Tichys Einblick
Keine Geschmacksfrage

Darf Kunst wirklich alles?

Kunst zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man sie nicht immer versteht. Aber auch nicht verstehen (wollen) muss.

Anfang Dezember nagelte der dänische Performance-Künstler Max Uwe Jensen die Vorhaut seines Penis an einen Baum in Wittenberg. Vor drei Jahren presste die Schweizerin Milo Moiré während der Art Cologne nackt mit Farbe gefüllte Eier aus ihrer Vagina. Ende November baute das Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) eine Nachbildung des Berliner Holocaust-Mahnmals vor den Wohnsitz eines AfD-Politikers.

Aktionskunst nennt sich das, Performance Art. Dem einen ging es darum, Sätze Luthers zu rezitieren und „Jesus Christus selbst übertreffen“ zu wollen, wie der 45-jährige Däne laut der Mitteldeutschen Zeitung erklärte – und dabei auch nicht vergass, ein Kamerateam aufzubieten. Den anderen um einen Protest gegen den umstrittenen AfD-Politiker Björn Höcke, den man damit auffordern wollte, vor dem Holocaust-Denkmal um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zu bitten – nachdem man ihn und seine Familie zuvor gemäss eigenen Angaben zehn Monate lang beobachtet hatte. Die Eier-legende Dritte wollte ein feministisches Statement zur Fruchtbarkeit abgeben. Irgendetwas in der Art.

Kunst ist ja alles, darf ja alles. Kunst kennt keine Grenzen und keine Tabus. Da sind sich eigentlich alle einig. Und grundsätzlich stimmt das wohl auch. Deshalb scheint die Sichtweise zu einfach, dass etwas, das man nicht versteht, keine Kunst sein darf, oder etwas, das man nicht mag, keine Kunst sein kann. Kunst zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man sie nicht immer versteht. Dass man sich daran reibt, dass sie aus der konventionellen Welt ausbricht, zum Nachdenken anregt, inspiriert, provoziert, intellektuell stimuliert. Und es gibt ja auch Performance Art, die das tatsächlich alles gleichzeitig tut, auf mehreren Ebenen einen Prozess beim Zuschauer in Gang setzt. Werke und Aktionen von Josef Beuys zum Beispiel, einem der berühmtesten deutschen Künstler, waren sogar für Kunstfreunde „eine Zumutung“, dennoch sagt man über Beuys, er dachte die Kunst neu. Bei einer Performance 1965 etwa bemalte der Düsseldorfer seinen Kopf mit Honig, lief wie ein Herumtreiber mit einem toten Hasen durch eine Galerie und erklärte diesem die Bilder. Der Hase war für Beuys die Inkarnation von Tod und Geburt.

Oder Marina Abramovic, umstritten wie kaum ein anderer Performance-Künstler, sie legte sich schon nackt auf einen Eisblock oder bürstete ihre Haare, bis die Kopfhaut blutete. Die vielleicht bekannteste Performance der 71-jährigen ist das Experiment „Rhythm 0“ von 1974. Da stand die Serbin starr in einem Raum, die Zuschauer durften sich eines Gegenstandes bedienen und damit mir ihr machen, was sie wollten. Was dann folgte, hätte sie selber nie für möglich gehalten: Männer begrabschten sie intim, andere zerschnitten ihre Kleider, ritzten sie mit Rasierklingen, drückten ihr Dornen in den Bauch oder zielten mit geladener Pistole auf sie. Das Sozialexperiment offenbarte einen verstörenden Einblick in die menschliche Psyche, zeigte, wie böse Menschen werden können, wenn sie alles dürfen, wenn sie ihre moralische Verantwortung nicht zu verantworten haben. Abramovic und Beuys haben sich übrigens gut gekannt. Laut einem Essay auf der MoMA-Website soll Beuys der Legende nach Abramovic sogar einmal aus den Flammen gerettet haben, als sie bei einer ihrer Vorstellungen in Ohnmacht fiel.

Die bedeutendsten Werke von Beuys und Abramovic stammen wahrscheinlich aus den 70ern – und mit den Jensens und Moirés von heute haben sie kaum etwas gemein. Ich bin keine Kunstexpertin, aber während Performance Art damals eng verbunden schien mit der Risikobereitschaft des Künstlers, oder einem höheren Zweck diente, neues Material erkundete und entdeckte, der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt, mutet sie heute nur mehr als absurde Darbietung einiger Selbstdarsteller an, die einen Weg gefunden haben, ihren Exhibitionismus oder ihre politische Radikalität zu einer Show aufzublasen.

In Zeiten, wo wir mit sexuellen Reizen überflutet und durch die Medien beinahe täglich mit politischem Extremismus konfrontiert sind, locken nackte Menschen oder Aktivisten mit Kriegsbemalung nicht mal mehr den allergrössten Spießer hinterm Ofen hervor. Sie lösen keine Debatten mehr aus. Schockieren nicht mehr. Ihre Aktionen sind höchstens in dem Sinne aufregend, als dass sie Ekel und Unverständnis hervorrufen. Im Falle des „Zentrums für politische Schönheit“ besitzen sie sogar einen irrwitzigen Unterhaltungswert, denn laut einem Gerichtsurteil darf sich Philipp Ruch, der künstlerische Leiter, dem Wohnhaus der Familie Höcke nur noch auf 500 Meter nähern, was es ihm gemäß eigenen Angaben verunmöglicht, seine eigene Wohnung in einem Nachbarhaus zu betreten.

Um in aller Ernsthaftigkeit als „Kunst“ bezeichnet zu werden, reichen die Aktionen von Penis-an-Bäume-Naglern, Eier-aus-der-Vagina-Presserinnen und Politiker-Bespitzlern aus – wo es doch im Grunde nichts weiter ist als zwanghafte und stumpfsinnige Pseudo-Provokation. Kunst darf alles? Dann dürfen wir auch eine Meinung dazu haben.

Der Beitrag erschien in Kurzversion zuerst in der Basler Zeitung.