Tichys Einblick
„Das übliche Argumentieren hilft da nicht"

Angela Merkel bringt Psychologen gegen Kritiker in Stellung

Der Titel des vom ZDF aufgezeichneten Formates mag für manche Zuschauer bereits Grund genug sein, nicht hinzuschauen und hinzuhören. Die neueste Ausgabe dieser Hofberichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen allerdings hat es in sich.

imago images / MiS

Vorab ein O-Ton von „Die Bundeskanzlerin im Gespräch“, so nämlich heißt das Format des ZDF, wozu als Trailer eingespielt wird: „Merkel: Verschwörungserzählungen sind Angriff auf unsere Gesellschaft.“ Also Merkel wörtlich: „Das übliche Argumentieren hilft da nicht. Und das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein oder für … also wir werden da noch sehr viel erforschen müssen: Wie verabschiedet man sich eigentlich aus der Welt der Fakten und gerät in eine Welt, die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können? Es gibt ja dann eine richtige Diskussionsverweigerung: Man arbeitet nicht auf einer Ebene. Sie aus dieser Welt wieder in eine Welt zu holen, wo wir uns gegenseitig zuhören können, das wird sehr, sehr schwer sein, und da muss man auch noch mal verstehen, was soziale Medien zum Teil machen, was diese Räume machen, in denen man eigentlich nur sich bestätigt fühlt und hinreichend viele Leute hat, die einen unterstützen, die aber gar keine Verbindung mehr zu anderen Räumen haben. Ich habe darauf die perfekte Antwort nicht, aber das beschäftigt uns in der Politik auch sehr.“

Zwischendurch der Einspieler im ZDF-Trailer zur Sendung: „Merkel spricht vor allem über die „Querdenken“-Bewegung, die die Gefahr durch Corona leugnet und gegen die staatlichen Maßnahmen hetzt.“

Was da zu hören ist von der Bundeskanzlerin, muss wohl als eine Zäsur verstanden werden. Hier handelt es sich offensichtlich um nicht weniger als die Pathologisierung des Diskurses: Wer eine andere Meinung vertritt, kann nur irre sein, behandlungsbedürftig. Erschreckend daran auch der Vortrag von Angela Merkel, die da im freundlichen Kostüm der in sich hineinlächelnden älteren Dame weiten Teilen ihrer Kritiker einfach mal die Argumente abspricht („verabschiedet man sich eigentlich aus der Welt der Fakten“). Also vorweg eine lupenreine Gesprächsverweigerung, um dann in der zynischen Sprache totalitärer Regime mütterlich hinten anzuhängen, man wolle diese fehlgeleiteten, im Kopf gestörten Leute aber zurückholen. Also nachdem die von Merkel angeforderten Psychologen mal einen Blick drauf geworfen und ihre Therapien aufgeschrieben haben?

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Nicht vergessen darf man hier, dass diese pathologisierende Haltung der Kanzlerin und ihrer Entourage – herübergeweht aus einer düsteren Zeit – keineswegs erst mit den Corona-Kritikern Einzug gehalten hat in der etablierten Politik und den sie in der Etappe flankierenden Medien. Bereits die Kritiker der Massenzuwanderung wurden so spätestens ab 2015 ins Visier genommen. Später haben wenige hochrangige Medienvertreter auch eingeräumt, hier schwere Fehler begangen zu haben. Beispielsweise der Chefredakteur der Zeit und der damals Verantwortliche für die Tagesschau in der ARD.

Was ist das für eine entsetzliche Sprache, die hier von der Bundeskanzlerin verwendet wird und wieder Blaupause sein dürfte für ganze Bataillone von Journalisten? Es ist ja keineswegs so, dass Angela Merkel ihre Worte in den luftleeren Raum werfen würde. Merkel möchte ihre Kritiker von der aus ihrer Sicht falschen in die echte Welt zurückholen. Und das ist die Welt der Angela Merkel.

Nun war Deutschland ja bislang eine pluralistische Gesellschaft. Wenn Selbstverständliches aufgegeben wird, hilft die Definition in der einfachsten Form, etwa bei der sonst nicht sehr soliden Online-Enzyklopädie Wikipedia: Danach beschreibt Pluralismus „den Umstand, dass in einer politischen Gemeinschaft eine Vielzahl freier Individuen und eine Vielfalt von gesellschaftlichen Kräften respektiert werden, die in einem Wettbewerb untereinander stehen. Die Vielfalt zeigt sich in konkurrierenden Verbänden und in Meinungen, Ideen, Werten und Weltanschauungen Einzelner. Pluralismus als normative politische Idee bedeutet, dass dieser Wettbewerb unterschiedlicher und entgegengesetzter Interessen als legitim betrachtet und als wünschenswert anerkannt wird. Keine gesellschaftliche Gruppe darf in der Lage sein, anderen ihre Überzeugung aufzuzwingen. Das würde die prinzipielle Offenheit pluralistischer Gemeinschaften gefährden.  … Minderheiten stehen unter Schutz und abweichende Meinungen haben einen legitimen Platz in einer pluralistischen Gesellschaft.“

Bei Merkel allerdings sind abweichende Meinungen und Sichtweisen behandlungsbedürftige Krankheiten oder Abartigkeiten? Reproduziert sie das, was sie in ihrer Jugend gelernt hat – nämlich die prinzipielle Überlegenheit des Wissens, wie es in der Staats- und Parteiführung vorherrscht; ein Wissensvorsprung, der autoritäre Politik legitimiert?

Tatsächlich erleben wir einen neuen autoritären Ansatz unter der scheinheiligen Überschrift „Follow the Science“. In der Klimadebatte wird angebliche „Wissenschaftlichkeit“ bereits als Argument benutzt, das keinen Widerspruch duldet. Dass Wissenschaftlichkeit die Lehre vom ständigen Zweifel ist, der sich selber immer wieder in Frage stellt und dadurch neue Erkenntnisse produziert – das wird vergessen. Wissenschaft – trivialisiert: „Fakten“ – werden als Totschlagargument gegen andere Einsichten und Ansichten benutzt. Wissenschaft wird zur Waffe.

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Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Die vor den Nazis aus Deutschland geflüchtete Hannah Arendt hat dies in ihrer grandiosen Analyse „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ formuliert: „Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda…benutzt totalitäre Propaganda die Wissenschaft, um Zukunft zu prophezeien“. Aus der Prophetie erwächst der Zwang, weil jeder, der sich dieser wissenschaftlichen Sichtweise nicht unterwerfen mag, nur bösartig oder abwegig sein kann. Die Dresdner Schriftstellerin Eva Rex hat Hannah Arendt für die aktuelle Debatte fruchtbar gemacht. So gebe es heute geradezu eine moderne Hörigkeit gegenüber der Wissenschaft („follow the science!“) und eine weitreichende Infantilisierung, so dass es gestattet sein müsse zu fragen, ob es einen „freundlichen“ Totalitarismus geben könnte, einen paradox anmutenden „Totalitarismus ohne Knechtschaft“, in dem die Menschen sich freiwillig entmündigen lassen. Rex schlägt den Bogen zur aktuellen Corona-Politik, die keinen anderen Weg mehr zulässt als den von der Bundeskanzlerin formulierten, der auch noch von ihren Ministerpräsidenten als Teil der regionalen Herrschaftsausübung pseudolegitimiert wird.

Für die Kanzlerin ist ihre Politik „alternativlos“, egal ob Euro-Rettung, Energiewende, Einwanderungspolitik. Tatsächlich ist Politik aber nie alternativlos und ihre Aufgabe besteht in der Demokratie gerade darin, Alternativen zu eröffnen. Es gibt eben keinen zwanghaften Verlauf der Geschichte – wie im Marxismus-Leninismus postuliert.

Rex: „Um uns zu schützen, werden Grundrechte außer Kraft gesetzt. Um Leben zu schützen, werden lebensfeindliche Maßnahmen durchgeführt. Maßnahmen wie jene, ausgerechnet alte Menschen zu isolieren, die nichts dringlicher brauchen, als in ihren letzten Lebensjahren Beistand, Fürsorge und Nähe von ihren Angehörigen zu erfahren.“

Hier geht es nicht darum, die Gefährlichkleit des Virus zu leugnen – sondern um die Offenheit für andere Sichtweisen und Verhaltensstrategien. Und derjenige, der dazu auffordert, soll ein Fall sein für medizinische Behandlung? Wer so etwas formuliert, der muss doch mindestens einen Teil seiner Sozialisation außerhalb von Demokratien nicht nur durchlaufen, sondern so tief verinnerlicht haben, dass er im Alter womöglich zunehmend dahin zurück findet. Es ist der Reload eines Kinderglaubens an die Alternativlosigkeit und die Allwissenheit autoritär elitärer Führungszirkel.

Die Bundeskanzlerin als Speerspitze der Verwerfungen ist die erste Baumeisterin des Grabens quer durch die Gesellschaft. Sie stellt sich jetzt in „ihren“ öffentlich-rechtlichen Medien auf, zeigt auf die gegenüberliegende Seite, behauptet auf einmal, dort die Grabenbauer zu sehen, und präsentiert ihre Lösungsvorschläge, wie diese Kritiker wieder zurück in den Machtbereich der Angela Merkel und ihrer Hausfrauen-Psychologie zu holen seien. Zynischer, nein, verstörender geht es nicht.

Das Ganze kommt nicht von ungefähr. Die Bundeskanzlerin ist eine Meisterin der propagandistischen Präsentation der allein selig machenden Wahrheit. Es ist falsch zu behaupten, wir würden in einer Demokratur oder Diktatur leben, aber liest man Hannah Ahrend, drängt sich der Verdacht auf, dass Versatzstücke der Ideologie totalitärer Systeme längst Einzug gehalten haben im Kanzleramt. War es vor einigen Jahren „Nudging“, also das gezielte, psychologisch gesteuerte „Schubsen“ von Menschen auf den selig machenden Weg der Kanzlerin, so werden ihre Forderungen jetzt noch direkter. Nein, die großen Diktaturen leben nicht ausschließlich von der Geheimpolizei, sie leben vor allen Dingen von ihren Ideologien, denen die Menschen nachlaufen (sollen).