Tichys Einblick
Interview Ulrich Vosgerau

Meinungsfreiheit vor Gericht wird ausgehebelt – weil Ideologie Fakten ersetzt

In einem vorläufigen Beschluss hat das Landgericht Frankfurt einer Journalistin untersagt, einen Mann, der sich zur Frau erklärt, als Mann anzusprechen. So will es auch das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel, das allerdings erst verabschiedet werden muss. Wie ist das zu erklären – Urteil noch vor Gesetzesverabschiedung?

IMAGO / Panthermedia
TE:  Herr Vosgerau, auf welche Rechtsvorschriften wird denn so ein Beschluss im einstweiligen Anordnungsverfahren überhaupt gestützt? Ich dachte, es gibt bisher noch gar kein „Anti-Misgendering“-Gesetz.

Ulrich Vosgerau: So etwas soll zwar geplant sein, mit Bußgeldern und allem, angeblich sogar für die eigenen Eltern, falls diese sich mal aus alter Gewohnheit vertun sollten, aber das gibt es noch nicht. Das Landgericht Frankfurt am Main meint, dass Rome Medien GmbH das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Antragstellerin verletzt hat.

Wo findet man ein Gesetz über das allgemeine Persönlichkeitsrecht?

Dieses allgemeine Persönlichkeitsrecht steht nicht im Bürgerlichen Gesetzbuch, und ein Gesetz über das allgemeine Persönlichkeitsrecht gibt es auch nicht. Aber kurz gesagt: Nach ständiger Rechtsprechung muss auch ohne spezifisches Gesetz das Zivilrecht so ausgelegt werden, dass es dem Schutz der Menschenwürde dient.

Liegt denn eine Verletzung der Menschenwürde vor, wenn man gewollt oder auch ohne besseres Wissen bei der Anrede Herr und Frau verwechselt?

So jedenfalls sieht es das Landgericht Frankfurt; dagegen kann nun weiter vorgegangen werden. Und vermutlich geschieht das auch. Diese Rechtsprechung ist nämlich von vornherein nicht unproblematisch! Denn es wird ja hier die Meinungs- und Pressefreiheit empfindlich eingeschränkt, und das ist nach den allgemeinen Grundrechtslehren, die sonst anerkanntermaßen gelten, eigentlich nur aufgrund eines echten parlamentarischen Gesetzes möglich. Hier hingegen gibt es nur entsprechendes „Richterrecht“, mit dem in einer Demokratie zentral wichtige Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit hier mit Rücksicht auf das Empfinden Einzelner überrollt werden. Ich halte das nicht für richtig; dafür müsste wenigstens der Bundestag ein entsprechendes Gesetz gemacht haben, das die richterliche Rechtsfindung anleitet.

Warum wiegt denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht schwerer und setzt sich durch? Das könnte doch auch umgekehrt sein.


Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wiegt – wenn es denn wirklich verletzt worden ist – durchaus schwer, da es ja letztlich aus der Menschenwürdegarantie hergeleitet wird. Die Meinungs- wie auch die Pressefreiheit sind hingegen nicht schrankenlos gewährleistet, sondern finden ihre Grenzen in allgemeinen Gesetzen und dem „Recht der persönlichen Ehre“. Unter „allgemeinen“ Gesetzen sind dabei solche Gesetze zu verstehen, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit noch gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern unabhängig von einer Bewertung Rechtswerte schützen, die nach den Umständen des Einzelfalles als höherrangig gelten müssen.

Kann man sich also, wenn man sich beleidigt fühlt, auf den Schutz der Menschenwürde berufen?

So einfach ist es nicht, dass man jegliche Äußerung verbieten lassen kann, durch die man sich verkannt fühlt oder wirklich herabgesetzt oder lächerlich gemacht wird. Das ist schon noch von der der Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt! Aber Meinungs- und Pressefreiheit decken nicht die Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen einerseits und „Schmähkritik“ andererseits, das heißt massive Beleidigungen, die keinen nachvollziehbaren Bezug zum eigentlichen Gegenstand der Diskussion mehr erkennen lassen und mithin dem Meinungskampf als solchem auch nicht mehr dienen.

Also Schmähkritik ist es ja nicht, wenn man das Geschlecht verwechselt. Aber ist es eine falsche Tatsachenbehauptung, einen Mann einen Mann zu nennen, nur weil der sich als Frau ausgibt?

Dem Streit zwischen der Rome Medien GmbH und dieser Frau Kluge liegt ja ursprünglich wohl dieses Vorkommnis an der Humboldt-Universität zugrunde, wo die Biologie-Doktorandin Vollbrecht in der „Langen Nacht der Wissenschaften“ gehindert wurde, einen Vortrag zu halten, in dem es darum ging, dass es in der Natur zwei Geschlechter gibt. Und bereits hierin liegt ja eine neue Qualität: Eine radikale, organisierte und heute auch oft mit Steuergeldern gepäppelte Linke hat hier nicht mit Gewalt und Drohung die Äußerung einer Meinung verhindert, die sie nicht teilt, sondern die Bekanntmachung von reinen Tatsachen, die zwar als solche niemand bestreiten könnte, deren Bekanntwerden jedoch im Hinblick auf eine bestimmte Transformationsagenda offenbar als „nicht hilfreich“ erscheint. Die Kriminalisierung der Bekanntgabe an sich nicht zu bestreitender Tatsachen zeichnet totalitäre politische Systeme aus. Eine freiheitliche Demokratie würde darüber nicht einmal nachdenken.

Aber nun will die Ampel ja das sexuelle Selbstbestimmungsgesetz schaffen und dann gibt es halt mehrere Geschlechter und man wählt auf der Menükarte, was man gerade gerne wäre. Diktiert das neue Recht der Biologie, was sie zu erfinden hat?

Das Zusammenspiel von Recht und Biologie ist ein weites Feld und eins der wichtigen Themen im Familienrecht. Richtig ist, dass Recht und Biologie nicht einfach gleichgeschaltet werden können, das Recht bildet eigene Kriterien aus, dies muss schon deswegen so sein, weil das Recht normativ ist und die Biologie empirisch. Im Recht geht es nicht um Naturtatsachen, sondern um ein Sollen. Deshalb sind etwa der anonyme Samenspender oder die Eizellen- oder Embryonenspenderin eines Kindes, das dann von einer Leihmutter ausgetragen wird, nicht mit diesem Kind verwandt, obwohl sie biologische Eltern sind, und die Adoptiveltern sind vollgültige Eltern. Tendenziell werden aber Konflikte zwischen den biologischen Tatsachen und rechtlichen Setzungen in Richtung Biologie aufgelöst, so etwa bei der Anfechtung der Vaterschaft oder dem Recht auf Auskunft über die wahren Eltern.

Bei rechtlichen Regelungen hingegen, die spezifisch dem Schutz der Frauen von den Männern dienen – also zum Beispiel, dass es öffentliche Frauenhäuser gibt, oder dass straffällige Frauen in Frauengefängnisse kommen und nicht in gemischte Gefängnisse – ist es evident, dass eine „Auflösung von Konflikten in Richtung der biologischen Tatsachen“ nicht genügt, sondern hier und insofern muss das Recht die biologischen Tatsachen als ihm vorausgelagert akzeptieren – ganz einfach, weil die Normen nur so ihren Zweck erreichen könnten, Frauen zu schützen. Sonst könnten ja männliche Vergewaltiger verlangen, in ein Frauengefängnis zu kommen, was in Großbritannien offenbar auch schon passiert ist.


Ulrich Vosgerau studierte Rechtswissenschaften in Passau und Freiburg und absolvierte das Rechtsreferendariat beim Kammergericht Berlin und bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Anschließend arbeitete er als Rechtsanwalt. 2006 wurde er mit der Dissertationsschrift „Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes“ summa cum laude promoviert und wechselte als Akademischer Rat an die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln. 2012 habilitierte er sich dort mit dem Entwurf einer Grundlagentheorie des Völker- und Europarechts im Geiste des Selbstbestimmungsrechts der Völker („Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft, 2016). Er erhielt die Lehrbefugnis für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie. Vosgerau lehrte an zahlreichen Universitäten, so unter anderem an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2015 kritisierte er Angela Merkels Politik der Grenzöffnung aus juristischer Perspektive scharf („Die Herrschaft des Unrechts“). Er publiziert regelmäßig in der „Jungen Freiheit“ und bei „Tichys Einblick“.

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