Tichys Einblick
Blackout-Experte im Interview

Nach Beinahe-Blackout auf der Iberischen Halbinsel: „Hätte in einer Katastrophe münden können“

Portugal und Spanien standen am 24. Juli womöglich kurz vor einem Blackout. Herbert Saurugg, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge, erklärt, warum er mit einem europaweiten Blackout binnen fünf Jahren rechnet.

IMAGO / Christian Ohde

TE: Herr Saurugg, was ist am vorvergangenen Samstag genau passiert?

Herbert Saurugg: Ein Löschflugzeug, das einen Waldbrand bekämpft hat, hat offenbar eine Wasserladung über einer Hochspannungsleitung abgeworfen. Es handelte sich um eine von zwei Hauptleitungen, die die Iberische Halbinsel mit Frankreich verbindet. Dabei kam es zu einem Kurzschluss, der zu einer Überlastung der sogenannten Grenzkuppelstellen geführt hat – also der Netzverbindungsstellen zwischen zwei Ländern. Die Netzbetreiber trennten daraufhin über einen automatisierten Computerprozess das iberische Stromnetz von Resteuropa ab. Die Frequenz sank in Spanien auf bis zu 48,66 Hertz – ab 47,5 Hertz tritt ein totaler Blackout ein.

Das war bereits die zweite Großstörung innerhalb eines Jahres – im Januar wurde das europäische Stromnetz nach einer Überlastung des rumänischen Netzes ebenfalls aufgetrennt. Steigt das Blackout-Risiko?

Das würde ich aus dem jetzigen Zwischenfall nicht ableiten, weil die Ursache keine Schwäche des Stromsystems selbst war, sondern mit dem Löschflugzeug eine externe. Andererseits ist es dennoch bedenklich, dass es zu einer Netztrennung gekommen ist. Das ist erst der fünfte Vorfall dieser Art – nach 2003, 2006, 2015 und Januar 2021.

War die Gefahr eines Blackouts diesmal größer als im Januar?

Einerseits ja, weil die Frequenz in Spanien viel tiefer auf 48,66 Hertz gesunken ist. Im Januar lag sie bei 49,74 Hertz in Kerneuropa. Zudem hatten zwei Millionen Endkunden über eine Stunde lang keinen Strom. Es hat mich überrascht, dass die Netzbetreiber das Stromnetz dennoch innerhalb von 45 Minuten stabilisieren und wieder zusammenschalten konnten.

Aber?

Die Iberische Halbinsel ist nur ein Randnetz, während im Januar das Kernnetz in Westeuropa instabil war, das weitaus größer ist. Die Gefahr eines europaweiten Blackouts war damals wohl größer. Spanien und Portugal verbrauchen rund 40 Gigawatt, davon kamen zum Zeitpunkt des Frequenzabfalls rund 2,5 Gigawatt aus Frankreich. Das ist vergleichsweise wenig. Für Kerneuropa bestand also keine Gefahr – aber auf der Iberischen Halbinsel hätte es durchaus in einer Katastrophe münden können.

Wie wahrscheinlich ist ein Blackout überhaupt?

Diese Frage beschäftigt mich seit über zehn Jahren. Meine Meinung ist: Wir erleben einen europaweiten Blackout binnen der kommenden fünf Jahre. Seit Jahren werden die Netze instabiler und die Zahl der Netzeingriffe nimmt dramatisch zu. Viele Kohle- und Atomkraftwerke werden in den nächsten Monaten vom Netz gehen. Zudem bauen alle Staaten auf Stromimporte. Bislang sprang vor allem Deutschland als Lieferant ein, was aber bald nicht mehr der Fall sein wird – Stichwort Atom- und Kohleteilausstieg bis Ende 2022. Betrachtet man jedes Problem einzeln, könnte man sagen, dass das schon gut gehen wird. Aber das systemische Risiko ist sehr hoch, weil viele Dinge schief gehen können, die zueinander in Wechselwirkung stehen.

Steigt die Gefahr von Jahr zu Jahr wegen der Erneuerbaren Energien, deren Produktion viel mehr schwankt, weil Wind und Sonne nicht immer wehen oder scheinen?

Einerseits ja – ich würde sogar sagen, die Gefahr steigt von Monat zu Monat. Der kritische Zeitpunkt kommt zum Ende des kommenden Jahres, weil gerade Deutschland sehr viele Kohle- und Atomkraftwerke vom Netz nehmen wird. Erneuerbare Energien sind aber nicht per se schuld: Das Hauptproblem sind falsche Regulierungen, die die Stromproduzenten nicht dazu anreizen, in Speichertechnologien zu investieren. Stillgelegte Atom- und Kohlekraftwerke lässt die Politik nicht durch ausreichend Erneuerbare und Stromspeicher ersetzen. Außerdem müsste sie die Netzinfrastruktur aus- und umbauen. Und das nicht erst in den kommenden zehn Jahren, wie das derzeit geplant ist, sondern bis Ende 2022.

Aber kann Deutschland überhaupt ausreichend Speicherkapazitäten aufbauen, um Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 zu erreichen? Laut Berechnungen würde das immense Flächen benötigen, die man für Stauseen fluten müsste.

Ja, das ist das große Problem. Die Menge, die wir derzeit an Strom verbrauchen, können wir mit den heutigen Technologien nicht speichern. Die Politik meint, man müsse einfach ausreichend Kapazitäten bei Wind- und Solarenergie aufbauen und dann würde schon alles gut gehen. Aber das ist falsch. Wir werden den Energieverbrauch massiv senken müssen. Wasserstoffspeicher könnten teilweise eine Lösung sein, aber sind sehr ineffizient. Die Energie, die zur Speicherung notwendig ist, ist bis zu fünfmal höher als die Energie, die zur Endnutzung bleibt – die Umwandlungsverluste sind also sehr hoch. Die derzeitigen Pläne hinsichtlich Speichertechnologien werden nicht aufgehen.

Wenn Sie Bundeskanzler wären, wie würden Sie dann einen Blackout verhindern?

Man müsste die Stromhersteller verpflichten, eine gewisse Strommenge pro Jahr durchgehend zu liefern. Dann würden auch die Betreiber von Wind- und Solaranlagen mehr in Speichertechnologien investieren. Gleichzeitig müsste man die konventionellen Kraftwerke über eine CO2-Abgabe höher besteuern. Dann würde der gemeinsame Einsatz von konventionellen und erneuerbaren Energien mehr Sinn machen. Das große Problem ist das fehlende ganzheitliche Denken. Die Verantwortlichen schauen auf Einzelprobleme und überlegen, wie sich diese lösen lassen, aber verlieren den Blick aufs große Ganze.

Was sind denn neben den Erneuerbaren die anderen Gründe, weshalb das Blackout-Risiko steigt?

Ein wenig beachtetes und sehr brisantes Thema ist der Stromhandel, der keine Rücksicht auf die Infrastruktur und Physik nehmen muss. So führten etwa am 8. Januar unüblich hohe Lastflüsse vom Balkan zur Iberischen Halbinsel dazu, dass das europäische Stromnetz überlastet war und aufgetrennt werden musste. Und gerade die transnationalen Lastflüsse sollen bis zum Jahr 2025 per EU-Vorgabe erheblich steigen. Während die Grenzkuppelstellen zu Österreich bislang mit bis zu 20 Prozent durch den Stromhandel ausgelastet werden dürfen, müssen ab dem Jahr 2025 mindestens 70 Prozent dem Markt zur Verfügung stehen. Das führt zwar zu einem besseren und billigeren Ausgleich, verursacht aber auch eine erhöhte Störanfälligkeit. Der Stromhandel, die schwankende Erzeugung und die damit abnehmende Momentanreserve sind zentral verantwortlich, dass die Fragilität des europäischen Stromnetzes seit Jahren zunimmt.

Was meinen Sie genau mit Momentanreserve?

Die Generatoren in den Großkraftwerken haben extrem große rotierende Massen, mit denen permanent automatisch Energie ein- oder ausgespeichert wird. Im Wechselstromsystem muss nämlich immer so viel Strom erzeugt werden, wie gerade verbraucht wird. Die Momentanreserve ist eine Art Stoßdämpfer, der Unterschiede zwischen Produktion und Verbrauch ausgleicht. Wie gut das ausgeglichen ist, sieht man an der Netzfrequenz, die idealerweise bei genau 50 Hertz liegen sollte. Diese zentrale Systemfunktion geht uns aber mit der Stilllegung der konventionellen Großkraftwerke verloren, da Solar- und Windkraftanlagen keine Momentanreserve haben. Mit Leistungselektronik und Großbatteriespeicher gibt es zwar Alternativen, aber die stehen bisher kaum im europäischen Stromnetz zur Verfügung.

Warum nicht?

Weil die neuen Lösungen extra Geld kosten und sich Investitionen bislang nicht rechnen. Wenn es sich rechnet, kann es bereits zu spät sein, weil man entsprechende Kapazitäten an Momentanreserve nicht von heute auf morgen aufbauen kann. Daher wird in Deutschland der zweite vor dem ersten Schritt gemacht. Man redet sich noch damit heraus, dass es genügend Momentanreserve in Frankreich und Polen gebe. Ich befürchte aber, dass die rein rechnerische Betrachtung dieses Problems den Anforderungen der Physik nicht standhalten wird.

Können auch Cyberangriffe zu einem Blackout führen?

Ja, genauso wie zunehmende Extremwetterlagen, Terroranschläge oder Sonnenstürme. Dazu kommt eine alternde Strominfrastruktur. Mehr als die Hälfte der deutschen Kraftwerke und Betriebsmittel sind 50 Jahre oder älter. Das betrifft etwa auch die Hälfte aller Großtransformatoren – rund 500 Stück, die innerhalb der kommenden 10 bis 20 Jahre ersetzt werden müssen. Derzeit können in Deutschland aber nur zwei bis vier Stück dieser Großanlagen gebaut werden. Die Transformatoren lassen sich auch nicht einfach aus China oder anderswo importieren, weil sie oft mehrere hundert Tonnen wiegen.

Aber 500 Transformatoren in 20 Jahren zu ersetzen, sollten bloß vier pro Jahr gebaut werden können – wie soll das gehen?

Das ist eine gute Frage. Irgendwann werden wir nicht mehr in der Lage sein, alle Transformatoren zu erneuern. Ich weiß auch nicht, warum das nicht breiter angesprochen wird. Dabei ist das Problem der Badewannenkurve – also der mittelfristig sinkenden aber langfristig steigenden Zahl von Ausfällen bei technischen Anwendungen – bekannt.

Wie würde denn ein Blackout im Konkreten ablaufen?

Zuerst einmal: Mit Blackout meine ich keinen regionalen Stromausfall, sondern einen Zusammenbruch von allen Infrastrukturnetzen über weite Teile Europas hinweg. In einem solchen Szenario würde frühestens nach einer Woche wieder überall Strom fließen. Das Hauptproblem wäre aber nicht der Stromausfall.

Sondern?

Es brechen auch die Kommunikationsnetze zusammen: Handys, Internet, Telefone. Lieferketten kollabieren – etwa die Lebensmittelversorgung über die Supermärkte. Außerdem drohen große Hardware-Schäden. Aus regionalen Zwischenfällen wissen wir, dass bis zu 30 Prozent an Netzteilen, Switches, Server oder Festplatten zerstört werden können. In der Corona-Krise konnten wir sehen, wie lange es braucht, die Halbleiterindustrie wieder hochzufahren und wie abhängig andere Industrien von den Chips sind. Selbst wenn wir aber weniger Hardware-Teile verlieren, sind die Kommunikationsnetze überlastet, sobald sie hochgefahren werden. Alle wollen dann mit ihren Angehörigen sprechen.

Könnten wir denn noch tanken, Klo spülen oder die Wohnung heizen?

Tanken und Klo spülen allermeist nicht, weil in Tankanlagen und dem Wasserversorgungssystem elektrische Pumpen eingebaut sind. Aufzüge würden stecken bleiben. In Krankenhäusern würde zum Teil bereits nach einem Tag Hygieneausrüstung wie OP-Kittel fehlen und binnen Stunden würden Millionen Tiere in der industriellen Landwirtschaft qualvoll sterben. Innerhalb weniger Tage könnte es daher zu Unruhen kommen: Laut Studien hat ein Drittel der Bürger gerade einmal Lebensmittel für vier Tage zuhause, ein weiteres Drittel für eine Woche. Fließt nach einer Woche noch kein Strom, fallen wir wahrscheinlich auf die Entwicklungsstufe einer Agrargesellschaft zurück, weil die technischen Schäden nicht mehr rasch genug behoben werden können. Und damit fällt auch ein Großteil der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern aus.

Könnten uns nicht andere Staaten außerhalb Europas helfen?

Es wären hundert Millionen Menschen oder mehr betroffen. Russland oder den USA würden wohl die Mittel fehlen, um wirklich breit und rasch genug einspringen zu können. Uns würde vermutlich nach einer Woche die Kraft fehlen, um die notwendigen Strukturen wieder hochzufahren. Die Menschen wären nur noch mit sich selbst beschäftigt, da sie ums Überleben kämpfen müssen, wenn sie keine Vorräte angelegt haben.

Welches Land in Europa ist denn am besten vorbereitet?

Wahrscheinlich Österreich. Wir haben große Wasser- und Pumpspeicherkraftwerke, die wir rasch hochfahren können. Dann wird es aber noch immer rund einen Tag dauern, bis in Österreich überall der Strom fließt. Außerdem ist das öffentliche Bewusstsein für ein Blackout inzwischen deutlich größer als in anderen Ländern. Auch die skandinavischen Staaten kämen glimpflicher davon – sie haben ein eigenes Stromversorgungssystem und weniger urbane Gebiete. In der Schweiz ist nicht alles Gold, was glänzt, aber das Land dürfte noch immer vor vielen anderen Staaten liegen.

Wie sollte man sich vorbereiten?

Zuerst sollte man sich informieren und akzeptieren, dass ein Blackout möglich ist. Wasser, Lebensmittel und wichtige Medikamente sollte man für mindestens zwei Wochen einlagern. Während des Blackouts sollte man mit den Nachbarn in Kontakt bleiben und sich gegenseitig helfen. Zurückziehen oder bewaffnen wäre ein großer Fehler – wir schaffen das nur gemeinsam.