Tichys Einblick
Die andere Adventsgeschichte

Eine Begegnung in der Vorweihnachtszeit

Bleiben Sie bitte wie gewohnt maximal kritisch gegenüber einer ideologischen rotgrünen Bewegung, die den Begriff und die Bedeutung Nation und die Bevölkerung immer offener verachten. Aber bleiben sie bitte genauso herzlich und offen gegenüber dem individuellen Einzelschicksal, wie es in unser Lebensart so fest verankert ist.

imago Images/Sven Simon

Geht Ihnen das auch so? Bestimmte Ereignisse an Feier- oder beispielsweise Geburtstagen bekommen noch einmal mehr eine Bedeutung, wo sie im Alltag vielleicht untergegangen wären. Zum einen mag das daran liegen, dass man an Feiertagen einfach mehr Zeit hat, darüber nachzudenken, andererseits sind diese glitzernden Eckpunkte des Jahres die besseren Erinnerungsmagnete.

An einem Samstag im Advent fuhren wir aus der Stadt kommend an einem dieser typischen Gemischtwarenläden vorbei, die immer so aussehen, als wären sie direkt und mit allem drum und dran aus einer türkischen Stadt zu uns verbracht und hier wiederaufgebaut worden. Diese Läden dehnen sich üblicherweise durch ihr terrassenförmig in blauen und grünen Klappkisten aufgebautes Gemüseangebot weit auf den Gehsteig hinaus. Unter diesen Gemüsekaskaden stapeln sich zudem meistens diese typischen blauen Großtüten neben einer Reihe von Handfegern, Kehrblechen und sonstigem Haushaltskram, wenn man gewillt ist, auch hier genauer hinzuschauen.

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Wer nur an so eine Gemüseauslage herantritt und glaubt, es geht hier zu wie im Supermarkt mit Selbstbedienung, dem streckt sich aus der Tür schon nach Sekunden eine freundlich lächelnde wie dienstbeflissene Dame meist mit Kopftuch entgegen, die fragt, ob sie denn helfen könne. Und die dann tatsächlich eine Expertin in Sachen Obst und Gemüse ist, so, wie große Ketten sie für sich gerne in ihren Fernsehspots für ihre Läden reklamieren.

Am Samstag fuhren wir also heim und in einem unserem Vorstadtvierel vorgelagerten Mischgebiet an einem arabisch anmutenden Laden vorbei, wo vorher gerade noch ein Geschäft für Fitnessdrinks und -pulver ansässig gewesen war, wie die schon fast erwachsenen Kinder von der Rückbank sprechend versicherten, einfach, weil sie diese Nahrungsergänzungsmittel selbst einnehmen, aber im Internet bestellen, weil dort viel billiger. Neugierig macht ein Schild, das einmal quer über dem leuchtenden „Supermarket“-Hinweis angebracht ist und darauf hinweist, dass der Laden jeden Tag bis 22 Uhr geöffnet hat und sogar am Sonntag für ein paar Stunden.

Zuhause angekommen beschließen wir spontan, das Geschäft am Abend noch einmal anzuschauen, dort ein paar Sachen einzukaufen, solche Sachen, welche die Kinder längst schon gewohnheitsmäßig aus der Stadt aus solchen Läden mitbringen wie Sonnenblumenkerne, arabisches Fladenbrot, Uludaq-Gazoz-Brause oder dieses seltsame Kaugummi ohne Geschmack. Auch gehen die Jungs beinahe alle vier Wochen zum arabischen Friseur, sie nennen ihn Baba-Friseur und der macht Haarschnitte, die aussehen, wie aus den 1930er Jahren in Deutschland oder von der deutschen Fußballnationalmannschaft von 2014.

„Kann man auch mit Karte bezahlen?“, rufe ich in den Raum hinein, während meine Frau schon einen der fahrbaren roten Plastikkorb-Einkaufswagen mit den schwarzen Rollen greift, die merkwürdig zu groß aussehen für den doch sehr überschaubaren Laden. Zwischen zwei der fünf zur Tür ausgerichteten Regalen schießt eine kleine junge Frau hervor mit Mundschutz und pechschwarzen Haaren und antwortet fröhlich: „Selbstverständlich!“

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Meine Frau lädt also in den kleinen Ziehkorb hinein, was man sonst beim Edeka um die Ecke nicht bekommt, jedenfalls nicht zu diesen unschlagbaren Preisen von irgendeiner Sesampaste im Pfundbecher, einem Dattelmus in einem Plastikspender, wie man ihn von Honig oder Ahornsirup kennt, weil beinahe tropffrei bis hin zu Plastikeimern voller schwarzer verschrumpelter Oliven, Schafskäse in runden Blechdosen in Lake, der eigentlich aus Kuhmilch hergestellt ist, und mörderisch scharfe frische Chili im 12er Pack, die sich später zu Hause allerdings als so wenig scharf herausstellen werden wie die handelsüblichen Tri-Color-Paprika-Gebinde vom Edeka.

Aber Sie kennen das sicher selbst, diese Läden gibt es schon an jeder Ecke. Sie ersetzten seit den 1970er Jahren die oft aus Altersgründen verschwundenen kleinen deutschen Krämerläden, solche, die keine Nachfolger gefunden haben aus den eigenen Reihen, weil die schulisch besser ausgebildeten Kinder der Krämer lukrativere Berufe gelernt haben. Auf gewisse Weise also eine gückliche Fügung, denn die neu eröffnenden Läden mit der anatolischen Anmutung und ihrem orientalischen Warenangebot waren zunächst Anlaufstelle für Menschen mit Heimweh. Heute, fast fünfzig Jahre später, wird hier fast durchweg deutsch gesprochen, Und zwar überwiegend auch von der Kundschaft, jedenfalls hier in diesem charmanten zwar, aber in vielen Belangen oft provinziellem Braunschweig.

Während meine Frau noch ganz systematisch die Regale durchkämmt und den Ziehwagen weiter befüllt, schaue ich mir interessiert die Auslage des von innen gleißend hell beleuchteten Kühltresens an, hinter dem die junge Frau und ein noch jüngerer Mann stehen und lächeln – ja, man erkennt es noch durch den Mundschutz. Diese Berge an Fleisch hinter Glas vor mir haben etwas archaisches. Anziehend und abstoßend zugleich. Und ich weiß auch warum: Was beim Edeka in eckigen Metallschüsseln daherkommt, lagert hier in runden Plastikschüsseln, wie sie meine Mutter heute noch auf dem Schoß balanciert, wenn sie Gemüse verarbeitet, Kartoffeln schält oder Bohnen schnippelt, was die Mutter meiner Mutter wiederum noch in Emailschüsseln erledigte.

„Kilo 11,99 Euro“ steht da in schwarzem Edding auf etwas angeranzter rosa Pappe. „Ist das Lammkotelett?“, frage ich. Die junge Frau packt mir eines davon ein, zieht es noch einmal extra durch eine ölige Würzlache am Boden der Schüssel, ihre Augen lächeln mich dabei kurz hochblickend an, als wäre das eine besondere Ehre, und fröhlich nehme ich gleich von nebenan aus einer wirklich mit Lake randvollen viereckigen Plastikschüssel ein Stück Schafskäse, aber dieses Mal wirklich vom Schaf, wie mir versichert wird. Zuhause wird er später wunderbar schmecken, fast so, als wäre er aus reiner Schafssahne gewonnen. Gibt es so etwas? Einen Schafskäse, der schon in der Herstellung luxuriöser angesetzt wird, als der normale Schafskäse? Eine Art Adventsschafkäse?

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Der Laden ist so spät am Abend leer. Nur meine Frau und ich kaufen ein, also nutze ich die Gelegenheit. Nein, nicht zum stibitzen, keine Sorge. Ich beginne ein Gespräch mit der kleinen fröhlichen Frau. „Nein, ich komme nicht aus der Türkei, wir sind aus Syrien.“ Während der fahrbare Korb zwischen den Regalen also immer voller wird, erfahre ich über den Lammkotelettsahneschafskäsekühltresen hinweg etwas über eine Familie aus Syrien, die ich Ihnen hier kurz zusammenfasse:

Die junge Frau kam als 15-Jährige 2015 aus Syrien über die Türkei nach Deutschland, erzählt sie. Sie reiste ohne ihre Familie, wurde von den Eltern auf den Weg geschickt, als die Lage immer gefährlicher wurde. In unserem Stadtteil gibt es eine Realschule, die sie besuchte, nachdem sie eine sechsmonatige Ganztagssprachausbildung in einer städtischen Institution durchlaufen hatte. Die junge Frau schaffte den Abschluss, ihre Familie kam nach im Rahmen des Familiennachzugs, Vater, Mutter und Bruder. Die Schwester, so erzählt sie, lebe weiterhin in Syrien, sie sei dort verheiratet. Und sie erzählt uns das in einem fast perfektem Deutsch, allerdings in einer wirklich maschinengewehrartigen Geschwindigkeit, sehr ungewöhnlich für jemanden, der nicht in der Sprache spricht, mit der er aufgewachsen ist, da geht es zunächst eher etwas bedächtiger und langsamer nach Worten suchend und tastend voran.

Später erzählt sie noch, dass sie schon in Syrien in einer bestimmten Schule drei Sprachen lernen musste, weil sie syrische Kurdin sei und von Haus aus gar kein Arabisch spräche. Also eine kurdische Familie. Und ich denke gleich an die Schicksale kurdischer Kämpferinnen, die für den Westen in den Kampf gegen den IS gezogen sind, dafür nicht belohnt wurden und auch in eigener Sache für diesen ewigen Kampf um ein unabhängiges Kurdistan kaum vorangekommen sind. Was für ein Weltdrama.

„Sie können sehr stolz auf sich sein, was Sie hier für sich und für Ihre Familie geschafft haben.“, habe ich das Bedürfnis zu sagen. Und ich wage mich etwas aus der Deckung: „Aber sagen Sie mal, es gibt hier mittlerweile viele junge Männer auch aus Syrien, die nicht in der gleichen Absicht gekommen sind, oder?“ Man braucht kein besonders geschultes Auge um das große Bedauern darüber in den glänzenden Augen zu erkennen, als sie mir dies unumwoben bestätigt. Und dann ist es mir fast peinlich, dass ich diese Seite der syrischen Zuwanderung nach Deutschland überhaupt angesprochen habe. Angesprochen wohl auch, weil es meine Frau zwischen den Regalen nicht hören konnte, die mir sonst sicher gleich den Ellenbogen in die Seite oder auf den Fuß getreten hätte.

Ihr jüngerer Bruder, ich schätze ihn etwa auf 15 oder 16 Jahre, schaut derweil abwechselnd zu mir, zu seiner Schwester, wieder zurück, dem Gespräch folgend. Ist er stolz oder auch schon ein bisschen neidisch auf seine so aufgeschlossene wie erfolgreiche Schwester?

„Nein, auch in Syrien trägt nicht jede Frau Kopftuch“, antwortet sie mir, als ich wissen will, ob das Weglassen der Haarbedeckung eine kurdisches Ding wäre. Das hinge oft einfach von den Familien ab, sagt sie weiter.

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Es ist Samstagabend in der Adventszeit. Wir zahlen mit Karte. Die kleine fröhliche kurdische Syrerin scannt die Waren, ihr stiller Bruder tütet sie uns ein. Das alles passiert auf einem ausrangierten Laufband mit Kasse, das lustigerweise mit dem Band zur Ladenbesitzerin aufgebaut ist. Also dadurch in seiner Funktion eigentlich sinnlos geworden ist. Die engen Räumlichkeiten ließen eine umgekehrte Aufstellung nicht zu, erklärt die junge Frau dazu, als sie aufmerksam meinen Blick verfolgt. Wir lachen alle vier gemeinsam herzlich darüber.

Sicher, eine unbedeutende zwar, aber eine schöne wie überraschende Adventsgeschichte. Wie eingangs erwähnt mag dieser alltägliche Moment zur Weihnachtszeit in einem anderen Fokus stehen, als an anderen Tagen. Für mich persönlich ist das aber auch eine Erinnerung daran, wie wichtig es bleibt, das Einzelschicksal immer über die vermeintlich oder wirklich berechtigte politische Forderung zu stellen.

Ecce homo – mir gegenüber steht ein Mensch. Er hat etwas zu erzählen, er hat etwas erlebt. Was er erlebt hat, rührt an. Und eben in dieser Anrührung, im Mitgefühl, in der einfachen wie zugeneigten Kommunikation vor einem Lammkotlettkühltresen liegt vielleicht im Kern schon alles verborgen, das unsere westliche Kultur mit all seinen Werten ausmacht.

Bleiben Sie bitte wie gewohnt maximal kritisch gegenüber einer ideologischen rotgrünen Bewegung, die den Begriff und die Bedeutung Nation und die Bevölkerung immer offener verachten. Aber bleiben sie bitte genauso herzlich und offen gegenüber dem individuellen Einzelschicksal, wie es in unser Lebensart so fest verankert ist.

Wir zahlen am Ende 67,85 Euro. Viel Geld, aber auch sehr viele Waren, die wir sonst nicht alltäglich kaufen, die wir neugierig probieren wollen. Wir werden bestimmt wieder hingehen. Auch weil wir das Gefühl haben, dass es genau das Richtige ist, diese tapfere Frau zu unterstützen.

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