Tichys Einblick
Ende des Krieges und des Terrors

8. Mai 1945: Tag der Befreiung – Tage des Schreckens

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung, auch wenn es damals nicht Viele so empfanden. Für nicht wenige Deutsche war es erst noch Schwerstarbeit, das persönliche Schicksal beiseite zu stellen, um nur so die Schicksale von Millionen zu begreifen.

Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Meine Urgroßmutter wurde 74 Jahre alt. Ihre Lebensdauer steckt zufällig jene Spanne ab, die zwischen dem Ende des zweiten Weltkrieges und dem 8. Mai 2019 liegt. Vor heute genau 74 Jahren wurde dieser Tag von den Siegermächten über Hitlerdeutschland als Zeitpunkt für die Einstellung aller Kampfhandlungen in Europa festgelegt. Steht der Tag seitdem in Deutschland gemeinhin für das „Kriegsende“, wird er im europäischen Ausland viel häufiger noch als „Tag der Befreiung“ gefeiert. Erst Mitte der 1980er Jahre und mit einer viel beachteten Rede des damaligen deutschen Präsidenten Richard von Weizäcker zum 8. Mai, wurde die Deutung des Tages als „Tag der Befreiung“ auch in Deutschland präsenter, wenn man nicht populärer sagen mag. Unumstritten ist die Deutung nicht.

Nun war dieser späte Frühlingstag des Jahres 1945 sicher auch für viele Deutsche eine Befreiung vom Hitlerregime. Aber als eine Woche zuvor der Selbstmord Hitlers bekannt wurde, soll es in den Familien auch Tränen der Verzweiflung gegeben haben. Wohl vor allem darüber, was nun kommen würde und wie die Rache der Sieger sich auf diese niedergerungenen Deutschen niederschlagen würde.

Mit den so frischen Erinnerungen an das von Deutschen zugefügte unermessliche Leid, befeuert noch von den Bildern der von den Russen befreiten KZ’s kam die Rache über all jene Deutschen, die es noch nicht in den Westen des Reiches geschafft hatten. Auch die Atombomben über Japan waren noch nicht gefallen, dieses mit Hitlerdeutschland verbündete Japan war also noch nicht bezwungen, als hunderttausende Deutsche auf der Flucht und in Folge der Vertreibungen ermordet wurden, verhungerten oder sonst wie elendig zu Grunde gingen und einfach am Straßenrand verscharrt wurden.

Als „Befreiung“ konnten diese Tage, Wochen und Monate des Horrors also ganz sicher nicht verstanden werden. Meine Großmutter saß mit meiner Mutter und ihren beiden Geschwistern in einer Lager-Unterbringung, rechts und links lagen auf Stroh ganze Familien, die die Schikanen der Tschechen, die die Prügel, die Vergewaltigungen durch nachts einfallende russische Soldaten, die die Scheinerschießungen nicht mehr hinnehmen wollten oder konnten und sich das Leben genommen hatten, als irgendwer das ersehnte Gift organisiert hatte.

Meine Großmutter trug dieses Gift ebenfalls bei sich, aber die strikte Weigerung meiner damals neun Jahre alten Mutter sorgte dafür, das unsere Familie damit nicht für immer ausgelöscht wurde. Nein, diesen 8. Mai 1945 als Befreiung zu begreifen, war für diese Deutschen ein langer schwieriger Lernprozess. Zudem endete für über eine Million deutsche Soldaten die Kriegsgefangenschaft in einem anonymen Grab in russischer Erde oder wo immer sie hinverschleppt wurden, um sich in KZ ähnlichen Verhältnissen zu Tode zu schuften oder einfach zu verhungern, zu erfrieren oder an tödlichen Mangelerkrankungen einzugehen.

Für die wenigen den Holocaust überlebenden europäischen Juden und für alle weiteren Überlebenden waren nun allerdings eine ganze Reihe von Tagen der Jahre 1944 und 1945 ihre Befreiung:

Am 23. Juli 1944 befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Majdanek und am 27. Januar 1945 Auschwitz. US Truppen befreiten am 11. April Buchenwald und Mittelbau-Dora ebenso wie Flossenbürg und am 29. April Dachau. Britische Truppen erreichten am 15. April Bergen-Belsen und eine Woche später wurde Sachsenhausen von sowjetischen und polnischen und Ravensbrück von sowjetischen Verbänden befreit.

Für meine Familie waren das keine Daten und keine Orte. Sie maßen ihre Zeit anders. Sie fühlten sich befreiter, umso näher sie dieser Stadt im Westen kamen, wo noch Verwandte wohnten und die weit genug entfernt war von der alten Heimat, von den Russen und Tschechen. Der 8. Mai war ihnen kein besonderer Tag. Eher noch der Tag ihrer Ankunft in diesem Dorf nahe Braunschweig, nahe einer Stadt, die wie viele andere Städte in diesem Deutschland, fast vollständig zerstört war.

Meiner Mutter erzählte einmal, dass sie selbst den 8. Mai als Tag der Befreiung erst begreifen konnte, als sie als junge Frau von Anne Frank hörte und das Tagebuch dieses Mädchens las, das kurz vor der Ankunft der Engländer in Bergen-Belsen in diesem Lager des Todes ermordet wurde bzw. an Mangel und Krankheit elendig zugrunde ging.

Eine der letzten Personen, die Anne Frank Anfang 1945 noch lebend sahen und darüber berichten konnten, beschrieb sie so: „Sie war da schon ein Skelett. Sie war in eine Decke eingehüllt. Sie konnte ihre eigenen Sachen nicht mehr anziehen, denn die waren voller Läuse.“ Anne Frank soll zuletzt auch Typhus gehabt haben, berichteten Überlebende.

Den 8. Mai als Tag der Befreiung zu verstehen, fällt vielen Deutschen heute weniger schwer. 1985 sprach Bundespräsident Richard von Weizäcker vor dem deutschen Bundestag Worte, die er verstanden haben wollte als eine Brücke auch für Deutsche, den 8. Mai als Tag ihrer Befreiung anzunehmen, als er sagte:

„Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“

Weizäcker wollte den 8. Mai für die Deutschen als „Tag der Erinnerung“ verstanden wissen: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“

Nun ist Erinnerung und Gedenken ein Unterschied. Meine Familie kann sich an die Schrecken des Krieges erinnern, weil sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen ist. Den sechs Millionen ermordeten Juden müssen sie hingegen gedenken, denn es gibt keine Erinnerung an Konzentrationslager mit Gaskammern, weil sie in keinen waren. Doch, es gab eine Szene auf einem Bahnhof, an die sich meine damals neun Jahre alte Mutter erinnert, als sie meine Großmutter fragte, was das denn für Menschen seien dort in den Waggons und das sie ohne eine Antwort zu bekommen rasch weiter gezogen wurde; weg vom Todeszug der anderen. Weg von den vom NS-Staat kollektiv zum Tode Verurteilten.

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung, auch wenn es damals nicht Viele so empfanden. Für nicht wenige Deutsche war es erst noch Schwerstarbeit, das persönliche Schicksal beiseite zu stellen, um nur so die Schicksale von Millionen zu begreifen. Von denen, die überlebt haben und den Millionen, die industriell ermordeten wurden wie Anne Frank, die auch nur ein Mädchen war wie meine Mutter damals, die vor wenigen Wochen 83 Jahre alt wurde, der viele gesunde Enkel zu ihrem Geburtstag gratulierten und ihr noch viele weitere Jahre in Gesundheit wünschten. Es gab Ente und Torte.