Tichys Einblick
Gespräch zum Nahostkonflikt

„Palästinensischer und islamistischer Terror wird zunehmend Selbstzweck“

Der Gaza-Krieg ist auch eine Propagandaschlacht. Im TE-Gespräch spricht der Islamwissenschaftler und Ex-Diplomat Alfred Schlicht über mögliche Ziele der Kriegsparteien, Ausschreitungen in Deutschland und die ideologische Verranntheit der rot-grün-woken Gesellschaft in Deutschland.

Öffentliche Waffenschau der Hamas, am 30.06.2023; Eine Bewohnerin des Gazastreifens posiert mit einer Flugabwehrrakete der Hamas

IMAGO / ZUMA Wire

Tichys Einblick: Im Gazastreifen herrscht Krieg. Blickt man in deutsche Medien, dann wird sehr genau hingeschaut, ob Israel alles richtig macht. Tagelang wurde über die Kämpfe rund um Krankenhäuser berichtet. Dass die Israelis dort – und gerade dort, an einem „sensiblen Ziel“ – Hamas-Unterschlupfe und damit auch israelische Geiseln vermuteten, kam erst spät zur Sprache, als sich der Eindruck einer grausamen Vergeltungsaktion schon verfestigt hatte. Ist das Absicht oder wie sehen Sie das als Kenner von Region und Medien?

Alfred Schlicht: Grundsätzlich muss man in dieser Zeit des Framing und des Manipulierens immer damit rechnen, dass Nachrichten so aufbereitet oder verkauft werden, wie es den Verfassern und Verbreitern der Nachrichten in den ideologischen Kram passt. Andererseits besteht in den Medien viel Ignoranz und Voreingenommenheit sowohl gegenüber Israel auch gegenüber den Palästinensern.

Sicher war die Verbitterung in Israel sehr groß über die Brutalität des Hamas-Massakers. Aber Israel ist gezwungen, sehr strategisch zu handeln. Man kann es sich gar nicht leisten, sich allein von Emotionen leiten zu lassen. Man würde niemals eine reine ‚Wutaktion‘ durchführen. Aber für Israel könnte das jetzt ein Anlass sein, einmal sehr gründlich und intensiv vorzugehen und all das zu tun, was man in der Vergangenheit – auch aus innenpolitischer Rücksicht, aus Rücksicht auf die Verbündeten oder sich abzeichnende Partnerschaften mit arabischen Staaten (man denke an Saudi-Arabien) – unterlassen hat.

Ursprung des aktuellen Krieges war der Terrorangriff der Hamas auf Israel, der innerhalb weniger Stunden weit über 1000 Opfer forderte. Ist die Reaktion der Israelis übertrieben?

Israel hat in dieser besonderen Lage sicher besonders drastisch reagiert. Dabei standen für Israel drei Bereiche im Vordergrund. Erstens: Innenpolitisch stand die Regierung stark in der Kritik, weil sie am 7. Oktober so eklatant versagt hatte. Jetzt konnte man durch besonders hartes Durchgreifen versuchen, wieder Terrain zu gewinnen und zu zeigen, dass man noch (oder wieder) Herr der Lage ist.

Zweitens: Im Umgang mit der Hamas nutzte Israel die Gunst der Stunde. Jetzt konnte man massiv gegen einen besonders kompromisslosen, brutalen und auch effizienten Feind vorgehen. Jetzt war die Stunde gekommen, die Hamas, wenn nicht zu vernichten, so doch schwer zu schädigen. ihre Logistik und Infrastruktur weitgehend auszuschalten und eine Warnung an die Palästinenser auszusenden: Wer sich mit der Mörderbande Hamas einlässt, den treffen wir hart. Mit der Bodenoffensive im Gazastreifen hat Israel eine selbst gezogene rote Linie erstmals überschritten. Zugleich konnte man auch anderen potenziellen Gegnern wie Syrien oder der Hizbullah im Libanon eine Warnung zukommen lassen. Außerdem muss Israel starken Druck ausüben, um die Freilassung der Geiseln zu erreichen.

Drittens: International war Israel immer wieder in den Fokus der Kritik geraten wegen der Übergriffe der Siedler, wegen der Diskriminierung der Palästinenser (die es ja tatsächlich gibt) und wegen seines harten Agierens, beispielsweise auf dem Tempelberg. Angesichts des Hamas-Massakers schien Israel legitimiert, mit aller Härte zurückzuschlagen. Es konnte sich zumindest des Verständnisses seiner wichtigen Verbündeten – beispielsweise der USA oder Deutschlands – sicher sein. Die Haltung drittrangiger Akteure wie Erdogan oder der Führung in Teheran ist für Israel nachrangig.

Wie ordnen Sie die Motive der Hamas ein? Auch hier wird viel spekuliert. Als Grundlinie wurde bald herausgearbeitet, dass die Hamas angesichts ihrer zunehmenden Isolation einen großen Krieg mit Israel vom Zaun brechen wollte, um auch die muslimischen Länder auf ihre Seite zu ziehen. Ist das gelungen?

Ganz sicher hatte die Hamas mit dem von langer Hand geplanten Überfall am 7. Oktober die Absicht zu zeigen, dass sie Israel empfindlich treffen kann, und hat – aus ihrer Sicht – einen Erfolg erzielt, den ihr niemand zugetraut hätte. Deutlich geworden ist auch, dass ein koordinierter Angriff mit der schiitischen Hizbullah und mit Syrien, das zumindest im Hintergrund logistisch half, vereinbart war. Auch der Iran war involviert, gerade weil er dies so nachdrücklich dementierte – man wollte den ‚Triumph‘ der Hamas nicht schmälern und gleichzeitig sich selbst nicht empfindlichen Schlägen Israels aussetzen. Katar spielt wie immer eine ambivalente Rolle.

Die viehisch-bestialischen Brutalitäten der Hamas könnten in der jahrzehntelangen Frustration und Erfolglosigkeit begründet sein. Auch die Hamas – wie andere weltanschaulich apodiktische Bewegungen und Sekten – ‚weiß‘ ja ganz prinzipiell, dass sie im Recht ist. Die widerwärtige Art des verübten Massakers, bei dem harmlose Zivilisten gefoltert wurden, würde – das wusste man – eine harte Reaktion Israels provozieren, durch die dann wiederum Hamas-Verbündete in der islamischen Welt zu Angriffen auf Israel veranlasst würden. Aber außer Placebo-Aktionen kommt aus dem arabischen und islamischen Lager nicht viel. Ein „großer Krieg“ wäre durchaus im Sinn der Hamas – aber es sieht nicht so aus, dass die Rechnung aufginge. Die Eskalation hat nur teilweise funktioniert. Ein grölender Gewaltmob auf Europas Straßen hilft der Hamas nicht wirklich.

Wie konnte Israel überlistet werden? Man kann lesen, dass die Hamas-Führung hier einiges an Kriegslist angewandt hat. Reicht das als Erklärung aus?

Man rechnete wohl nicht mit so einem archaischen Angriff mit Drahtscheren und Baumaschinen und Drachenfliegern. Wer ständig mental im ‚Iron Dome‘ unterwegs ist, verliert primitive Mittel der Gewaltausübung aus dem Blick. Dazu kam Überheblichkeit. Das hoch entwickelte Israel traute den vermeintlichen ‚Primitivlingen‘ der Hamas so eine Tat nicht zu. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem archaischen Gewaltexzess und der exakten Planung. Man war zu sehr an die langen Jahre relativer Ruhe am Zaun zu Gaza gewöhnt und hat die reale Bedeutung des Tunnelsystems unterschätzt. An die Hypothese, Israel habe gewusst, was sich anbahnt und nichts unternommen, um dann die Empörung über das zu erwartende Massaker zu nutzen und besonders hart zurückzuschlagen, mag ich nicht glauben. Das halte ich für eine zynische Unterstellung.

Nun sind es im Grunde „early days“. Aber trotzdem: Erkennen Sie ein konzises Kriegsziel auf der Seite der Israelis? Ist es erreichbar?

Israel möchte sicher aus einer Situation, die es nicht gewollt und nicht verschuldet hat, den größtmöglichen Nutzen ziehen. Das heißt, man möchte der Hamas maximalen Schaden zufügen, sie wenn irgend möglich vernichten. Wenn sich die Chance bietet, soll auch die Hizbullah schwer getroffen werden und eine Bedrohung Israels aus dem Gaza-Streifen und dem Südlibanon beendet werden. Auch wenn solche Ziele nicht völlig erreichbar sind , soll so viel wie möglich davon realisiert werden. Netanyahu mag die Absicht haben, den nationalen Zusammenhalt angesichts der Gefahr zu stärken und sich als unersetzlicher Retter in der Krise zu profilieren. Dies könnte allerdings scheitern, denn erst heute hat Oppositionsführer Lapid im Parlament seinen Rücktritt gefordert.

Und bei der Hamas? Hat sich die Terrororganisation ein erreichbares Ziel gesetzt?

Palästinensischer und islamistischer Terror ist zunehmend Selbstzweck geworden. Vor fünf Jahrzehnten gab es Entführungen, die dem Freipressen von inhaftierten Gesinnungsgenossen dienten. Inzwischen ist eine Finalität nicht mehr erkennbar. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, was – über Rache- und Bestrafungsmotive hinausgehend – erreicht werden soll. Die Hamas kann in ihrer Blase und unter ihren Sympathisanten den Terrorangriff vom 7.10. als Erfolg ‚verkaufen‘. Auf dem Boden der Realpolitik dürfte sie eher Nachteile ernten.

Wie sehen Sie als Islamwissenschaftler und Orientalist mittelfristig die Auswirkungen auf Deutschland und Europa? Wird es bei der ‚Erweckung‘ der Muslime bleiben, die man in den aktuellen Demonstrationen in praktisch allen größeren Städten Westeuropas erkennen kann? Wie gefährlich kann das für die innere Sicherheit werden?

Der Hamas ist es zweifellos gelungen, durch die Terrorattacke vom 7. Oktober in ihrem Umfeld und unter gewissen Flüchtlingskreisen bei uns Sympathie und Bewunderung zu erlangen. Man sieht es an den Ausschreitungen des Gewaltmobs in vielen Städten – nicht zuletzt in Berlin, wo mindestens 120 Polizisten verletzt wurden. Solche Gewaltexzesse haben sicher Mobilisierungspotenzial. Auch latent vorhandene Radikalisierungstendenzen werden sich jetzt offener zeigen und wir müssen mit der Möglichkeit von Terroranschlägen rechnen. Im Oktober gab es deutschlandweite Bombendrohungen gegen Schulen und andere öffentliche Einrichtungen, die immer Bezug nahmen auf die aktuelle Entwicklung im Kontext des Gaza-Krieges. Aber diese Radikalisierung ist nichts Neues. Es gab immer wieder Gewalt zu Nahostproblemen in Deutschland. Im Mai 2021 wurden bei einer Gaza-Demonstration in Berlin über 90 Polizisten verletzt. Dies zeigt, wie problematisch unkontrollierte Migration ist und wie wenig integriert viele Zuwanderer noch nach Jahren sind. Das alles ist bereits eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bei uns und in anderen Ländern. Dies nicht zu erkennen, ist Zeichen für ideologische Verranntheit oder Borniertheit, wie sie typisch sind für die rot-grün-woke Gesellschaft oder auch im umweltbewegten Backfischmilieu.

Welche politischen Auswirkungen könnte es geben? Steht die Gründung einer großen islamisch orientierten Partei bevor? Was wären die Folgen?

Muslime werden sich zunehmend profilieren und selbstbewusst auftreten. Sie werden sich als Opfer inszenieren und nachdrücklich mehr Partizipation für sich und Rücksichtnahme auf muslimische Befindlichkeiten von den anderen fordern. Sie werden Forderungen nach Integration als ‚rassistisch‘ und ‚islamophob‘ zurückweisen. Eine große muslimische Partei sehe ich derzeit nicht, denn ihre Helfer aus der Mehrheitsgesellschaft haben bereits erfolgreich den Marsch durch die Institutionen angetreten, fordern unter Schlagworten wie ‚Zusammenhalt der Gesellschaft‘ immer mehr Rücksicht auf Migranten und deren Forderungen – wer das nicht mitmachen will, der ‚spaltet‘ und ‚polarisiert‘, der verbreitet ‚Hass und Hetze‘. Und beim nächsten Anschlag werden wir wieder hören, dass all das nichts mit dem Islam zu tun hat und Migration eine Bereicherung der Gesellschaft darstellt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Schlicht.


Alfred Schlicht ist Verfasser mehrerer Bücher zum Nahen Osten, u.a. „Die Araber und Europa“ und „Gehört der Islam zu Deutschland?“.

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