerträglich verschlimmert? Die Isolation erst herausgefordert, die Kranken und Alten in den Heimen nicht hinreichend geschützt?

Erinnern wir uns: 2018 starben in Deutschland fast eine viertelmillion Menschen an Krebs. Insgesamt sterben Jahr für Jahr anähernd eine Millionen Deutsche. Die, die friedlich einschlafen, könnten mitunter auch einem Krebsleiden erlegen sein, wer weiß das schon – das Alter ist oft begleitet von Zerfall und Siechtum, glücklich, wer ohne große Schmerzen zu seinem Schöpfer gehen kann oder was er für sich danach erwartet, so er ein Danach denken mag.

Die Autorin Anna Schughart schrieb im August 2020 für das Redaktionsnetzwerk Deutschland eine berührende Geschichte über Trauer. Über ihre Mutter, die ihr immer noch regelmäßig die Traueranzeigen fotografiert und per WhatsApp schickt, machmal weiß sie sogar die Todesursache einer Bekannten und fügt auch diese dazu.
Schughart schreibt: „Es ist fast unmöglich, niemanden zu kennen, der an Krebs gestorben ist. Aber es ist sehr gut möglich, niemanden zu kennen, der an oder mit einer Corona-Infektion gestorben ist.“

Als Spanien samt jungem Königspaar einen Staatsakt für die Coronatoten ansetzte, ging es Tage später auch um die Ausgleichszahlungen aus Brüssel, erinnert Schughart irritiert und kommt zum Schluß, das Trauer wohl nicht staatlich verordnet werden kann, „wie lange und wie intensiv jemand trauert, das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab“.

Aber kommen wir zum eigentlich Anlass dieses kurzen Nachdenkens, kommen wir zu einem weiteren hastigen Aktionismus des Bundespräsidenten, der zunächst so harmlos – fast betulich – erscheint und doch so geschichtsvergessen ist und so politisch daherkommt. Frank-Walter Steinmeier startete die Aktion „Lichtfenster.“ Sein Team hatte die Idee entwickelt – bzw. fordert Steinmeier die Deutschen dazu auf – „bei Aufbruch der Dunkelheit“, wie es n-tv formuliert, „eine Kerze ins Fenster zu stellen“. Für den gläubigen Lutheraner Steinmeier ist diese Kerze „ein Licht der Trauer, der Anteilnahme, des Mitgefühls“.

Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte gerade noch und mitten in den Wahlkampf um den Posten des CDU-Vorsitzenden hinein um Verzeihung gebeten, dass die Politik während der Corona-Maßnahmen die Menschen alleine sterben lassen müsse: „Das ist ein Schaden, den wir nicht wiedergutmachen können. Irreparabel. Nicht korrigierbar.“ Ist Laschet ein später Querdenker? Natürlich nicht, er ist allenfalls ein Wirrdenker, wo solche von einem Pathos vollkommen überfrachteten Aussagen schon vom Inhalt her unverständlich sind, wo Schuld und Sühne in dieser politischen Verzeihung so durcheinander geraten, dass sie nicht mehr zuzuordnen sind.

Der Bundespräsident erklärt seine Kerzen-Aktion „Lichtfenster“ so: „Wir zeigen unser Mitgefühl mit denen, die einsam sterben und denen, die um sie trauern. Wir trauern mit ihnen und wollen zeigen, wir stehen zusammen – gerade in diesen dunklen Zeiten. Dafür steht das Licht, das uns den Weg in hellere Tage weist.“

Steinmeier stellt eine Kerze in das Fenster über dem Eingangsportal von Schloss Bellevue. Bieder in der Inszenierung, aber dann doch wieder auf ganz andere Weise erhellend ist diese perfekt künstlich ausgeleuchtete Fotografie, auf der Steinmeier eigenhändig eine dicke weiße Stumpenkerze im Fenster der oberen Stockwerke seines Schlosses entzündet und just der Moment geknipst wurde, wo sich die Lippen des Präsidenten vor dem noch brennenden Streichholz spitzen. Sicher hätte ein bic-Feuerzeug mit SPD-Aufdruck als Resteessen vom letzten Wahlkampf zuverlässigere Dienste geleistet, aber weniger atmosphärisch und zeitlos ausgesehen. Die Kerze soll da jetzt stehen bleiben und jeden Abend sichtbar für jeden brennen im dunklen Berliner Winter. Zunächst bis Ende Januar.

Ein großer Staatsakt soll auch noch folgen. Aber erst um Ostern, so Steinmeier, „wenn die dunkelste Zeit überstanden ist“. Um Himmelswillen, geht es angesichts der jüngeren deutschen Geschichte vielleicht noch etwas unbescheidener? Was für ein Trauerspiel eigentlich, wie eine so theatralisch hochgepimpte – eigentlich schöne Geste – für die zu beweinenden Toten der Pandemie so missbräuchlich verunglücken kann.

Bundespräsident Steinmeier zündet seiner Ignoranz eine Kerze an. Wie geschichtsvergessen kann ein Deutscher Bundespräsident eigentlich noch agieren? Lassen Sie mich dafür bitte kurz erklärend in der eigenen Familiengeschichte zurückschauen, die so oder so ähnlich vielleicht auch in Ihren Familie erinnert wird:

Meine Großmutter Louise hatte ihre drei überlebenden Kinder durch die Wirren von Krieg und Vetreibung gebracht, die Wunden waren groß, mussten zudem noch im Verborgenen behandelt werden. Die schlesische Heimat verloren, viele hunderttausende Deutsche waren bei diesen Flucht- und Vertreibungsbewegungen auf der Strecke geblieben, insgesamt sind es Millionen. Säuglinge erfroren oder verhungert am Wegesrand abgelegt, Frauen vergewaltigt, manche anschließend noch erschlagen oder an den physischen wie psychischen Verletzungen zugrunde gegangen, Trecks voller Alter, Frauen und Kinder, noch von Tieffliegern mit der übriggebliebenen Frontmunition zusammengeschossen, Krankheiten, Todesangst, Verzweiflung und dann doch ein letzter kleiner schimmer Hoffnung im Wortsinne.

Meine Großmutter hat, gemeinsam mit meiner Tante, den Onkel und meine damals achtjährige Mutter sicher in den Westen gebracht. Aber der Schmerz war nur verschüttet, nicht vergessen – einmal kam ein tschechischer Chor zum Altenkreis der kleinen Kirche, es war eines der wenigen Male, wo die Großmutter dem Kreis der alten Frauen ganz fern blieb. Es war wohl die Furcht schon vor dem Klang der Sprache der Peiniger und was diese Worte an Verschüttetem freizuschaufeln in der Lage sein könnte. Aber auch diese Verweigerung blieb eine stille, welche die Großmutter mit sich selbst ausmachte, so wie sie vieles für sich angenommen hatte, weil sie es ja doch nicht ändern konnte.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt bald nach Kriegsende ging die Großmutter in der Stunde der Dämmerung ans Ostfenster ihres kleinen Fachwerkhauses, das sie von der Mutter geerbt hatte – sie war ihrem Ehemann nach Schlesien gefolgt und hatte ihm dort sechs Kinder geboren, von denen drei verstarben – sie ging also ans Ostfenster des Harzer Hauses und stellt eine brennende Kerze auf. Mitunter machte sie noch eine Spaziergang die Straße herunter, um zu schauen, ob denn die Nachbarn ihre auch schon angezündet hatten. Oder genauer: wer da noch war, die Trauer mit ihr zu teilen, ohne dass man deshalb ins Gespräch hätte kommen müssen. Man wusste voneinander und man ahnte auch, dass schon mal einer schaut, ob nebenan auch eine Kerze brennt.

Diese symbolische Hinwendung nach Osten wurde ab 1961 sogar offensiv vom Kuratorium Unteilbares Deutschland beworben und gepflegt. Die Trennung der Deutschen wurde mit dem Bau der Mauer noch einmal schmerzlicher bewusst und das Kuratorium erinnerte die Deutschen insbesondere Weihnachten 1961 mit Plakaten an diese einfache Geste mit der Überschrift „Wir bleiben zusammen“. So sendeten Millionen einen stillen Gruß für die „Brüder und Schwestern“ im anderen Teil Deutschlands. Diese bescheidene Form ritualisierter Trauer wurde aber schon vor dem Bau der Mauer längst von vielen Familien gepflegt.

Wer mochte, stellte ein bedruckte Kerze ins Fenster. „Wir denken an Dich“, stand in sorgfältiger Schrift geschrieben. Und der wehmütige Gruß ging an den unbekannten Deutschen in der Ostzone oder erinnerte an die Verschollenen, die Verlorenen, die Ermordeten und an jene, die ihre Identität aufgeben mussten, um auf dem alten Heimatboden in den Ostgebieten noch ein paar Jahre verbleiben zu können. Die Kerze leuchtete bei meiner Großmutter, aber immer auch für die verlorenen Gräber. Dort, wo sie ihre nur ein paar Tage alt gewordenen Zwillinge, wo sie die beiden leichtgewichtigen Jungs der dunklen schlesischen Erde übergab. Und auch die Einjährige in ihrem geliebten rosa Rüschenkleidchen lag da unten, die nach einer Lungenentzündung nicht mehr auf die Beine kam. Die Gräber blieben ja, konnten nicht in die neue Heimat mitgenommen werden. Ihnen allen galt die Kerze der Großmutter. Jene Toten, deren damals gedacht wurde, waren Opfer einer mörderischen Politik. Nein, es soll nicht aufgerechnet werden, wer da mehr Schuld auf sich geladen hat. Knüpft Steinmeier daran an? Sind die Toten des Corona-Jahres auch die Opfer einer falschen Politik? Das wird er weit von sich weisen, mit Argumenten selbstverständlich. Es ist ein kühl kalkulierter politischer Event, den er da inszeniert – und seine eigene Unfähigkeit, Geschichte zu verstehen, demonstriert.

Die Millionen Toten sind aber über die Zeit hinweg nicht weniger tot, die Gräber im Osten nicht weniger geworden, sie werden immer bleiben, auch wenn sie längst vergessen und planiert wurden. Manchmal allerdings könnte eine einsame Kerze oder gar nur ein Wachsrest in einem Ostfenster eines alten Fachwerkhauses an die oft in aller Hektik Verscharrten erinnern – aber nur dann, wenn der Bundespräsident sich in seiner Vergesslichkeit nicht noch darum bemühen würde, noch den letzten Rest Wachs mit manikürtem Fingernagel vom Fensterbrett meiner Großmutter zu kratzen.

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